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Wilder Ritter der Fantasie

Im schönen Meer der Heiterkeit bewegt sich Rolf Bauerdicks Roman. "Wie die Madonna auf den Mond kam" ist eine parodistische Paraphrase der Geschichte Rumäniens während der kommunistischen Ära, die sich genauso gut als Paraphrase des Sowjetimperiums verstehen lässt.

Von Ursula März | 06.12.2009
    Nehmen wir einen Stapel deutschsprachiger Bücher zur Hand, die in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen sind: Der ehemalige Profifußballspieler Sebastian Deisler erzählt von Depressionen, die seine sportliche Karriere abschnitten. Die ehemalige Gefängnisärztin Regina Strehl erzählt, was sie in der "Welt hinter Gittern", so der Titel ihres Buchs, erlebte. Die Fernsehautorin Marion Gaedicke erzählt in "Wunschkind" die Geschichte der Adoption ihres Kindes. Der ehemalige Stasi-Beauftragte Joachim Gauck erzählt in "Winter im Sommer, Frühling im Herbst" aus seinem autobiografischen Erfahrungsschatz, wie auch der Schauspieler Jan Josef Liefers, der Rockmusiker Peter Maffay, der Designer Wolfgang Joop. Stefan Aust erinnert sich in "Deutschland, Deutschland" an seine Erlebnisse in der Wendezeit. Walter Kohl berichtet auf faszinierende Weise über ein Leben ohne Geruchssinn. Faszinierend, interessant oder bedeutsam sind viele der Erfahrungen, die in solchen Büchern mitgeteilt werden. Allerdings: Sie orientieren sich allein am Selbsterlebten, am Empirischen. Sie folgen dem Prinzip der Zeugenschaft. Nun haben wir es bei den aufgezählten Titeln mit erzählenden Sachbüchern zu tun, nicht mit Literatur im eigentlichen Sinn, mit Romanen, Novellen, Kurzgeschichten. Aber unübersehbar wird auch die neuere Belletristik vom Konzept der Zeugenschaft zunehmend stärker geprägt als vom Gegenkonzept, dem der Imagination, der fiktionalen Fantasie. Nicht umsonst sind authentische Familienromane, Bildungs- und Adoloszenzgeschichten besonders erfolgreiche Genres der Gegenwartsliteratur. Wer indes die erste der über 500 Seiten des Romans "Wie die Madonna auf den Mund kam" von Rolf Bauerdick gelesen hat, weiß, dass ihn hier etwas ganz anderes erwartet: Keine gezähmte Nacherzählung von Erlebtem, sondern ein wilder Ritter der Fantasie.

    Dass die Visionen des Ilja Botev nicht der lichten Gabe des prophetischen Sehens entsprangen, sondern dem Wahn eines irrlichternden Verstandes, daran zweifelte in Baia Luna niemand. Am wenigsten ich, sein Enkel Pavel. In früher Jugend hatte ich die Einbildungen meines Großvaters noch als närrische Hirngespinste abgetan, eine Folge des Einflusses, den der Zigeuner Dimitru Gabor auf ihn ausübte, der sich um die Gesetze von Vernunft und Logik nicht besonders scherte. In späterer Zeit jedoch, als der Boden des gesunden Urteilsvermögens unter Großvaters Füßen dünner und zerbrechlicher wurde, hatte ich gehörigen Anteil daran, dass sich der Alte immer heilloser im Netz seiner Fantasmen verspann.

