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Wiederaufbau
Nepal erholt sich vom Erdbeben

Nepal musste 2015 schwere Erdbeben verkraften, die Naturkatastrophen brachten Leid und Zerstörung. Etwa ein halbes Jahr später hat sich jedoch Vieles gebessert, das Land erholt sich.

Von Folkert Lenz |
    Eigentlich scheint alles wie immer. Schrill-schräg musizierend marschiert ein Dutzend Spielleute durch die Königsstadt Patan. Motorräder hupen sich freie Bahn durch die Menge. Menschen trommeln und tanzen, während Rikschafahrer nervig klingelnd im Slalom um die Schlaglöcher kurven. Traditionsfeste haben die Nepalesen viele, irgendwie gibt es immer einen Grund, eine Puja zu feiern. Dieses Straßenfest nennt sich Machhendranath Jatra. Ein Streitwagen mit übermannshohen und sehr klapprig wirkenden Holzrädern steht in der Gasse. Darauf aufgepflanzt wackelt ein 20 Meter hoher, mit Wacholder umwickelter Pfahl. Ob er wohl umkippt?
    Mit dem Wagenfest bedanken sich die Bauern im Kathmandutal für den Monsunregen, der ihre Felder fruchtbar macht. Eine Feier wie jede andere also.
    Doch, halt! Eigentlich ist der Marsch durch die Stadt im Frühjahr. Eine Fürbitte vor der Regenzeit also. Doch jetzt ist es Herbst! Das Fest wurde nachgeholt. Denn im Vormonsun war niemandem zum Feiern zumute. Erdbeben im April und Mai hielten das Land seinerzeit in Schach.
    Die Katastrophe erschütterte auch die Seelen der Menschen
    "Die Katastrophe hat auch die Seelen der Menschen in Nepal erschüttert. Sichtbare Schäden gibt es bis heute an Häusern - vor allem an alten Häusern", erklärt Bhola Pathak, während er Gäste über den Durbar-Platz in Patan führt. Auf dem engen Areal drängelten sich bis zum April historische Schreine, Tempel, Paläste, Pagoden. Von manchen steht heute nur noch der Sockel. Mehrere der fragilen, jahrhundertealten Backsteinbauten fielen in sich zusammen. Viele Türmchen und Säulen ragen immer noch windschief in die Luft. In einem Arkadengang des Mani-Keshar-Chowk-Palastes stehen Balken, Fensterrahmen, Holzpfeiler in wildem Durcheinander. Alle mit feinsten Holzschnitzereien verziert. Kubikmeter von Weltkulturerbe - einfach aufeinander geworfen! Zum Glück. Denn sonst wäre wohl noch mehr kaputt gegangen.
    Wer in den Seitengassen von Patan unterwegs und aufmerksam ist, der entdeckt hinter den vielen der halb geöffneten Türen kleine Werkstätten. Dort arbeiten die Handwerker, die die Metallfiguren produzieren, für die die Stadt seit jeher berühmt ist. Patan heißt heute eigentlich Lalitpur: "Stadt der schönen Künste". Und die Herstellung religiöser Statuen lag schon immer in der Hand der Newari - dem stolzen Volk aus dem Kathmandutal.
    Nicht nur Patan ist für seine reiche Kultur und die Kunstschätze vergangener Zeiten bekannt. Auch Bhaktapur verströmt bis heute einen majestätischen Hauch. Kein Wunder, ist es doch eine weitere Königsstadt im Kathmandutal. Und auch Bhaktapur profitiert davon, dass die verschiedenen Fürsten der Malla-Dynastie sich vor Jahrhunderten einen Palastbau-Wettbewerb lieferten: Wer würde den schönsten, den prächtigsten Herrschaftssitz errichten? Bis heute wäre Bhaktapur wohl ein Favorit für den Sieg im Wettstreit. Und wurde auch darum zur Weltkulturerbestätte geadelt: wegen seiner imponierenden Gebäude mit Terrakotta-Zierat, Fliesendekoren, ausladenden Pagodendächern. Doch wer in diesem Herbst seinen obligatorischen Rundgang an einem der vier Stadttore von Bhaktapur starten wollte, der sah: nichts!
    Besser gesagt: Sie sind nicht mehr da. Genau wie der Torbogen und manches andere. In Bhaktapur geriet am 25. April so ziemlich alles ins Wanken. Nach dem Erdbeben am Mittag lag ein ganzer Bezirk um den Shiva-Tempel Bhagvati Mandir fast platt. Die berühmte Vatsala-Pagode, die Laubengänge von Taba Sattal: einfach weg. Von vielen Kulturschätzen kündet heute nur noch ein Plakat: So sah es hier früher aus. Noch viel schlimmer: Fast ein Drittel der Wohnhäuser in Bhaktapur war schwer beschädigt oder gleich ganz eingestürzt. 353 Menschen starben im Schutt der maroden Bauten, weiß Bhola Pathak.
