Archiv


Wieviel wiegt die Last der Vergangenheit?

Rainer B. Schossig: Die Budapester Gedenkstätte kommt ja sehr spät, war lange umstritten, wurde merkwürdig - bis jetzt unmittelbar vor EU-Beitritt - verschleppt. Woher diese Zögern, kommt es noch aus realsozialistischen Zeiten?

    Istvan Eörsi: Die real-sozialistischen Zeiten wollten über die ganze Frage nichts wissen. Was die Nazis gemacht haben, wurde natürlich als Sünde betrachtet, aber sie wollten nichts von einer Sondersünde gegen die Juden wissen. Eins ist sicher, dass in Ungarn die jüdische Frage oder der Antisemitismus auch jetzt eine sehr starke Rolle spielt, und zwar nicht nur prinzipiell und ideologisch, sondern im alltäglichen Denken der Menschen und in der Beurteilung der Wertereignisse.

    Schossig: Sie haben es ja als Schriftsteller in den letzten Wochen - es ist ja kaum länger als einen Monat her - durchexerziert. Wegen der lässigen Haltung der Führung des Ungarischen Schriftstellerverbandes gegen einen erstaunlichen Antisemitismus in den eigenen Reihen zusammen mit an die 100 Autoren haben Sie den Verband verlassen. Dieses Wort von Kornél Döbrentei vom Holocaust gegen das ungarische Christentum erregte hierzulande auch mehr als Kopfschütteln. Woher eigentlich dieses dumpfe antisemitische Denken?

    Eörsi: Erst mal möchte ich sagen, dass diese Äußerungen von Kornél Döbrentei, der ein ganz unbedeutender Kerl ist, gar nicht neu sind. Schon 1990 hat der viel bessere und angesehene Schriftsteller Sandor Csoóri geschrieben, dass jetzt das erste Mal ist, dass die Juden die Ungarn assimilieren würden, die liberalen ungarischen Juden haben das Ungarntum assimiliert. Dazu haben sie im Parlament sich ein Podium gezimmert. Das bedeutet, dass schon damals die Ungarn jüdischer Abstammung als Nichtungarn aufgefasst waren, als Feinde von Ungarn, als Verkörperung einer nichtungarischen Ideologie, sagen wir, Liberalismus, später auch Sozialismus und Kommunismus. Das ist eine ganz alte Geschichte, die meines Erachtens zwei Gründe hat, aber ich glaube, ich habe da auch eine ganz besondere Meinung, die hier auch nicht akzeptiert ist. Erstens wird die geschichtliche Ursache akzeptiert, dass in Ungarn und in ganz Ostmitteleuropa die Verbürgerung sehr spät zu Stande gekommen ist. Das hatte geopolitische Gründe, über die ich jetzt nicht sprechen will, weil wir keine Zeit dazu haben. Aber das bedeutete, dass auch das ungarische Bürgertum gar nicht erst mal zu Stande gekommen ist. Die Bürger waren Deutsche oder Juden. Als die verarmte Adels-Jugend dazu gezwungen war, in die Städte zu strömen, dann hatten sie da als Konkurrenten die Juden gefunden, ein feindliches, fremdes und gehasstes Element in ihren Augen. Das waren die historischen Gründe.

    Schossig: Heute bezeichnet man ja die Juden interessanterweise in Ungarn als Minderheit. Das ist ja ein demokratisches Problem anscheinend. Minderheit gilt als Synonym für jüdisch. Was muss denn in Ungarn geistig, kulturell geschehen? Was können die Schriftsteller und Intellektuellen tun, um diese Strömungen einzudämmen, diese antidemokratischen, ultrarechten?

    Eörsi: Da könnte ich Ihnen jetzt nur Phrasen sagen. Man muss anständig arbeiten, und man muss diskutieren. Ich halte es für einen großen Hindernis für eine gute Diskussion, dass in Ungarn wie auch in Deutschland die jüdische Frage und die Frage von Israel zusammengemischt werden. Man muss erst mal Antisemitismus und andere rassistischen Ideologien ganz streng von politischen Problemen trennen, so gut es geht, denn natürlich kann man es nicht absolut trennen. Das ist die eine Sache. Zweitens gibt es hier einen großen Aufholungsbedarf. Damit meine ich nicht nur die Judenfrage, das wäre auch kontraproduktiv. Der ganze Rassismus, der ungarische Nationalismus und der Klerikalismus, diese drei schrecklichen Erbschaften der kontrarevolutionären Vergangenheit, die alle zusammen können nur besiegt werden, nicht einzeln. Da, glaube ich, dass der Beintritt zu Europa eine sehr große Hilfe wird, um diese Isolationsbefürchtungen von Ungarn aufzulösen und die ungarischen Gebiete, die auch außerhalb der ungarischen Grenzen sind, zusammenbinden, nicht durch Gewalt. Ich glaube, das wird auch für die jüdische Frage von Vorteil sein, dass die nationalistischen Ideologien und die Leidenschaften da ein bisschen gestillt werden.