Mittwoch, 24. April 2024

"Marshall-Plan" der EU
So soll die kriegszerstörte Ukraine wieder aufgebaut werden

Ein Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist nicht absehbar – doch gibt es Pläne für den Wiederaufbau des Landes. Die EU-Kommission will dabei eine Führungsrolle übernehmen. Auf Konferenzen in Lugano, Deutschland und Großbritannien soll darüber beraten werden. Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat bereits 426 Millionen Euro Hilfsgelder zugesagt.

05.07.2022
    Ukraine, Mariupol: Ein Lastwagen fährt am Theater von Mariupol vorbei, das während der Kämpfe in der Stadt beschädigt wurde.
    Der Wiederaufbau der Ukraine wird mehrere hundert Milliarden Euro kosten und jahrzehntelang dauern. (Alexei Alexandrov/AP/dpa)
    Mit jedem Tag, an dem die russische Armee die Angriffe auf die Ukraine fortsetzt, geht die Zerstörung des Landes weiter. Schätzungen gehen von Schäden in dreistelliger Milliardenhöhe aus. Jeder weitere Kriegstag an dem Infrastruktur, öffentliche Gebäude und Privathäuser sowie Agrarflächen zerstört werden, treibt die Kosten in die Höhe. Alleine wird das kriegs- und krisengeschüttelte Land den Wiederaufbau nicht stemmen können.

    Wie viel wird der Wiederaufbau der Ukraine kosten?

    Wie viel der Wiederaufbau der kriegszerstörten Ukraine am Ende kosten wird, lässt sich derzeit nicht absehen. Auf der Konferenz in Lugano am 4. und 5. Juli 2022 bezifferte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal die notwendigen Mittel für den Wiederaufbau auf rund 720 Milliarden Euro. 

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    Zur Finanzierung des Wiederaufbaus empfehlen Fachleute, auch auf russisches Finanzvermögen zurückzugreifen. Westliche Zentralbanken haben Guthaben der russischen Zentralbank in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar eingefroren. Der Wiederaufbau sei eine "gemeinsame Aufgabe der zivilisierten Welt", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videoschalte. "Diese Konferenz kann zum ersten großen Schritt für den historischen Sieg der demokratischen Welt werden", meinte er. Deutschland hat, so Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze, für die weitere Unterstützung des Wiederaufbaus 426 Millionen Euro zugesagt.

    Wie steht es um die Finanzen der Ukraine?

    Wegen des Kriegs sind die Steuer- und Exporteinnahmen der Ukraine massiv eingebrochen, zugleich stiegen die Ausgaben für das Militär und im Sozialsektor. Das Resultat: Im Staatshaushalt klafft schon jetzt ein gigantisches Loch. Bis Ende Juli werden rund 15 Milliarden Dollar (rund 14,3 Milliarden Euro) fehlen, so eine Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Einen Großteil dieses Finanzbedarfs will die EU-Kommission decken, wie deren Präsidentin Ursula von der Leyen am 18. Mai angekündigt hat. Demnach sollen der Ukraine bis zu neun Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden - in Form von sogenannten Makrofinanzhilfen, Krediten mit sehr langer Laufzeit und sehr niedrigen Zinsen. Mit den Mitteln könnte Kiew die laufenden Ausgaben im russischen Angriffskrieg decken.
    Nach Angaben Selenskyjs und des IWF benötigt die Ukraine pro Monat rund fünf Milliarden Dollar an externen Mitteln. Soldaten, andere Staatsbedienstete und Rentner müssen bezahlt, außerdem die Wirtschaft aufrechterhalten werden, um zumindest die Grundbedürfnisse der Menschen zu decken.
    Am 20. Mai sagten zudem die G7-Finanzminister unter dem Vorsitz Deutschlands bei ihrem Treffen auf dem Petersberg bei Bonn der Ukraine zusätzliche Milliardenhilfen zu. Der gemeinsamen Abschlusserklärung zufolge umfassen diese für das laufende Jahr 19,8 Milliarden US-Dollar (etwa 18,5 Milliarden Euro), davon wurden 9,5 Milliarden Dollar (etwa 8,9 Milliarden Euro) bei dem Treffen neu zugesagt, der Großteil davon in Zuschüssen, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Tags zuvor hatte auch der US-Kongress ein weiteres Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 40 Milliarden Dollar (rund 37,5 Milliarden Euro) gebilligt, nachdem er dem Land im März bereits 14 Milliarden Dollar (etwa 13 Milliarden. Euro) gewährt hatte.
    Nordrhein-Westfalen, Königswinter: Christian Lindner (FDP, M) mit den Teilnehmern des Treffens der G7-Finanzminister und Notenbankchef beim Familienfoto. Auf dem Petersberg bei Bonn beraten die Finanzminister der größten Industrienationen am Donnerstag über Milliarden-Hilfen für die Ukraine.
    Treffen der G7-Finanzminister und Notenbankchefs auf dem Petersberg bei Bonn (Federico Gambarini/dpa)
    Trotz der angekündigten weiteren Hilfen stufte die Ratingagentur Moody's die Kreditwürdigkeit der Ukraine ein weiteres Mal herab. Die Bonitätsnote wurde von Caa2 noch tiefer in den Ramsch-Bereich auf Caa3 gesenkt und die Herabstufung zudem mit einem negativen Ausblick versehen. Das bedeutet: Weitere Abstufungen könnten folgen. Anfang März hatte Moody's die Kreditwürdigkeit der Ukraine bereits um zwei Stufen von B3 auf Caa2 gesenkt.
    Als Grund für die erneute Herabstufung gab die Ratingagentur "einen länger währenden militärischen Konflikt, als Moody's anfänglich erwartet hatte", an. Trotz umfangreicher finanzieller Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft bestehe die Gefahr, dass sich der deutliche Anstieg der ukrainischen Staatsverschuldung "als mittelfristig untragbar" erweise, erklärte Moody's. Die Ratingagentur geht für dieses Jahr von einem Gesamt-Finanzbedarf der Ukraine von rund 50 Milliarden Dollar (etwa 46,8 Milliarden Euro) aus. Zugleich rechnet sie für 2022 mit einem kriegsbedingten Schrumpfen der ukrainischen Wirtschaft um 35 Prozent.

