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Wieso immer nur London?

Das nordenglische York war jahrhundertelang die zweitbedeutendste Stadt des Königreichs und bietet dem heutigen Besucher eine Menge. Nur zwei Zugstunden dauert die Fahrt von London mit den East Coast Trains - hin und zurück ab 26 Pfund.

Von Jochen Spengler | 09.10.2011
    Nicht den erstbesten, wohl aber den besten ersten Überblick gibt es aus 65 Metern Höhe. Der Aufstieg über 275 enge Steinstufen ist allerdings Schweiß treibend und nur rüstigen Zeitgenossen zu empfehlen. Und schwindelfreien. Es geht über schmale Stege an Satteldächern entlang, vorbei an gotischen Spitztürmchen und Strebebögen hoch zum mächtigen Vierungsturm.

    Oben versöhnt dann ein unverstellter Blick durch seine Zinnen auf die weite, grüne Landschaft Yorkshires - die Täler im Nordwesten und die Moore im Nordosten. Unmittelbar zu Füßen liegt ein überschaubares, enges Backsteinhäusermeer. Ziegelrote Dächer, einige Fachwerkbauten, Kirchtürme, Schornsteine, Parks, eine alte Stadtmauer.

    York, einstmals die nach London zweitwichtigste Stadt Englands mit einer fast zweitausendjährigen Geschichte. Eboracum hieß York zur Römerzeit und war die Hauptstadt Nordbritanniens. Nach den Römern kamen die Angelsachsen, später die Wikinger, schließlich die Normannen - alle hinterließen ihre Spuren.

    Auf den Resten einer römischen Legionärsfestung wurde im Mittelalter das berühmte York Minster errichtet. Die reich verzierte Kathedrale thront von weither sichtbar über der Stadt und leuchtet regelrecht, wenn die Sonne auf die elfenbeinfarbenen Fassaden scheint. Vom zentralen Turm aus, den wir bestiegen haben, blicken wir auf die beiden kleineren Westtürme. Im Nordwestturm ertönt Great Peter, die große Glocke, die 10,8 Tonnen auf die Waage bringt.

    Die Kathedrale von York gilt als größtes Gotteshaus nördlich der Alpen, 128 Meter lang und bei den Querschiffen 61 Meter breit. Sie ist neben Canterbury Sitz eines der beiden Erzbischöfe der Anglikanischen Staatskirche.

    Aber nicht allein ihre schiere Größe beeindruckt. Das Kirchenschiff wird von Licht durchflutet - ganz anders als die dunkle, mitunter bedrückende Atmosphäre vieler Sakralbauten. Die lichte Helligkeit des Minsters ist den vielen gewaltigen Fenstern geschuldet.
    "Das Kirchenschiff hier wurde ab etwa 1290 gebaut. Und all diese Fenster stammen aus dem Mittelalter. Wenn hier heute jemand hin käme aus der Zeit vor 700 Jahren, er würde all diese Fenster erkennen. Weil sie von Wiederherstellung und Säuberung und vielleicht einer neuen Bleifassung abgesehen nicht verändert wurden. Die Gestaltung ist dieselbe. Und es gibt hier noch jede Menge mittelalterliches Glas."

    Man hört Chris Adams, dem grauhaarigen Kirchenführer, seine Begeisterung an.

    "Wir sind sehr glücklich hier in York, dass dies alles bewahrt werden konnte. Während der Reformation und während des englischen Bürgerkrieges wurden alle Kathedralen in England zertrümmert. Sie galten als götzendienerisch. Hier aber ist alles original. York war eine königstreue Stadt während des Bürgerkriegs, aber als sie kapitulierte vor den belagernden Parlamentsheeren, da hat einer der kommandierenden Parlamentarier-Generäle, Thomas Fairfax, der hier aus Yorkshire stammte, seinen Truppen befohlen, die Kirchen und die Kathedrale in York zu verschonen. Und sie hielten sich tatsächlich daran und deswegen haben wird das noch."

    Die Five Sisters im nördlichen Querschiff bestehen aus fünf Lanzettfenstern mit grau-grünem geometischen Mustern, jeweils fast 17 Meter hoch und anderthalb Meter breit, die ältesten komplett erhaltenen Kirchenfenster Englands aus dem Jahr 1260. Nicht weniger schön das Rosenfenster gegenüber, das das Ende der Rosenkriege und die Vereinigung der Königshäuser Lancaster und York darstellt.

