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Wiederkehr der Armut?

Armut in Deutschland ist keine neue Entwicklung. Sie nahm schon in den 70ern ihren Anfang. Die Prozesse, die damit zusammenhängen, werden an der Universität Trier im Bereich "Fremdheit und Armut" analysiert. Durch den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat das Thema eine unvorhergesehene Aktualität erlangt.

Von Christoph Gering | 22.05.2008
    " Die Armut bei Kindern, bei Kinderreichen und bei Alleinerziehenden, die ja als Gruppe immer größer werden im Vergleich zu den 60er Jahren, hat sich so von allen gruppenspezifischen Armutsgruppen, für die wir historische Zahlen haben, am stärksten verändert. "

    ... sagt der Zeithistoriker Winfried Süß. Und wenn er "verändert" sagt, dann meint er "verschlechtert". Ausgehend von solchen Erkenntnissen rollt dieser Tage eine Armutsdebatte durch Deutschland, die stellenweise etwas Hysterisches an sich hat, was sich vielleicht dadurch erklärt, dass die Analyse und Einordnung des Phänomens "Armut" in Deutschland kaum wissenschaftliche Wurzeln hat. Winfried Süß:

    " Also in Frankreich gibt es zum Beispiel eine bis auf Toqueville zurückgehende Tradition der Erforschung, Beschreibung und Klassifikation der Armut. Die englische Soziologie ist seit weit über hundert Jahren voll davon, also da werden die großen gesellschaftlichen Debatten entlang der Armutsfrage verhandelt. Das hängt ein bisschen damit zusammen, dass die Engländer nie ganz aufgehört haben, sich als "class society", also als Klassengesellschaft, die relativ große soziale Unterschiede – also vor allen Dingen Einkommensunterschiede – gehabt hat, zu verstehen, während die Bundesrepublik seit der Nachkriegszeit von sich selbst ein Bild gehabt hat, das einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Also einer Gesellschaft, in der – übrigens auch durch die Verwerfungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs – die sozialen Unterschiede vergleichsweise stark eingeebnet waren. "

    Die "nivellierte Mittelstandgesellschaft" beschrieb der Soziologe Helmut Schelsky in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, er beschrieb damit die neue Bundesrepublik. Die träumte den Traum von der immerwährenden Prosperität, von stetig wachsendem Wohlstand, und wollte daran alle beteiligt – auch diejenigen, die zum Beispiel durch Alter oder Kriegsversehrtheit nicht aktiv am Wirtschaftswunder teilhaben konnten. Und so schritt der Bundeskanzler Adenauer 1957 zur ersten großen Rentenreform der Bundesrepublik.

    " Man hat Adenauer damals gesagt: "Mach’ das nicht so. Du kannst nicht einen Vertrag, einen Generationenvertrag konstruieren, zwischen nur der arbeitenden und der Rentnergeneration. Sondern du musst einen Vertrag konstruieren zwischen der Generation, die Kinder aufzieht, zwischen der Generation, die arbeitet, und der Rentnergeneration, also: einen Drei-Generationen-Vertrag." Adenauer hat dann kurz über die Zahlen geschaut und gesehen, wenn man das so macht, wird das, was die Rentner mehr kriegen durch die Rentenreform an direkten Einkommenszuwächsen kurz vor einer Bundestagswahl deutlich weniger, als wenn man das Ding als Zwei-Generationen-Vertrag konstruiert. Es gibt dann diesen quellenmäßig nicht ganz hundertprozentig abgesicherten Satz: "Kinder kriegen die Leute von alleine." Und so kommt es zu diesem berühmten bundesrepublikanischen Zwei-Generationen-Vertrag, der uns heute ziemlich zu schaffen macht. "

    Denn den Alten geht es in Deutschland – historisch und international gesehen – relativ gut. Relativ schlecht geht es denen, die Kinder haben, am schlechtesten den Alleinerziehenden. Das belegt der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung. Die zeithistorische Forschung, wie Winfried Süß sie betreibt, belegt, dass das eigentlich nichts Neues ist:

    " Heute sehen wir, dass die Armut – und das geht so auch schon Mitte der 70er Jahre los – zunehmend eine Sache von Kindern, von Familien mit mehr als zwei Kindern und ganz massiv von Alleinerziehenden ist. Nur um mal eine Hausnummer zu nennen: Im Moment ist jeder vierte Alleinerziehende unterhalb der Armutsgrenze. Armutsgrenze, sagt man, das ist weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens eines Landes. Diese Zahl war um 1970 knapp halb so groß. "

    Was die Diskussion um Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Armut relativ ist. Sie ist relativ, wenn man sie historisch betrachtet:

    " Im 19. Jahrhundert oder in noch vorvergangeneren Zeiten ist das einfacher, da ist Armut oft gleichbedeutend mit der physischen Subsistenzkrise, also Armut bedeutet, Sie haben nicht genug, um sich zu ernähren, und sie verhungern, wenn es schlimm läuft. Das sind die berühmten Pauperismuskrisen, die zuletzt in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetreten sind. "

    Armut ist aber auch relativ, wenn man sie aktuell betrachtet:

    " Sie können Armut immer nur definieren in Relation zur restlichen Bevölkerung. Das ist die verbreitetste Methode. Da gibt es mehrere Möglichkeiten, am verbreitetsten sind Maßzahlen, die mit der Hälfte des durchschnittlich verfügbaren Einkommens der Gesamtgesellschaft argumentieren. Dabei ist ein armer Schweizer immer wohlhabender als ein armer Litauer. "

    Ein armer Deutscher ist einer, der als Alleinstehender weniger als 781 Euro im Monat zur Verfügung hat. Das reicht zum Überleben, aber nicht zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Theater, Kino, gar Restaurantbesuche sind für den, der weniger als 781 Euro im Monat zum Leben hat, der reine Luxus. Einziger Trost – international gesehen:

    " Im bundesdeutschen Sozialstaat gibt es – anders als etwa in Amerika – relativ wenige Gruppen, die dauerhaft arm sind. Also die dauerhaft kein Leben ohne soziale Hilfe führen können. Aber es gibt eine relativ große Zahl – und dazu gehört beispielsweise alles, was mit alleinerziehend verbunden ist – für die der Sozialhilfebezug in einer bestimmten Phase einfach das Normale ist. "

    Sich an solche "Normalität" zu gewöhnen, fällt uns schwer, denn wir kennen es seit einem halben Jahrhundert anders. Doch was ist schon ein halbes Jahrhundert? Historisch betrachtet – gar nichts. Und deswegen plädiert der Historiker Winfried Süß dafür, die Augen aufzumachen:

    " Der Sozialstaat in Deutschland war ganz lange etwas im positiven Sinne unglaublich Verfestigtes. Also die gesamte Wirtschaftswundergeneration verknüpft damit die Verkoppelung von Demokratie und Wohlstandserfahrung. Und auch die Kinder dieser Generation, also wir, die wir hier sitzen, haben das auch so erlebt. Das war so quasi der Naturzustand. Und was wir im Augenblick so lernen ist, dass der Naturzustand vielleicht ein zeitlich befristeter Sonderfall gewesen ist. "