    Was plant die EU für den Wiederaufbau des Landes?

    Die EU beansprucht, beim Wiederaufbau des Landes eine führende Rolle zu übernehmen. „Die Europäische Union steht in der Verantwortung und sie hat auch ein strategisches Interesse daran, beim Wiederaufbau der Ukraine die Führungsrolle zu übernehmen“, sagte Kommissionspräsidentin von der Leyen Mitte Mai. Mit dem IWF und der US-Regierung teilt die EU die Einschätzung, dass die Ukraine zum Wiederaufbau massive Unterstützung benötigt. Das sei „vergleichbar mit dem Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg“, wie US-Finanzministerin Janet Yellen bei einem Besuch Mitte Mai in Brüssel feststellte.
    Mit dem Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall, hatten die USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau in Westeuropa mit Milliardensummen unterstützt. Der Präsident des Weltwirtschaftsforums 2022, Børge Brende, forderte zum Auftakt von dessen Jahrestagung am 23. Mai in Davos, bereits jetzt einen solchen Marshall-Plan auf den Weg zu bringen: „Auch ohne Friedensabkommen, das derzeit ja nicht sehr wahrscheinlich ist, müssen wir bereits am Wiederaufbau arbeiten, zumindest in den Gebieten, die unter der Kontrolle der Ukrainer sind“, sagte Brende der „Süddeutschen Zeitung“. Es gehe um Infrastruktur, Elektrizität, Schulen, Straßen und Brücken.
    Auch in der EU-Kommission sieht man die Notwendigkeit, schon jetzt die Eckpunkte der internationalen Bemühungen für den Wiederaufbau festzulegen – obwohl aufgrund der anhaltenden russischen Aggression noch nicht klar sei, wie viel Unterstützung das Land letztlich benötigen wird. Die Kommission schlägt daher die Implementierung einer internationalen Koordinierungsplattform vor. Diese „Ukraine Reconstruction Platform“ soll von der Kommission als Vertreterin der EU und der ukrainischen Regierung betrieben werden und weitere internationale Partner und Organisationen zusammenbringen, etwa EU-Mitgliedstaaten, andere bilaterale und multilaterale Partner sowie internationale Finanzinstitutionen.
    Zuständig für Planung und Umsetzung des in dem EU-Dokument „RebuildUkraine“ genannten „strategischen Wiederaufbauplans“ bliebe die ukrainische Regierung. Vor der Umsetzung müsste nach den Vorstellungen der EU-Kommission jedoch zunächst die „Ukraine Reconstruction Platform“ dem Plan zustimmen. Damit soll sichergestellt werden, dass zum einen die Bedarfsermittlung der EU und andere Partner berücksichtigt werden, zum anderen, dass die Ukraine durch den Wiederaufbau auch modernisiert, reformiert und so an die EU herangeführt wird.
    Ein besonderer Fokus soll daher neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheitswesen, von Schulen und Wohnraum vor allem den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung gelten. Investitionen sollen außerdem nur im Einklang mit der Klima-, Umwelt- und Digitalpolitik der EU und den EU-Standards erfolgen. Damit dies gewährleistet wird, soll offenbar eine ähnliche Regelung wie beim Corona-Aufbaufonds gelten: Werden Vorgaben nicht eingehalten und festgelegte Ziele nicht erreicht, erfolgen auch keine Hilfszahlungen.
    Eine zerstörte Schule in der Region Luhansk
    Eine zerstörte Schule in der Region Luhansk (imago/ITAR-TASS/Alexander Reka/)
    Unklar ist derzeit, wie „RebuildUkraine“ finanziert werden soll. Die EU-Kommission geht davon aus, dass der Bedarf „weit über die im derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmen verfügbaren Mittel hinausgeht“. Daher würden neue Finanzierungsquellen benötigt. Die EU-Kommission nennt in ihrem Papier zusätzliche Beiträge der Mitgliedsländer, eine Überarbeitung des EU-Finanzrahmens und eine Finanzierung über Kredite. Letztlich liegt die Entscheidung darüber bei den Staats- und Regierungschefs.
    Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Achim Truger, der als Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die Bundesregierung berät, schlug vor, den Wiederaufbau der Ukraine über gemeinsame Schulden der EU zu finanzieren - ähnlich wie beim Corona-Wiederaufbaufonds. Ein solches Instrument sei ökonomisch gut begründbar, sagte der Wirtschaftsweise der Funke-Mediengruppe. „Zwar klingen Summen von 500 Milliarden Euro gigantisch, in Relation zur Wirtschaftsleistung der EU handelt es sich jedoch nur um gut drei Prozent“, so Truger.
    Eine erneute gemeinsame Schuldenaufnahme dürfte jedoch bei einige Mitgliedsstaaten auf Widerstand stoßen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FPD) erklärte bereits, dass die Bundesregierung dies ablehne.