    Am beeindruckendsten aber wirkt das große Ostfenster am Ende des Chors aus dem Jahr 1405. Es ist weltweit das größte mittelalterliche Buntglasfenster und erzählt Anfang und Ende der Welt aus Sicht des ersten und letzten Buches der Bibel.
    "Es wurde über eine Zeitperiode von drei Jahren gebaut zwischen 1405 und 1408. Der Mann, der es schuf, war ein Mann namens John Thornton von Coventry, wahrscheinlich einer der besten Glasmaler jener Ära. Niemand hat von ihm unglücklicherweise gehört. Aber er war ein sehr bedeutender Mann und dieses ist sein Meisterwerk. Er brauchte dafür drei Jahre und er hat 56 Pfund bekommen, zehn Pfund davon ein Bonus für rechtzeitige Fertigstellung. Heute braucht es acht bis neun Jahre und 20 Millionen Pfund um es zu restaurieren."

    Tatsächlich blicken wir nicht auf ein wirkliches Fenster, sondern nur auf eine Plastik-Leinwand mit einer Eins-zu-eins-Fotografie des Fensters. Die 117 Glasfelder sind vor drei Jahren vollständig zur Restaurierung entfernt worden. Wie diese einzelnen Panels einmal aussehen werden und wie sie aussahen, erkennt man gut an den beiden Mustern, die im Minster ausgestellt sind. Eines restauriert, mit großen leuchtenden Buntglasscherben zusammengehalten von einigen Bleiruten; daneben das Original, matt mit etlichen kleinen Mosaikscherben und sehr vielen Fassungen aus Blei. Beide zeigen Moses, der das Rote Meer durchquert.

    "So ist es herausgenommen worden; all dies Blei ist später hinzugefügt worden. Jedes Mal, wenn das Glas einen Sprung hatte oder brach, haben sie einen Klempner kommen lassen, um es mit Blei zu flicken. Mehr und mehr Bleifassungen, so dass es immer mehr zu einem Mosaik wurde. Und hier haben wir eine Versuchsfüllung, wie es mal aussehen wird. Sie können den Unterschied sehen. Wie viel schmaler das Blei ist, wie wenig im Vergleich zum alten. Wieviel strahlender das Glas, wenn es gesäubert ist.
    Das ist also das Verfahren - vorher - nachher. Und das wird mit allen 117 Glasfeldern geschehen."

    Wer sich dafür interessiert, wie das Große Ostfenster über die nächsten Jahre restauriert wird, der muss nur um die Ecke gehen. Im Schatten der Kathedrale finden sich die Bedern Glaziers Studios. Dort säubern Diplomrestauratorinnen die Glasscherben, ersetzen sie, wenn sie zu klein, defekt, aber nicht Originalbuntglas sind, fassen sie neu in Blei ein. Mit etwas Glück trifft man dort die deutsche Diplom-Restauratorin Dunja Kielmann aus Erfurt, die hier seit fast fünf Jahren arbeitet und gerade Ersatzglas zuschneidet.

    "Das ist eine kombinierte Arbeit aus ganz verschiedenen Arbeitsschritten. Wir machen nicht monatelang das Gleiche, immer mal wieder was anderes. Den Zuschnitt mach ich noch ein paar Stunden, und dann wieder was ganz anderes. Das ist sehr abwechslungsreich."

    Wie lange benötigt man für ein einziges Glasfeld?

    "Es kommt darauf an, wie kompliziert das Feld ist, aber wir haben zwischen 400 und 600 Stunden insgesamt mit dem Glasen, Entbleien und allem."

    Auch vom überragenden Minster abgesehen hat York kulturell viel zu bieten. Lohnenswert ein Rundgang auf der fünf Kilometer langen Stadtmauer, die die Stadt fast durchgängig umschließt und begehbar ist. Vier Stadttore aus dem 14. Jahrhundert sind noch erhalten.

    Die eigentliche Attraktion aber ist die gut erhaltene, mittelalterliche Stadt selbst zwischen den Flüssen Ouse und Foss. Sie versprüht gemütlichen Charme und ist trotz ihrer 140.000 Einwohner überschaubar, wirkt wie eine gemütliche Kleinstadt mit vielen Shops, Tearooms und Restaurants.

    Abgesehen davon, dass man nie allein ist, reizen die Streifzüge an den Flussufern und durch die hübschen Straßenzüge. Es gibt enge Kopfsteinwege mit krummen Fachwerkhäusern, deren obere Stockwerke überhängen und deren Dächer fast aneinander stoßen. Durch die Stadt winden sich unzählige winzige Gässchen, in die kaum einen Sonnenstrahl hineinfindet. Diese "snickleways" sollte man sich nicht entgehen lassen und man kann entweder auf eigene Faust los ziehen oder sich einer der zahlreichen Führungen anschließen.