    Der Weltatlas kennt einen realen Ort namens Baia Luna nicht. Er liegt auf der Landkarte der literarischen Erfindung und besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit Gabriel Garcia Marquez´ fiktivem Macondo aus "Hundert Jahre Einsamkeit", wo ein Dorf als Weltbühne und eine Dorfgemeinschaft als Ensemble der menschlichen Komödien und Tragödien fungiert. Allerdings ist es in Baia Luna erheblich kälter als in Macondo. Denn Baia Luna liegt in den transmontanischen Karpaten. Die Karpaten, der Gebirgszug, der Rumänien säumt, kennt man. Aber Transmontanien? Es liegt nahe, dabei an Transsylvanien zu denken. So hieß einst und heißt in allen Graf-Dracula-Geschichten bis heute das gebirgige Land in den Karpaten, aus dem Siebenbürgen hervorging und das zu Rumänien gehört. Baia Luna, der Hauptschauplatz von Rolf Bauerdicks Roman "Wie die Madonna auf den Mond kam", ist ein parabelhafter, symbolischer Ort in einem parabelhaften osteuropäischen Staat, der mit dem realen Rumänien einige Verwandtschaft besitzt, auch wenn er nicht so heißt. Mit diesem Ereignis beginnt die Binnengeschichte des Romans. Der Ich-Erzähler ist Pavel Botev, Enkel jenes Ilja Botev

    In Baia Luna lebten in den fünfziger Jahren zweihundertfünfzig Menschen, die sich auf dreißig Häuser verteilten. Im Südosten ragte der Mondberg mit der Wallfahrtskappelle der Madonna vom Ewigen Trost auf, im Westen wurde das Dorf von dem mächtigen Felsengebirge der Karpaten begrenzt, während sich in nördlicher Richtung die dörflichen Weiden und Felder erstreckten, bevor sich das Auge in der Weite der transmontanischen Hügelllandschaft verlor. Unterhalb des Mondbergs floss die Tirnava. Im Frühling nach der Schneeschmelze verwandelte sich der Fluss in einen tosenden Strom, in den heißen und trockenen Sommern hingegen schrumpfte die Tirnava zu einem dünnen Rinnsal fauligen Wassers, aus dem die Fische an Land sprangen, um nicht zu ersticken. Folgte man dem Flusslauf, so kam man an dem hölzernen Wegkreuz vorbei, das an das Unglück im Schneesturm des Winters 1935 erinnerte, und gelangte zu Fuß in anderthalb Stunden in das Nachbardorf Apoldasch.

    Fabeln und Fakten vermischen sich zu einem großen erzählerischen Karneval mit folkloristischen Zügen. Auch in der historischen Realität war der 4. Oktober 1957 der Tag, an dem die Sowjetunion Sputnik, den ersten künstlichen Erdsatelliten ins All schoss. Mit diesem Ereignis beginnt die Binnengeschichte des Romans, der von Pavel Botev aus der Rückschau erzählt wird. Er ist der Enkel jenes Ilja Botev, dem der Roman den größten Anteil farbiger Hirngespinste verdankt. Pavel war 1957 ein 15-jähriger Junge, alt genug, um zu wissen, wann und wo sich Witze über den toten Stalin verbieten und wann nicht. Jung genug, um die Geschichten, mit denen der Großvater sich von Baia Luna aus die Welt erklärt, für bare Münze zu nehmen.

    Könnte man wie die Gottesmutter, die ja bekanntlich in leiblicher Gestalt in den Himmel aufgefahren sei, vom Mondberg aus fortfliegen, so erklärte mir Großvater, lande man schwerelos irgendwann in Amerika. Dabei streckte er den Arm aus und wies in die Richtung, wo er die Wolkenkratzer einer Stadt vermutete, die er "Nuijorke" nannte. Diese großartige Stadt, so Großvater, dränge sich als Ziel einer derartigen Flugreise geradezu auf. Das habe ihm auch Dimitru bestätigt, der erklärt hatte, mit dem geografischen Raum zwischen den Orten Baia Luna und Nuijorke verhalte es sich wie mit dem Spannungsfeld eines elektrischen Magneten - Plus und Minus, wobei der eine Pol ohne den anderen zur Leere des Nichts verurteilt sei. So gesehen erlaube Baia Luna dem amerikanischen Nuijorke überhaupt erst, groß zu erscheinen. Von Großvater erfuhr ich, dass sich der Amerikaner qua seines Freiheitsnaturells niemals mit Kleinigkeiten abgebe und grundsätzlich nur in zyklopischen Maßstäben denke. Der Amerikaner baue die höchsten Häuser der Welt, drehe die besten Zigarren und habe zur Ehre der Gottesmutter die kolossalste aller Marienstatuen errichtet, vor den Toren von Nuijorke, mitten im Wasser. Maria garantiere den Bewohnern der Wolkenkratzer Frieden, Wohlstand und Schutz vor den Attacken der Feinde. Die brennende Fackel in ihrer Hand weise nicht nur Schiffen aus aller Welt den Weg, die zerrissenen Ketten zu ihren Füßen verhießen dem Ankömmling auch die Freiheit von jeglicher Knechtschaft. Deshalb trage sie einen Strahlenkranz um ihr Haupt, wobei jede einzelne der sieben Zacken größer sei als der Kirchturm von Baia Luna. Die Zahl sieben hatte Dimitru gedeutet als die sieben engsten Vertrauten Marias, wobei Gottvater, ihr Sohn und der Heilige Geist für die Gefilde des Himmlischen, die vier Evangelisten für irdische Belange zuständig seien.