    Fast jeder in Bhaktapur hat Schreckliches erleben müssen
    Die Überlebenden der Naturkatastrophe findet man, wenn man über die schulterhohen Mauern späht, die die ursprünglichen Gärten zwischen den ehemaligen Häusern begrenzen. In einem halbtonnenförmigen Wellblechverschlag haust jetzt auch Pyari Prajapati – zwischen Hügelbeeten und flatternder Wäsche im Wind. Die Büroangestellte steht neben Maispflanzen und Bambusbüschen - mitten in der Stadt. An einem monströsen schwarzen Wassertank vom Roten Kreuz lehnt die 27-Jährige: "Früher habe ich einem Sechs-Etagen-Haus gelebt, gleich hier nebenan. Aber das ist eingestürzt. Meinen Bruder und seine Frau haben wir später unter dem Schutt gefunden. Nur ihr kleines Kind hat überlebt."
    Solche Geschichten kann fast jeder Bewohner aus Bhaktapur erzählen. Geschichten, die noch kaum jemanden losgelassen haben. Auch nicht ein halbes Jahr später. Immerhin: Pyari Prajapati hat ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. So gut geht es nicht jedem der 500 Bewohner der Blechhüttenkolonie. "Meine Familie hat ein paar Felder hier in der Nähe. So bekommen wir zumindest genügend Reis. Aber der ist einem halben Jahr alle. Außerdem will der Landbesitzer, auf dessen Grundstück wir gerade leben, bald ein neues Haus bauen. Genau hier. Und was wird dann aus uns?"
    Die Szenerie ist skurril: Hier - versteckt hinter ein paar Ziegelmauern - die blanke Not. Dort - nur wenige Meter weiter - bummeln die ersten Urlauber nach der Regenzeit durch Bhaktapurs Altstadt. Und die wirkt trotz aller Zerstörungen immer noch majestätisch. Das Weltkulturerbe mag in seiner Bausubstanz gelitten haben. Sein Flair ist immer noch faszinierend und zieht schon wieder Touristen an. Die Gäste kommen zurück - zumindest ein paar. Aber das ist nicht überall in Nepal so.
    Die Touristen kehren noch nicht überall hin zurück
    Kaum eine Dreiviertelstunde dauert der Flug mit einer kleinen Propellermaschine von Kathmandu nach Pokhara - einer Stadt, 200 Kilometer weiter westlich. Hippies hatten das malerische Tal mit dem Fewa-See darin in den 70er Jahren als erste Reisende entdeckt. Heute ist Pokhara ein quirliger Startpunkt für Trekking-Enthusiasten, die in den Himalaja ziehen. Auch die Hügel bei Pokhara, die sich vor der zackigen Kulisse der 8000 Meter hohen Schneegipfel Dhaulagiri, Manaslu und Annapurna aufreihen, sind ein beliebtes Ziel von Wanderern. Stippvisite!
    Fünf Häuser am Straßenrand, Hühner picken unter den Büschen, Bäume drumherum am Hang. Der Pfad, der in die Berge führt, versteckt sich zwischen zwei Mäuerchen. Durch Gärten und Felder geht es während der ersten Minuten, dann verschwindet der rutschig gepflasterte Trail im Dickicht.
    Bhola Patha: "Die Annapurna-Vorberge sind grün. Da haben wir schöne Wälder in der Höhe von 2600 Metern. Da sind riesige Rhododendronbäume, die sind etwa 35 Meter hoch. Wenn man im März oder April da ist, dann sieht man den ganzen Wald voller Blumen – rote, rosa oder weiße. Viele verschiedene Vegetationen gedeihen in dieser Region. Bäume haben wir bis auf 4000 Meter." Die Blumen, von denen Bhola Pathak spricht, sind zwar nicht zu sehen. Doch hier ist das grüne Nepal, das üppig wuchernde und fruchtbare Mittelland. Die kargen, hohen Berge mit ihrer dünnen Luft scheinen weit weg. Zwischen den Bäumen hier unten: Immer wieder Terrassenfelder, auf denen sich Ähren im Wind wiegen.
    Bhola Pathak: "Die bauen meistens Hirse an. Die ist jetzt noch nicht reif. Ende Oktober, Anfang November werden die geerntet. Die Leute essen gerne Hirsebrei, Brot und brennen Schnaps davon. Weiter unten im Tal bauen sie auch Reis an. Dort sieht man Hunderte terrassierte Felder." Die sich von oben gesehen zu einem grellgrünen Mosaik zusammensetzen. Ein dichtes Blätterdach versperrt beim Weiterwandern die Sicht. Doch die grüne Hölle lebt, sagt Bhola Pathak und lauscht beim Steigen ins Gestrüpp. "Bären gibt es hier. Affen haben wir auch, Languren. Und an Vögeln zum Beispiel den National-Vogel, einen wunderschönen Vogel: den Fasan. Der hat neun verschiedene Farben."
