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Wildes Mississippi

Der Pascagoula River im US-Bundesstaat Mississippi mündet in den Golf von Mexiko mündet. Seine Uferzonen mit dem weit verästelten System von Seitenarmen und Bayous sind ein nahezu unberührtes Refugium mit einer einmalig reichen Artenvielfalt.

Von Rudi Schneider |
    Gautier oder Go-shay, wie die Einheimischen sagen, ist eine idyllische Kleinstadt and der Mündung des Pascagoula River in den Golf von Mexiko, die 1867 von Fernando Upton Gautier gegründet wurde. In beschaulichen Seitenarmen des Flusses befinden sich eine Reihe kleiner Landungsstege und Rampen, um Boote zu Wasser zu lassen

    Unser Boot ist flach und gleitet unter uralten Eichenbäumen sanft an der sicheren Hand einer Südstaaten Lady ins Wasser. Während aufgeregt Möven im Tiefflug um uns kreisen, wirft uns die Lady einen einladenden Blick zu.

    "Mein Name ist Captain Kathy Wilkinson. Ich möchte Sie einladen, mich auf einer Bootsfahrt durch das Marschland und Sumpfgebiet des Pascagoula River zu begleiten. Unsere Fahrt führt uns 22 Meilen durch verschiedene Bereiche einer noch unberührten Flusslandschaft mit einer außergewöhnlichen Flora und Fauna. Genießen Sie diesen wunderschönen Tag.""

    Captain Kathy hat sich mit dem Kapitänspatent einen Lebenstraum erfüllt, der zwei Teile hat. Der eine Teil ist der Spaß, ein Boot verantwortlich in den Küstengewässern führen zu können. Und der andere Teil besteht in ihrer Leidenschaft, Besuchern eine der unberührtesten und ursprünglichsten Wasserlandschaften Amerikas zeigen zu können.

    ""Wir durchqueren jetzt ein Gebiet, das weitflächig von hohem Gras bewachsen ist. Das sind einerseits einheimische Gräser, aber andererseits auch Pflanzen, die möglicherweise mit den Schiffen aus fernen Ländern hierher gekommen sind. Beide Arten wachsen hier ringsrum im Verdrängungswettstreit um Nährstoffe. Diese beiden Grasarten sind die Hauptbewohner im unteren Marschland, andere werden wir später kennenlernen."

    Maschlandschaften, wie die im Mündungsdelta des Pascagoula River, haben ihre sehr eigene Atmosphäre. Man kann sich leicht in den seichten Kanälen und unzähligen Seitenarmen verlieren, weil das hohe Sumpfgras in großen Flächen wächst, so weit das Auge reicht. Plötzlich taucht vor uns ein gestrandetes Segelschiff mit den Ausmaßen einer Gorch Fock auf. Von Captain Kathy erfahren wir, dass Hurricane Kathrina den stolzen Dreimastsegler auf seiner Flutwelle weit hier ins Marschland getragen hat, wo es seit Jahren festliegt und von der üppigen Natur immer mehr vereinnahmt wird. Während das Geisterschiff wieder im Marschgras verschwindet, sind es platschende Geräusche, die uns neugierig machen.

    "Der Fisch, den wir gerade springen sahen, ist eine Meeräsche. Wir nennen sie hier "Jumping Jack" oder "Popeye Mullet", weil sie ständig aus dem Wasser springen. Manche finden ihn ungenießbar. Ich persönlich finde ihn lecker, manche fritieren und räuchern ihn und nennen ihn dann "Biloxy Bacon"."

    Biloxy ist wie Go-Shay eine der Küstenstädte am Golf von Mexiko mit einer wechselvollen Vergangenheit. Und eine der wichtigsten Einnahmequellen seiner Bewohner ist Seafood. Die Gewässer sind eine der ergiebigsten Fanggründe für Meeresfrüchte jeder Art. Und das haben vor den Menschen bereits die vielfältigen Bewohner des Marschlandes herausgefunden erzählt uns Captain Kathy.

    "Dort drüben haben wir ein Fischadlernest. Er ist ein Raubvogel und nistet gerne auf großen, abgestorbenen Bäumen. Man findet sie in allen Kontinenten, außer der Antarktis. Sie leben ähnliche Lebensgewohnheiten, wie Adler. Manchen nennen sie auch Seeadler. Sie ernähren sich hauptsächlich von Fischen."

    Captain Kathy stellt immer wieder den Außenbordmotor aus, je tiefer wir in die Seitenarme des Pascagoula River vordringen. Manchmal herrscht minutenlang nahezu absolute Stille und wir fühlen, wie sich das Schwergewicht zwischen unseren Sinnen seltsam verlagert. Wir lauschen mehr, als wir schauen, und richten unseren Blick suchend in die Richtung der vermeintlichen Geräusche.

    "Die beiden... (Pause), die wir gerade hören... (Pause), der mit dem "Ziep-Ruf", das ist ein Meisenwaldsänger. Das sind Zugvögel, die hier im Sumpfgebiet nisten. Ihre Nester bauen sie im spanischen Moos. Das ist manchmal richtig lustig, weil das Nest lange von dem von den Bäumen hängenden Moos im Wind schaukelt. Der andere, den wir gehört haben, ist ein Zitronenwaldsänger mit gelbem Kopf. Sie bauen ihre Nester in Baumhöhlen. So laut die beiden sind, so klein sind sie und bauen ihre Nester im Frühling. Wenn ich sie höre, weiß ich immer: Es ist Frühling."