    Die Logik ist närrisch, aber, vom Jahr 1957 aus gesehen, prophetisch. Mitten im Kalten Krieg schwadronieren die Senioren eine Art schicksalshafte Städtepartnerschaft zwischen einem Karpatendörflein des Ostblocks und der Hauptstadt des Westblocks herbei. Die Ausgangsepisode des Romans nimmt auch das Ende des rumänischen Despoten Nicolae Ceausescu vorweg, der im Dezember 1989 gemeinsam mit seiner Ehefrau gefangen genommen, im Schnellverfahren wegen Massenmordes verurteilt und unmittelbar anschließend exekutiert wurde. Nichts anderes als einen Tyrannenmord soll der 15-jährige Romanheld Pavel Botev im Auftrag seiner Schullehrerin begehen. Zumindest versteht er es so. Barbu, so der Umgangsname der etwas verschrobenen Lehrerin, hatte in der Vergangenheit ein Liebesverhältnis mit einem gewissen Stefan Stephanescu, der indes seine Liebesfähigkeit nicht auf eine Frau allein beschränkte. In Barbu glimmt seit Jahren das Feuer weiblicher Rache. Nun, einen Tag nach dem historischen Ereignis des Sputnik-Starts, bringt ein Kurier aus der Kreisstadt Kronauburg ein Paket in die Schule von Baia Luna. Es enthält ein Porträt des neuen Kronauburger Parteisekretärs, das im Klassenzimmer aufgehängt werden soll. Es zeigt niemand anders als Stefan Stephanescu.

    Die Barbu verzichtete auf die Landeshymne. Stattdessen öffnete sie das graue Paket und packte ein gerahmtes Bild aus. Obwohl es handwerklich geschicktere Burschen gab, bat sie ausgerechnet mich, das Bild an die Wand zu nageln. Rechts neben den energisch dreinblickenden Präsidenten Gheorghiu-Dej, den die Männer aus Baia Luna hinter vorgehaltener Hand respektvoll den "kleinen Stalin" nannten. Mürrisch ging ich nach vorn und stieg auf einen Stuhl. Unruhe machte sich in der Klasse breit. Angela Barbulescu reichte mir einen Hammer und ein Porträt in mattgoldenem Rahmen. Ich beugte mich hinab, um die Fotografie entgegenzunehmen. Mich wehte der gleiche Duft von Rosen an wie an dem schrecklichen Abend auf dem Sofa in ihrer Wohnstube. Sie flüsterte mir etwas zu. Ich begriff die Wucht ihrer Worte nicht sogleich. Zwei knappe Sätze nur. Trotz des Stimmengewirrs vernahm ich sie deutlich. Ihr Sinn jedoch entfaltete sich erst zeitverzögert. Ich hielt das Bild hoch, um zu schauen, wo ich den Nagel ansetzen musste. Dann erkannte ich, wen ich an die Wand heften sollte. "Schick diesen Mann zur Hölle, vernichte ihn!". Der Hammer rutschte mir aus der Hand und knallte auf meinen Zeh. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich. Ich fiel vom Stuhl. Die Klasse tobte vor Schadenfreude. SCHICK DIESEN MANN ZUR HÖLLE. VERNICHTE IHN! Ich kannte die Person auf dem Bild. Ich hatte den Mann, der mich mit gewinnendem Lächeln anblickte, schon einmal gesehen. Nur glänzte sein Haar jetzt nicht pomadig, und die Krawatte saß korrekt an ihrem Platz. Am unteren Bildrand war der Spruch aufgeruckt: "Kinder sind unsere Zukunft". Es war der Mann mit den vielen Verlobten. Der Mann, für den die Barbu in glücklicheren Zeiten ihren Kussmund gespitzt hatte. Der Mann, den sie aus dem Foto herausgebrannt hatte, dessen verbliebene Hälfte in meinem Zimmer im KAPITAL von Karl Marx steckte.

