Montag, 20. Mai 2024

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Wilde Reise durch die Nacht

Eine "wilde Reise durch die Nacht" tritt so mancher unvermutet an, kaum dass er die Bettdecke über die Ohren gezogen und die Augen geschlossen hat. Im Traum verrühren sich Wünsche und Ängste, frische Eindrücke des Tages und verblasste aus längst vergessener Zeiten zu einem verrückten Wirbel, der keiner Logik gehorcht und sich keiner Erklärung zugänglich zeigt, schon gar nicht dem mechanistischen Instrumentarium der Psychoanalytiker. Nicht jeder träumt gleich farbig. Um das zu erleben, was dem zwölfjährigen Helden in Walter Moers' neuem Roman zustößt, muss man über die unermessliche Phantasie dieses Autors verfügen. Gustave, der Träumer dieser "Wilden Reise", trifft schon auf der zweiten Seite einen "Siamesischen Zwillingstornado", der sein Schiff zerschmettert und seinen kleinen Kapitän mit dem Tod konfrontiert. Der tritt leib- oder vielmehr skeletthaftig auf, zeigt sich gesprächsbereit und gewährt ihm nach längerer Diskussion sogar eine Gnadenfrist: Sechs Aufgaben muss er bis zum Morgengrauen erfüllen, wenn er weiter leben will. Und die erfüllt Gustave, in dem rasanten Tempo, das der Leser aus Moers' vorangehenden Büchern "Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär" und "Ensel und Krete" kennt: Alle paar Seiten ein neues Ungeheuer, immer neue Todesgefahr und wunderbare Errettung, und niemals geht es so weiter wie erwartet. Ein unhörbar meckerndes "Ätsch!" des Autors durchzieht die Seiten, aber diese Schadenfreude macht allen Spaß.

Martin Ebel | 19.10.2001
    Da ist etwa die "Insel der gepeinigten Jungfrauen", auf der Gustave einen Drachen erlegen soll. Klassisches Motiv, kennt man, sagt der Leser und lässt schon die Mundwinkel etwas hängen - bis er erfährt, dass auf dieser Insel kriegerische Amazonen aus Drachen Hackfleisch machen und noch mehr: Sonnencreme aus Lindwurmtran, Kämme aus Schuppen, Saft aus Blut und Wurst aus der Zunge. Das Exemplar, das Gustave auftragsgemäß absticht, war dressiert, also kostbar, und die "befreite" Jungfrau zeigt sich höchst verärgert über den Verlust ihres Haustieres. Bei der nächsten Station, im Gespensterwald, prescht ein böser schwarzer Ritter auf den kleinen Helden zu; aber er zerfällt urplötzlich in Stücke, und die Gespenster selbst lassen sich beschwatzen. Statt Gustave an den Beinen aufzuhängen und seine Leber zu fressen, wie angedroht, feiern sie mit ihm ein absonderliches Fest.

    Das "Schrecklichste Aller Ungeheuer", ein gigantisches schweinernes Flugobjekt "mit den Vorderklauen einer Echse, den Hinterbeinen einer Ziege, dem Schwanz einer Schlange und den Schwingen eines Adlers", erweist sich gar als Helfer in der Not: Es nimmt den Jungen mit auf eine Kreuzfahrt durchs Weltall. Und auch dort geht's anders zu, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt: "Im Weltall gibt es alles", lernt Gustave, also auch Luft zum Atmen und Schall zum Hören, und neben den bekannten Schwarzen Löchern noch Rote, Weiße und solche von unbechreiblicher Farbe. Die unendlichen Weiten des Alls sind leicht zu bewältigen, wozu gibt es schließlich die "Galaktischen Gullys"? Das sind kosmische Abkürzungen, "Paternoster in die Zukunft, Rutschbahnen ins Übermorgen".

    Irgendwo dort, Milliarden Lichtjahre entfernt, befindet sich der "Korridor der Möglichkeiten", wo in "futuristischen Eventualitätswaben" alle denkbaren Existenzen aufbewahrt werden; die vergangenen, die gegenwärtigen, die zukünftigen und auch die nie realisierten. Hier begegnet Gustave sich selbst als altem Mann, mit Schnurr- und Spitzbart, Schwert und Lanze, in einem Lehnstuhl sitzend und von Fabel- und Phantasiewesen umgeben. Dieser Mann sieht aus wie Dorés "Don Quijote" - und es ist Dorés "Don Quijote", so wie alle anderen Illustrationen in Walter Moers' neuem Roman von dem legendären französischen Künstler stammen, der in nur 51 Lebensjahren große Teile der Weltliteratur illustriert hat, von der Bibel über Dantes "Göttliche Komödie" zu Balzacs "Tolldreisten Geschichten", von Lafontaines Fabeln über 1001 Nacht bis zum "Raben" von Edgar Allan Poe.

    Moers' "Wilde Reise durch die Nacht" ist eine Hommage an Gustave Doré, den er wohl als eine Art Kollegen betrachtet, denn in einem informativen Anhang bezeichnet er ihn wegen seiner illustrierten Geschichte des Krimkriegs als "einen der ideenreichsten Vorläufer des Comicstrips". Moers selbst ist ja durch das "Kleine Arschloch" und die "Adolf"-Bände zum Star der deutschen Comic-Szene, zu einer Kultfigur auch und gerade für Intellektuelle avanciert. Ob er nicht eigentlich als Prosaschriftsteller bedeutender ist, kann ebensowenig entschieden werden wie die Frage, für wen seine Romane geschrieben sind. Für Kinder? für Erwachsene? für große Kinder? für kindliche Erwachsene? Moers selbst schert sich wenig um solche Fragen, mit Recht: Dieser Gustave wird sein Publikum finden - oder schaffen, wie es dem Blaubär schon gelungen ist.

    Naive, das heißt: unverdorbene Leser finden in dieser "wilden Reise" alles, was den Puls auch in bequemster Sofaposition in die Höhe treibt, und professionell verdorbene Leser werden sich der Bewunderung nicht enthalten können über das, was dem Autor zu den ausgewählten Illustrationen alles eingefallen ist. An Bildern entlangzuschreiben: Das ist als Herausforderung den sechs herkulischen Aufgaben des Todes durchaus vergleichbar. Deren letzte lautet übrigens, den Tod zu zeichnen, was Gustave vorzüglich gelingt - jedenfalls in seinen eigenen Augen. Da der Tod aber keine hat, sondern nur leere Augenhöhlen, verfällt das Porträt einem vernichtenden Urteil und Gustave dem ungebremsten Absturz auf ein Pariser Straßenpflaster. Unsanft geweckt fühlt sich hier auch der Leser. Aber ist man nicht immer enttäuscht, wenn man aus einem tollen Traum erwacht? Und wie erst aus einem genialen Traum!