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Wildwechsel mit Gleisanschluß

Daß dieses Buch heutzutage geschrieben wurde, ist kaum zu glauben. Es schert sich überhaupt nicht darum, wie heute geschrieben und gedacht werden soll, es kümmert sich nicht um Leseerwartungen und Verständlichkeit, um die Unterhaltung am Couchtisch und einen gut gebauten Plot, der einen gefangenhalten und vom Druck auf die Fernbedienung abhalten will. Dieser Autor schreibt unbeirrbar an seinem Programm, an seiner eigenen Autorsprache; er verlangt vom Leser, daß er sich in diese Sprache einarbeitet, daß er zur Schönheit dieser Sprache vordringen muß, die anders nicht zu haben ist - und diese Schönheit ist etwas Schwieriges, das immer neu entsteht und nicht sofort zu erkennen ist.

Helmut Böttiger |
    Irgendeine Handlung scheint es hier zu geben, in diesem dünnen, 125 Seiten umfassenden Buch, doch diese Handlung hangelt sich nicht an einem Strang entlang. Es erzählt auch keiner. Es erzählen verschiedene Stimmen, doch diese erzählen auch nicht unbedingt, sondern sie monologisieren, sie denken nach, sie erinnern sich. Es handelt sich augenscheinlich um die klassische fragmentarische, abgehackt moderne Prosa, mit Assoziationsschüben und Querverweisen, mit Bezugsgeflechten und Wortwiderhall - und dazwischen, an den Anfang und das Ende schieben sich in diese lyrische Prosa Passagen, die das Lyrische auch in der Zeilenform reklamieren und monologisch im Malstrom dieser Worte stehen.

    Der Autor Christian Geissler ist jedoch nicht nur einer scheinbar vergessenen Moderne verpflichtet, einer literarischen Formanstrengung. Es geht ihm auch um Inhalte, die wie ein fremder Klang von fern anmuten. Das Wort "Genossen" taucht einmal auf, und im Hintergrund schwingen in diesen Zeilen immer vergessene kommunistische Ideale mit, unangefochten von den Zeitläuften. Geissler bewegt sich mit seiner Kunstanstrengung in einem solch bizarren Abseits, daß sie kaum einer wahrnimmt: es ist bisher fast nirgendwo eine Besprechung des Buches erschienen.

    Diese Prosa changiert zwischen Realität und Fiktion, und so ist es schwer zu entscheiden, ob der Alptraum, der hier vorgeführt wird, auf die nahe Zukunft gemünzt ist oder einen Zerrspiegel des schon Bestehenden zeigt: in einem europäischen Großkapitalismus werden an den Grenzen Sammellager für die Armen errrichtet, "knallharte Pufferregionen im Eurorand", wie es einmal heißt, für die Hungernden in Afrika, Asien und dem östlichen, dahinvegetierenden Europa; die Zustände weisen in eine konkrete, weggeschobene deutsche Vergangenheit und schillern, mit schwarzen, die SS wachrufenden Uniformen in eine ungeheure Vision von Europa 2000 herüber - vorgebracht in verschiedenen Sprachen, und manchmal in einer fast biblischen, apokalyptischen:

    "Sie drehen, sagt Viet, den Strick bis er ihnen zerknallt als ihr Schrei. Eingefangen gegen den Menschen sind auch die Jäger verloren. Die den Transport bewachen, sind auf Transport. Und nun brennen und bersten die Wälder und Gänseställe und Zeitungshochhäuser und Fußballplätze und Fräsautomaten und Dreschmaschinen und Atomreaktoren und Lokomotiven. Und birst die Puppe im Bett der Enkelin. Und brennt der Rote Stern auf den Gräbern der Partisanen. Das Bersten das Brennen das Heulen der Hunger der Haß. Millionen, noch immer nicht tot, noch immer nicht kleingesprengt einzelhaft Schrott, wandern durch Feuerfluten nach einer der weißen Inseln des Friedens, aus eben welchen die Ursachen sind für all diese Raserei, und der Skin wird jagen den nackten Kurden, der Kurde wird jagen den Neger, der Neger die Negerin. Die wird nichts halten. Da werfen die weißen Zentralen Krankheiten in ihr Haar, auf ihre Haut, in die Leber der Kinder, und rasch wird gehaucht werden die Verätzung hernach der leichernen Flächen, die Löschung gesprüht aus den Mehrkopfdesinfektionsraketen aus Mannheim posthuman zivilitär wälderweit steppenweit städteweit Dorf um Dorf dampfend das Mehl aus den Augen der Macht der Verrückten. Ja vorwärts ja vorwärts! Zustimmung aus den Seniorenstiften und Supermärkten und Flugzeugwerften und Gärtnereien Schankwirtschaften und Urologien und Panzerkasernen und Pastoraten und Quizredaktionen und Küchen und Küchen und Küchen, das lassen wir uns nicht nehmen. Es ist ein Drängen, um die Leere zu zerstören. Es ist ein Drängen um die Leere. Es ist die Leere."

    Wir befinden uns im Rheiderland, nahe der holländischen Grenze, am Deich. Hier leben der alte Viet und Carola. Sie sind ein unkonventionelles Paar, ihr Leben verläuft quer zu dem der Dorfbewohner, die auf der Bank vor der Sparkasse ihr Weltbild erhärten: ein deutsches Bewußtsein, eine Traditionslinie von der Hitlerdiktatur bis heute. Was damals die Juden waren, sind heute die Asylanten und Flüchtlinge aus aller Welt, die "Armen", die im Zeichen der Globalisierung des Kapitalismus zu ewigen Reisenden werden. In den Monologen von Viet und Carola irrlichtern die Erfahrungen aus dem Faschismus herüber in die aktuellen Diskussionen, und die Realität der gegenwärtigen Ausweglosigkeiten verschwimmt mit Alptraumsequenzen, in denen das Gewesene weiterwest: Viet, Carola und ein paar wenige verstreute Gesinnungsgenossen verstecken manche dieser Armen bei sich, damit sie nicht in die Sammellager abgeschoben werden. Vor allem die Kinder sind ein Sinnbild für das Andere, das zu Rettende, und deswegen trägt dieser Text, dieser Totentanz die sarkastische Gattungbezeichnung "Kinderlied".

    Aus den Rentnern im "Sparkassenschatten" auf der Bank und den Jugendlichen mit ihren richtungslosen, umherschweifenden und gewaltbereiten Begierden tritt der junge Honken namentlich hervor: Honken fühlt sich von der Lebensweise des abgesonderten Paars seltsam angezogen, er ist fasziniert von der verlockenden, offenen Welt ohne Fensterläden und Gardinen und mit exotisch anmutenden, erotisch aufgeladenen Bildern an der Wand, die voller Sinnenlust die Wechselwirkungen von Sexualität und Gewalt thematisieren. Honken ist einer, um den die beiden kämpfen wollen, aber diesen Kampf werden sie verlieren: irgendwann tritt er ihnen, im Alkoholdunst, in einer dieser an die schwarze SS gemahnenden Lederuniformen gegenüber. Und als eines Morgens, nachdem am Abend vorher eines der Kinder mit einer jungen Katze gespielt hatte, diese junge Katze bei lebendigem Leib an einen Balken gekreuzigt aufgefunden wird, ist klar, daß der Sog der neuen Zeitbewegung auch an den beiden Kämpfern am Deich nicht spurlos vorübergehen wird. Das hämmernde Wort "Katzenkopfknochen" drängt sich immer wieder unheilverkündend in den Text.