    Baia Luna ist ein Mikrokosmos, in dem sich, gleichsam im Verkleinerungsmaßstab, der Makrokosmos der rumänischen Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Diese literarische Methode des Miniaturmodells besitzt den sowohl komischen als auch subversiven Effekt des Schelmenromans: Große Geschichte wird hier gleichsam von unten, aus der Kinder- und Zwergenperspektive besichtigt und buchstäblich unterwandert. Der sozialistische Personenkult gerät dabei von ganz allein zur Lächerlichkeit. Die Untertanen erobern sich in der Märchenform der zeithistorischen Parabel die Macht der Interpretation zurück. In der deutschen Nachkriegsliteratur gibt es für das poetologische Verfahren, dessen sich der 1957 geborene Autor Rolf Bauerdick in seinem Romandebut "Wie die Madonna auf den Mond kam" ein berühmtes Vorbild, nämlich "Die Blechtrommel" von Günther Grass, ein barocker Schelmenroman, der 1959 erschien und just in diesem Jahr sein 50. Jubiläum feiert. Hier wie dort, bei Grass wie bei Bauerdick, trägt ein junger Pfiffikus die Romanhandlung. Hier wie dort tendiert das Erzählprogramm zur überbordenden Fülle von Episoden und Figuren. Ein Hauptschauplatz des Romans "Wie die Madonna auf den Mond kam" ist schon deshalb die Schankstube von Ilja Botev, weil sich dort das Dorfvölkchen samt seiner ungarischen Minderheit und den Zigeunern versammelt und sich bei Wein und Gesang jene Turbulenz einstellt, deren Handschrift den ganzen Roman prägt. Eine der schönsten Szenen des Romans, die Premiere des ersten Fernsehgeräts von Baia Luna, spielt sich als kollektives Spektakel ab.

    Plötzlich erklang aus dem Lautsprecher ein Streichorchester. Die Männer applaudierten und klopften sich auf die Schultern. Dimitru strahlte, kniete nieder, küsste den Bildschirm, zuckte dann aber entsetzt zurück. "Strom", rief er und rieb sich verängstigt die Lippen. "Die ganze Kiste ist voll Strom". – "Wir nutzen die Kiste als Radio", bestimmte Petre Petrov. Dimitru beruhigte sich. "Bene bonus. Ein Fernseher mit Ton ist immer noch besser als ein Radio ohne Bild". Niemand widersprach. Es tutete einige Male, dann ertönte ein Gong. "Es ist siebzehn Uhr." Sodann kündigte eine sonore Männerstimme eine Ansprache des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Bei flimmerndem Bildschirm hörten wir die Stimme Nikita Sergejewitsch Chruschtschows, über die sich die Worte des Übersetzers legten. "Von nun an muss die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden. Mit Sputnik hat ein neues Zeitalter begonnen. Und wir haben dieses Zeitalter eingeläutet. Wen interessiert denn noch dieser Fernsehhund Lassie, wo unsere Laika schon hundertmal die Erde umkreist hat. Amerika ist besiegt". Erregt sprang Großvater auf: "Niemals".

