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Wiederentdeckung eines Ausnahmeautors

Die New Yorker Reportagen von Joseph Mitchell handeln von Stadtstreichern, Zigeunern und Kassiererinnen - von denen, die von der Gesellschaft beiseite geschoben wurden. Das hat den Autor offenbar selbst an den Rand der literarischen Aufmerksamkeit gedrängt.

Von Alain Claude Sulzer | 19.08.2011
    Joseph Mitchell war eine Ausnahmeerscheinung und ist es weit über seinen Tod hinaus geblieben; um so erstaunlicher, ja eigentlich unbegreiflich ist es, dass er außerhalb der USA - und ganz anders als dort - in Europa so gut wie unbekannt ist. Ein großes Verdienst kommt demnach dem Schweizer Diaphanes Verlag zu, ihn uns endlich - nach einem elf Jahre zurückliegenden ersten Versuch durch Kiepenheuer & Witsch - auch auf Deutsch bekannt zu machen.

    Man kann darüber spekulieren, woran das lang anhaltend fehlende Interesse an Mitchell gelegen haben könnte - selbst in Georg Brunolds großer Reportagesammlung "Nichts als die Welt" von 2010 sucht man seinen Namen vergeblich, - man kann nur hoffen, dass es nicht an den Objekten lag, denen seine journalistische Fürsorge galt. Denn Mitchell interessierte sich nicht für die, die interessant scheinen, nicht für die Reichen und nicht für die Erfolgreichen, sondern für alle die, die von der Gesellschaft, der sie entweder feindlich oder gleichgültig gegenüberstanden, beiseite geschoben worden waren. Wenn ihn das auch nicht verdächtig macht, so hat es doch offenbar auch ihn an den Rand der literarischen Aufmerksamkeit gedrängt. Und gerade dort gebührt ihm ein Ehrenplatz.

    Einer der ganz großen amerikanischen Journalisten lässt sich nun glücklicherweise auch in der vorzüglichen, mit äußerster Sorgfalt edierten deutschen Übersetzung von Sven Koch und Andrea Stumpf entdecken. Dabei erschließt sich uns auch ein außergewöhnlicher Schriftsteller, der so manchen, dessen Name uns heute geläufiger ist, beeinflusst haben dürfte.

    Kaum je tauchen in Mitchells New Yorker Reportagen berühmte Namen auf, jener der Journalistin und Autorin Fanny Hurst etwa. Doch um sie geht es Mitchell in dieser Reportage von 1940 gar nicht, es geht vielmehr um Mazie, die Kassenfrau hinter dem Schalter eines Kinos an der Bowery, die dort so etwas wie eine Berühmtheit war; nicht weil sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Mae West, sondern weil sie ein offenes Ohr und weites Herz für all die Stadtstreicher und Trinker hatte, an die sie täglich bis zu 15 Dollar verteilte; kein Mensch konnte sich erklären, warum sie das tat.

    Dass Fanny Hurst sie als Freundin bezeichnete, hatte gewiss mit Mazies uneigennütziger Großzügigkeit in diesen elenden Verhältnissen zu tun, die weit von jener Wohltätigkeit entfernt war, die sich werbewirksam einsetzen lässt. Von solchen Menschen handeln diese Reportagen, von denen etliche vor dem Hintergrund der mit dem Börsencrash 1929 einsetzenden Wirtschaftskrise entstanden. Doch seltsame Vögel trieben sich in Manhattan auch davor und danach noch herum. Ihnen galt Mitchells neugieriges Interesse.

    Von 1938 bis 1964 schrieb Mitchell für den "New Yorker", nachdem der 1908 in North Carolina Geborene ab 1929 zunächst als Lokalreporter in New York gearbeitet hatte. Er starb 1996, ohne nach 1964 eine Zeile geschrieben, beziehungsweise publiziert zu haben; 32 Jahre seines weiteren Lebens, in denen er weiterhin in seinem Büro residiert hatte; ein Kuriosum, das sich bis heute niemand erklären kann.

    Bleiben also die gerade mal 26 Jahre, aus denen die nun in Deutsch vorliegenden Arbeiten stammen, die mit dem Etikett Reportage nur unzureichend charakterisiert sind, da sie sehr viel tiefer gehen, als das, was man gemeinhin darunter versteht. Jene etwa über "Die Zigeunerinnen" fällt nicht allein durch ihren schieren Umfang von 48 eng bedruckten Seiten auf, sondern auch durch die Hingabe, mit der Mitchell ohne Sentimentalität und Berührungsangst den pensionierten Captain des Dezernats für Taschendiebstahl und Trickbetrug von seinen Erfahrungen mit Zigeunerinnen in New York erzählen lässt. Das ist zumal heute, da sich die Stadt längst verändert hat und Zigeuner dort gewiss kaum noch eine Rolle spielen, von hohem dokumentarischen und kulturhistorischen Wert und zugleich eine der vielen eindringlichen Belege für Mitchells originelle Arbeitsweise, bei der er selbst übrigens völlig in den Hintergrund zurücktrat.