    "Ich will Ihnen jetzt auch die versteckten Gässchen und Pfade zeigen, sie gibt es überall in der Stadt. Wir nennen sie Snickleways, ein hübsches Wort - mögen Sie es? Sie stammen aus dem Mittelalter, es waren schnelle Wege durch die Stadt. Viele haben sie anstelle der Hauptstraßen benutzt, um von A nach B zu kommen. Innerhalb eines 800 Meter Durchmessers kann man auf den Snickelways wirklich mehr als fünf Kilometer zurücklegen. Ich sage den Leuten immer, die nach York kommen: Wenn ihr eine kleine Gasse seht, bitte, geht einfach durch, sie führt irgendwo hin. Und ihr werdet immer überrascht sein, andere Dinge zu sehen. Aber nicht einmal ein Prozent der Besucher gehen hier lang."

    Insgesamt lockt York lockt mit über 30 touristischen Attraktionen und Museen. Das berühmteste ist vermutlich das National Railway Museum am Bahnhof, das die weltweit größte Sammlung von Lokomotiven beherbergt. Lohnenswert auch ein Besuch im Yorkshire Museum, das die Ausgrabungsfunde aus den Zeiten der Römer, der Angelsachsen, der Wikinger und Normannen präsentiert - darunter den Wikinger Schatz von Harrogate und das Cawood Winkinger Schwert.

    Richtiggehend lebendig aber wird die Welt der nordischen Krieger, im Jorvik Viking Centre. Vor 35 Jahren entdeckte man in Yorks Zentrum in der Coppergate bei Bauarbeiten Reste der alten Wikingerstadt Jorvik, die hier von 876 bis 954 bestand. 40.000 Fundstücke aus dem täglichen Leben der Wikinger grub man aus, so viele, dass man sie an Ort und Stelle beließ und ein interaktives Museum darüber errichtete. Wie in einer großen Geisterbahn, wird man heute mit einem kleinen Wagen durch ein originalgetreu nachgebautes Wikingerviertel kutschiert, sieht Schiffe am Kai, Handwerker bei der Arbeit, einen Markt, Hütten, Ställe, Menschen und Tiere.

    Die Bilder, Geräusche und Gerüche hinterlassen einen ungemein realistischen Eindruck von dem Leben vor 1.100 Jahren.

    Wer des Englischen einigermaßen mächtig ist, dem sei ein abendlicher "Ghost Walk" mit Mark Graham empfohlen. Schließlich wirbt auch York damit, Englands "most haunted city" zu sein, die verspukteste Stadt.

    "1953 arbeitete ein Freund von mir, Harry Martindale, im Keller des Schatzmeister-Hauses hier beim Minster. Er war ein Klempner, sein erster Job, und er sollte ein Rohr durch eine Wand legen. Plötzlich hörte er ein Jagdhorn. Durch die Wand vor ihm trat ein römischer Soldat. Harry schrie, fiel von seiner Leiter und verdrückte sich in eine Kellerecke. 20 Legionäre marschierten durch die Mauer, einer auf einem Pferd. Sie schienen auf den Knien zu laufen. Harry konnte ihre Füße nicht sehen. Sie verschwanden und er rannte raus, erzählte allen davon, aber niemand glaubte ihm. Würden Sie etwa? Sein ganzes Leben lang beharrte er auf dieser Geschichte, erzählte von den Speeren, den Schwertern, den Schilden, den Helmen. Niemand glaubte ihm. 1967 begannen die Ausgrabungen hier und alles war so, wie er es gesehen hatte - die Waffen, die Kleidung. Aber was seine Geschichte berühmt machte, war, dass man auch ein alte nordwärts gerichtete, tiefer liegende Römerstraße entdeckte - die Via Decumana. Genau an der Stelle, wo er die Geister marschieren sah. Und da - in der Entfernung… er kommt näher."

    So richtig gegruselt hat es uns nicht. Aber die Geistergeschichten wurden unterhaltsam und amüsant dargeboten von dem ganz in Schwarz gekleideten, begnadeten Erzähler.

    Mark Graham gilt als der Erfinder der Ghostwalks, die es inzwischen in aller Welt gibt. 1973 hat er sich zum ersten Mal auf die Spuren der Geister begeben - in York, dieser Stadt - ein wenig wie aus einer anderen Zeit.