    Rolf Bauerdick kennt die Welt. Bevor er seinen ersten Roman vorlegte, arbeitete er viele Jahre als Reporter, veröffentlichte Text- und Bildreportagen in europäischen Tageszeitungen und einer Reihe renommierter Magazine. In 60 Ländern war Bauerdick unterwegs. Man merkt seinem Roman an, welches Vergnügen es ihm bereitete, das Archiv all der in den Reporterjahren angesammelten Geschichten, Anekdoten und Skurrilitäten zu öffnen, in die Erzählung zu flechten und literarisch zu verwandeln. Bisweilen teilt er die Schätze etwas zu großzügig aus, bisweilen neigt die auf den Mond gekommene Madonna zur literarischen Balkanisierung, zum Folkloristen. Das Schelmenhafte verliert in dem Maße an subversiver Schubkraft, wie es vom Putzigen gebremst wird.

    Um mit den optischen Apparaten in Baia Luna kein Aufsehen zu erregen, schleppte ich sie im Schutz der Nacht in unser Warenlager, Ilja und Dimitru brannten vor Ungeduld, ihr Fernrohr zum Einsatz zu bringen. Was war geeigneter, um den Aufenthaltsort Marias auf dem Mond zu erkunden als der Gipfel des Mondbergs? Am liebsten wären sie gleich zu ihrer Expedition aufgebrochen, aber nachmittags zogen regelmäßig Wolken auf, hinter denen sich nachts der Sternenhimmel verbarg. Dennoch verharrten die beiden nicht in Untätigkeit. Um sich mit dem Terrain auf dem Erdtrabanten vertraut zu machen, beugten sie sich über der Karte "Maria et Monti Lunae" den Rücken krumm. Mit Bleistift, Lineal und Zeichenzirkel stellten sie verschiedenste Berechnungen an, um bereits vor dem Blick durch ihr Teleskop potentielle Aufenthaltsorte Marias auf spekulativem Wege einzugrenzen. Als Dimitru mithilfe eines lateinischen Wörterbuches sämtliche Eintragungen auf der Mondkarte übersetzt hatte, fällte er seine Entscheidung. "Maria thront im Mare Serenitates". - "Wo?", fragte Großvater. – "Im Meer der Heiterkeit. Alle anderen Meere können wir exkludieren".

    Im schönen Meer der Heiterkeit bewegt sich auch Rolf Bauerdicks Roman. "Wie die Madonna auf den Mond kam" ist eine parodistische Paraphrase der Geschichte Rumäniens während der kommunistischen Ära, die sich genauso gut als Paraphrase des Sowjetimperiums verstehen lässt.

    "Was macht dich so sicher? Der Mond ist groß", wandte Ilja ein. "Mare Imbrium, Mare Humorum, Mare Nubium. Die Selige kann bei ihrer Himmelfahrt überall gelandet sein. Das heißt, wir müssen sie überall suchen, außer im Mare Moscoviense. Um das Russenmeer wird sie natürlich einen Bogen machen".

    Was hier beschrieben wird, ist nicht nur eine irrwitzige, als Mondlandung endende Himmelfahrt der christlichen Gottesmutter, sondern die Poetik des Romans selbst: der freie und sehr weite Flug der Fantasie. Das Leitmotiv des Buches ist das Fernrohr des Großvaters, der von der Erde aus die Verhältnisse auf dem Mond beobachten will. Denn genau dorthin, auf unseren Nachbarplaneten, projiziert der Roman das irdische Leben. Erde und Mond verhalten sich zueinander wie naturalistischer und magischer Realismus. Und letzterer darf in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als Mangelware gelten. Einiges ließe sich an Rolf Bauerdicks Erstling kritisieren: Im Schwung des Fabulierens unterlaufen ihm schon mal stereotype Formulierungen, in einige Motive ist er allzu verliebt und verwendet sie über Gebühr, unter anderem das entscheidende Mondmotiv. Man nimmt die kleinen Schwächen zur Kenntnis - aber man nimmt sie dem Roman nicht übel. Die eindeutig überwiegen Lust am Fantastischen, Unterhaltung und Amusement. Auf der Landkarte der Literatur hat sich Baia Luna, die komische kleine Mond-Bucht mit ihren spleenigen Bewohnern, einen Platz erobert. Eine Lektürereise in das Örtchen lohnt sich ohne Frage.

    Rolf Bauerdick: "Wie die Madonna auf den Mond kam" Roman.
    DVA München, 2009. 528 Seiten. 22,95 Euro