    Kann Russland an den Kosten beteiligt werden?

    Die überwiegende Mehrheit der westlichen Staatengemeinschaft ist sich mit der ukrainischen Regierung einig, dass Russland als Aggressor an den Kosten des Wiederaufbaus beteiligt werden muss. Unter anderem der ukrainische Präsident schlug vor, dazu die aufgrund der Sanktionen eingefrorenen russischen Vermögenswerte, unter anderem russische Devisenreserven in dreistelliger Milliardenhöhe und das Vermögen russischer Oligarchen, zu verwenden.
    Eine entsprechende Forderung formulierten auch die drei baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen sowie die Slowakei in einem Brief an die andern EU-Mitgliedsstaaten. "Ein wesentlicher Teil der Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine, einschließlich der Entschädigung für die Opfer der russischen Militäraggression, muss von Russland getragen werden", heißt es in dem Papier, das den EU-Finanzministern am 24. Mai vorgelegt wurde.
    Andere EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, äußerten jedoch Bedenken, dass die Maßnahme gegen internationale und nationale Gesetze verstoßen könnte. Aus völkerrechtlicher Sicht etwa sind die eingefrorenen Vermögenswerte Eigentum des russischen Staates beziehungsweise russischer Bürger und damit geschützt. Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte, Deutschland sei zwar offen für eine Debatte darüber, beschlagnahmtes russisches Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine zu nutzen. Man müsse aber zwischen Mitteln des Staates - wie etwa der Zentralbank - und privaten Mitteln unterscheiden. „In unserer Verfassung gibt es Garantien für Privatvermögen“, betonte der FDP-Politiker.
    Nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen prüft die EU Möglichkeiten, wie auf russische Gelder für Reparationszahlungen zugegriffen werden kann. „Wir sollten dafür jeden Stein umdrehen“, sagte von der Leyen auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforum in Davos. Am 25. Mai legte ihre Behörde einen ersten Gesetzesvorschlag vor, der es ermöglichen soll, eingefrorene Vermögenswerte russischer Oligarchen zu beschlagnahmen. Demnach soll das Umgehen von Sanktionen EU-weit als Straftat definiert und zugleich die Regeln zur Vermögensabschöpfung und Beschlagnahmung verschärft werden.
    Die EU-Mitgliedstaaten müssen nun darüber entscheiden, ob die Kommissionsvorschläge umgesetzt werden. Wenn die 27 Länder dafür sind, rechtlich die Weichen für eine Beschlagnahmung zu stellen, würde dies auch den Verkauf von "eingefrorenen" Villen oder Jachten ermöglichen. Der Erlös aus Verkäufen könnte in einen "gemeinsamen Fonds" gehen, der "ukrainischen Kriegsopfern zur Verfügung" gestellt werde, schlug EU-Justizkommissar Didier Reynders vor. Darüber hinaus könnten sie auch für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden.
    Quelle: Europäische Kommission, Dlf, dpa, afp, Tobias Pastoors, Wulf Wilde, Ulrike Westhoff