    Der Zitronenwaldsänger hüpft schon fast in greifbarer Nähe vor unseren Augen von Ast zu Ast, als hätte er Spaß am menschlichen Besuch und präsentiert stolz sein Federkleid in schillerndem Gelb. Während sich unsere Augen noch über das leuchtende Gelb freuen, haben unsere Ohren schon Kontakt zu einem Geräusch in den Baumkronen hinter uns aufgenommen.

    "Wir sehen hier viele unterschiedliche Arten von Reihern, beispielsweise den amerikanischen Graureiher oder den Krabbenreiher. Etwas seltener sind die Blau- und Grünreiher. Ach ja, ein anderer Vogel ist richtig "cool", das ist die Schwalbenweihe, die haben ein tolles Flugbild. Die meisten Vögel, die wir hier im Sumpfland sehen, sind Zugvögel."

    Das Flugbild der Schwalbenweihe, die über uns schnelle enge Kurven in den blauen Himmel schreibt, gleicht fast einer Kunstflugshow. Unterwegs schnappt sie elegant nach anderen fliegenden Insekten.

    "Am unteren Flusslauf gibt es Pelikane und auch Weißkopfadler, das sind wunderbar majestätische Vögel. Meine Favoriten sind die Eulen, ich liebe sie einfach. In den alten Bäumen leben hauptsächlich Schleiereulen und Kreischeulen, aber auch der Virginia-Uhu. Das sind unsere verschiedenen Eulenarten."

    Das ist eine "Barred Owl" - oder Streifenkauz, erklärt Captain Kathy, den wir nicht sehen, sondern nur hören. Unser Boot gleitet sanft über dunkles Wasser, dessen Oberfläche so glatt ist, dass sich die Bäume und Pflanzen am Ufer perfekt spiegeln. Das nächste Geräusch, dem wir uns nähern, erinnert an einen Zimmermann, der Holz bearbeitet.

    "Es gibt viele Spechtarten hier. Der Helmspecht ist besonders im Frühling überall zu sehen, wenn er nistet. Mein Mann hat mal ein tolles Foto geschossen, als zwei vorwitzige Helmspecht-Babies aus dem Loch im Baum schauen, das war wirklich niedlich."

    Das rythmische Klopfen des Spechts erinnert spontan an den berühmten "Woodpecker Song" der Andrew Sisters, erzähle ich Kathy, und ich fasse noch im Boot den Entschluss, das gerade aufgezeichnete Klopfen des Spechts mit dem Song zu mixen.

    Der Woodpecker ist also in der Musikkapelle der Vögel hier im Bayou der Schlagzeuger.

    Irgendwie gleiten wir mit unserem Boot von Seitenarm zu Seitenarm. Wer sich hier nicht sehr gut auskennt, hat schnell die Orientierung verloren. Captain Kathy erzählt, dass sie sich viel an markanten Bäumen orientiert.

    "Wir haben die Zypressen und den schwarzen Tupelobaum. Und hier, das ist ein roter Gewürzlorbeer, die sind im Sumpfgelände sehr verbreitet. Die Blätter kann man in der Küche als Gewürz verwenden."

    Auf einem morschen Baumstamm vor uns, der halb im Wasser liegt, sonnt sich eine ganze Wasserschildkrötenfamilie. Schildkröten sind nur eine Art von vielen Amphibien, die sich diesen Lebensraum am Cascagoula River teilen.

    "Wir haben viele unterschiedliche Säugetiere, die am Ufer und im Wasser leben. Beispielsweise Otter, Bieber oder Waschbären. An manchen Stellen gibt es auch Bisamratten. Wildschweine leben tatsächlich auch in dieser Wildnis. Und sie sind verwüsten die Pflanzenwelt stellenweise sehr heftig. Die größeren Tiere sind natürlich die Alligatoren. Aber auch die Seekühe, die sind sehr, sehr selten hier. Ich habe einmal in 40 Jahren welche gesehen."

    Das ist ein amerikanischer Ochsenfrosch und er ist nur eine von vielen Krötenarten, die, was die Geräusche im Sumpfland betrifft, unzweifelhaft die Konzertmeister im Stimmenorchester sind.

    Während sich die Sonne dem Horizont nähert, verändern sich die Farben in der zunehmenden Dämmerung zu schemenhaften Bildern. Fast lautlos gleiten wir an verwunschenen Seitenarmen vorbei.

    "Ich wollte immer schon mal mit dem Kajak dort reinpaddeln. Aber ich bin etwas ängstlich wegen der Alligatoren. Wenn man denen zu nahe kommt, weiß man nie, was passiert in einem Seitenarm wie diesem."

    Auf der dunklen Wasseroberfläche sehen die Alligatoren oft aus wie Baumstämme, die im Wasser liegen. Ein besonderes Erlebnis in dieser Wasserwildnis ist auch ein Regenguss, der mitunter ganz plötzlich überrascht und eine fast mystische Stimmung erzeugt.

    "Die Indianer dachten, die Zypressen hier im Sumpf seien von Geistern bewohnt. Wenn man genau hinschaut, kann man im knorrigen Stamm oft Gesichter sehen. Mein Mann ist ganz sicher, dass sein früherer Englischlehrer einen der Bäume bewohnt."

    In jedem Fall bewohnen viele Lebewesen diese unberührte Wasserwelt. Das abziehende Gewitter hat offensichtlich alle zum großen Nachtkonzert geweckt. Die Abenddämmerung wird dann das endgültige Eintauchen in diese andere Welt, wenn unzählige Sterne, ungestört vom Streulicht menschlicher Siedlungen, wie ein Feuerwerk über dieser Wildnis funkeln. Das Nachtkonzert ist das Crescendo aller Wesen, die sich am Pascagoula River einen Lebensraum teilen, in dem wir Menschen wirklich nur Besucher sind.