    Wanderer bleiben aus - auch dort, wo es keine Zerstörung gibt
    Die Packpferde wenig später auf dem Steig sind allerdings keine Wildtiere. Auf ihren Rücken wird alles transportiert, was in den Bergdörfern an der Annapurna nötig ist. Zum Beispiel das Essen für die Wanderer, die in der Machhrapuchhre-Lodge Station machen. Am frühen Abend stellt Herbergschef Balram Devkota das auf den Tisch, was die meisten Nepalesen auch selbst essen – mindestens zwei Mal am Tag: Dal Bhat. "Linsensoße heißt Dal: gekochte Linsen. Gekochter Reis heißt Bhat. Und an Beilagen haben wir noch Gemüse. Mangoldblätter mit anderem gemischt, also Bohnen oder Kartoffeln und so weiter. Das ist allgemeines Essen in Nepal."
    Plötzlich: Ein lautes Trommeln auf dem Blechdach. Letzte Auswirkungen vom Monsun. Doch der Regen ist nicht der Grund, warum Balram Devkota in diesem Herbst fast keine Gäste hat. 4000 Besucher im Jahr kommen sonst zu seiner Lodge herauf. Doch statt im Trubel sitzt der 64-Jährige an diesem Abend fast alleine auf einem weißen Plastikstuhl im Speiseraum seiner Unterkunft. Er zeigt auf das Reservierungsbuch: Viele der Zusagen sind durchgestrichen, storniert.
    "Seit dem Erdbeben kommen keine Wanderer mehr. Wegen der Fernsehberichte glauben alle, dass Nepal völlig kaputt ist. Aber das stimmt doch gar nicht. Schau her: Mein Haus hat nicht einen Riss abbekommen", sagt Balram Devkota. Tatsächlich: Wege und Häuser im Annapurna-Gebiet sind glimpflich davongekommen. Doch die Trekker bleiben aus.
    Am nächsten Morgen: Es schüttet weiter. Die Gipfel vom legendären "Fischschwanz-Berg" Machhrapuchhre und dem Lamjung-Himal stecken in dicken Wolken. Keine Seltenheit in einer Gegend mit 5000 Millimeter Niederschlag pro Jahr. Nur nicht stehenbleiben heißt es darum beim Abstieg. Denn sonst krabbeln sofort kleine Tierchen aus den Pfützen an den Bergstiefeln hoch: Blutegel-Alarm. "Jetzt ist es feucht. Aber wenn die Sonne scheint, dann ist es heiß, und die gehen in die Büsche rein. Und wenn es ein bisschen regnet, dann kommen sie wieder raus. Auf dem Weg sieht man dann die Blutegel. Tausende gibt es. Bei jedem Schritt hat man zehn oder 15 an den Schuhen."
    Nichts wie weg also aus dem nassen Wald. Über Jeep-Pisten hinab Richtung Pokhara. Am Fewa-See, dessen glitzernde Oberfläche jetzt schon aus dem Tal heraufblinkt, ist das Wetter nämlich nicht so feucht.
    Nepal bekommt mancherorts das, was es braucht: Normalität
    Zurück in Lalitpur. Ein halbes Jahr nach der Naturkatastrophe hat sich das Leben auch in der "Stadt der schönen Künste" wieder halbwegs normalisiert. In einem Außenbezirk hat der Schmied Sudeep Lamsal seine Werkstatt, in der er Klangschalen herstellt. X-mal schiebt Sudeep Lamsal den Metallrohling in das 600 Grad heiße Feuer. Und dann heißt es Hämmern, immer wieder Hämmern. Tausendfach, millionenfach. Zwei Tage dauert es, bis die feingearbeitete Schale fertig ist. Und dann muss der Kunsthändler das gute Stück noch an den Mann bringen - oder die Frau. Das versucht er in seinem Laden gleich neben dem Goldenen Tempel im Herzen von Patan.
    Augen zu, Knie zusammen! Entspannung und Katharsis verspricht Sudeep Lamsal, wenn man seine Klangschalen hört und spürt. Gegen Stress und Depressionen, gegen Gereiztheit und Erschöpfung sollen die metallenen, tönenden Körper helfen. Vorsichtig angestoßen oder mit hartem Klöppel zum Klingen gebracht. Im Raum stehend, auf den Oberschenkeln ruhend oder wie eine umgedrehte Suppenschüssel auf den Kopf gesetzt.
    "Ich hatte Kopfschmerzen und die sind jetzt tatsächlich weniger." Die Touristin ist überzeugt. Der mystische Schall wird sie künftig auch in ihrem Zuhause in der Schweiz begleiten – jedenfalls nach der Investition eines kleineren dreistelligen Eurobetrages. So ist auch Sudeep Lamsal zufrieden. Mit der Rückkehr der Gäste kehrt in Nepal allmählich wieder Normalität ein: Das ist genau das, was das geschundene Land und seine Menschen jetzt brauchen!