    Ist das Porträt Professor Möwes, eines Stadtstreichers, der von sich behauptet, "Amerikas führende Kapazität auf dem Gebiet des Verzichts zu sein", in gewisser Weise nicht auch ein verschlüsselter Hinweis auf sein eigenes Vorgehen, seine Art des Recherchieren? Ähnlich wie Möwe auf alles außer auf seine Mappe verzichtete, in der er eine Unmenge von Manuskripten verwahrte, die jene "mündliche Geschichte unserer Zeit" beinhaltete, an der er ebenfalls seit 26 Jahren schrieb, war auch Mitchell - wenngleich weniger obsessiv - vor allem der Chronist dessen, was er sah und wofür er sich interessierte.

    Zum Beispiel für John S. Smith aus Riga in Lettland, der 1934 damit anfing, "quer durch die Vereinigten Staaten zu trampen":

    "Am Abend des 23.Oktober 1936 betrat er eine Imbissstube an einem Highway nahe Columbus in Texas, erklärte der Kellnerin, er habe kein Geld, und bat sie um eine Tasse Kaffee. Sie nahm ihn mit in die Küche, wo sie ihm einen Teller Eintopf gab, ein Stück Biskuitrolle und Kaffee. Als er mit dem Essen fertig war, zog er aus seinem Bündel einen Streifen schmutziges braunes Papier und kritzelte mit einem Kopierstift etwas darauf. Er schob das Papier unter den Teller und eilte hinaus in die Nacht. Als die Kellnerin den Zettel fand, sah sie, dass es ein handschriftlicher Scheck über 27.000 Dollar war, gezogen auf die Irving National Bank of New York. (...) Den ersten Scheck auf die Irving National schrieb der alte Mann am 15. Januar 1934. Er überreichte ihn einer Hausfrau in Dallas, die ihn auf eine Tasse Kaffee eingeladen hatte. Er belief sich auf 2000 Dollar."

    Doch der Bankangestellte, dem diese Hausfrau nach einigen Tagen den Scheck zuschickte, musste sie - erwartungsgemäß, aber doch ein wenig ernüchternd - enttäuschen. In den Büchern der Bank gab es keine Spur eines John S. Smith aus Lettland, dessen wertlose Schecks, mit denen er die edlen Almosenspender beglückt hatte, von nun an so regelmäßig wie die hoffnungsvollen Begleitschreiben der Empfänger eintrafen.

    Nachdem Mitchell alle Briefe gelesen hatte, die die Bank von den "Beschenkten" erhielt und die von den mehr oder weniger großen Hoffnungen kündeten, der alte Mr. Smith könnte sich womöglich nicht nur als verrückt, sondern als verrückt und Millionär entpuppen, hatte er "plötzlich das Gefühl, dass John S. Smith aus Riga, Lettland, Europa, irgendwie auch ein bisschen unheimlich war".

    Diese unerwartete Wendung nach einer Reihe eher liebenswürdigen "Begegnungen" mit dem Alten, der uns im Lauf der Lektüre alles andere als unsympathisch erscheinen will, ist untypisch für Mitchell, der sich mit deutlichen Urteilen über seine Figuren meist zurückhielt.

    Aber nicht untypisch für den Schriftsteller. Denn da gibt es gegen Ende dieser beglückenden Entdeckung eines Journalisten die Entdeckung eines Autors zu vermelden, der sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Höhe Raymond Carvers bewegte, der übrigens - ebenfalls im "New Yorker" - etwa zur selben Zeit zu publizieren begann, als Mitchell gerade aufhörte. Auf den letzten 52 Seiten, die sieben fiktionale Texte enthalten, überwindet der Autor - als Erfinder - den bedeutenden Journalisten zugunsten eines großen Dichters, dem es gelingt, sich und seinen Lesern die Welt mit wenigen Worten und minimalen Irritationen als das zu erklären, was sie ist: Voller Geheimnisse und Unwägbarkeiten und - was ihre literarische Wiedergabe betrifft - auch hier keinesfalls auf interessante Fälle beschränkt.

    Hoffen wir, dass uns Mitchells deutscher Verlag mit weiteren Übersetzungen in glückliches Staunen versetzt.

    Joseph Mitchell: "McSorley's Wonderful Saloon".
    Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Koch und Andrea Stumpf
    Diaphanes Verlag 2011
    416 Seiten