    "Wildwechsel mit Gleisanschluß", wie der sperrige Titel von Christian Geisslers Prosa lautet, ist jedoch keine politische Kampfschrift. Die gesellschaftspolitischen Verweise sind in diesem Text erst hinter dem Klang der vielfältig durcheinander- und ineinandersprechenden Stimmen zu entziffern. Sie entwerfen ein Bild, das immer wieder verfließt und nicht zu erkennen gibt, wo der Traum aufhört und die Wirklichkeit beginnt. Es ist eine spröde Sprache: kurze, oft stakkatohafte Sätze, selten vollständig, immer rasch ein Komma, die Suche nach dem Punkt. In dieser Sprache wird auch die Landschaft am Deich beredt, die ostfriesische Küstenlandschaft: das Dorf mit seinen Einschlägen des Konsums, der Entfremdung im Edekaladen, aber auch das Moor, die Weiden, die Luft werden in knappen Strichen skizziert, setzen sich zu einer vielfach in sich gebrochenen Zeichnung zusammen.

    Der "Wildwechsel", der im Titel auftaucht, verweist auf die scheinbar unberührte Natur, auf etwas jenseits des von Menschen Bestimmten; es geht von einer konkreten Wald- und Wiesenszenerie aus, ist aber bereits in sich ein metaphorisch zu verstehendes Wort. Daß dieser "Wildwechsel" mit einem "Gleisanschluß" zusammengebracht wird, konfrontiert die Natur mit einer Gesellschaftlichkeit, die für Geissler in ganz konkreten politischen Verweisungssystemen funktioniert: im dunklen Hallraum des Wortes "Gleisanschluß" hat auch die industrielle Menschenvernichtung des Faschismus seinen Platz, ist die Rampe von Auschwitz gegenwärtig. Der Titel dieser Prosa ist vertrackt, schwingt in seiner seltsamen arhythmischen Musikalität, ist nur in einem Assoziationsstrom zu verorten.

    Das Buch besteht aus Sprachschüben, aus sprunghaft aufeinanderfolgenden Passagen. Doch sie sind unsichtbar miteinander verbunden: durch Assonanzen, durch Wortwiederholungen, durch rhythmische Anklänge. Textblöcke, die auf den ersten Blick in völlig unterschiedliche Richtungen gehen, werden dadurch auf unvermutete Weise aufeinander bezogen - wie in den folgenden Passagen, in denen sich weiße Steine und weiße Ketten aufeinanderschichten:

    "Um die Tankstelle wurden Blumen gepflanzt, auch weiße Steine gelegt, auch weiße Ketten gezogen. Und die Holzbänke auf dem Rasen gaben dem ganzen Bahnhofsterrain den Anschein einer Kurparkanlage.

    So wandern die beiden Alten dahin.

    Da stößt ein Schuß den einen Kleinen ins Gras. Unter der Kappe ist ihm der Kopf zersprungen, zart Pflaumenfeuer von Halm zu Halm. Der Überlebende tanzt um den toten Freund Haken, Lämmchen, kannst du mir nicht erscheinen? Springt hin zurück, kniet nieder unter erhobenen Fäusten den Fluch. Ihn bläht der zweite Schuß ballonleicht seidengrün. Aus der Hocke wirbelt ein Tanz der trippelnden Beinchen lustig luftig schaukelt ein Drache gefiedert.

    Still liegt das Dorf, es klirren die Schatten. Weich fallen Federn aus Eulen Flämmchen ach Lämmchen ach Lamm, ein Schaf hat vier Lämmer geboren, die Hirten tragen Fallschirmjägerjacken, jeder Bischof hat einen Krummstab, das Gelächter der Hunde erlischt im Schmauch der Zwerge, im Weiß der Fenster. Sie haben alles gesehen. Ich habe alles geträumt. Es wird nicht gelacht. Viet hält mich fest. Er küßt mich. Er schweigt. Kargow und Ole Blessi waren den Abend zuvor bei uns gewesen. Es ist kalt geworden. Wir hatten das Feld besichtigt, die brennenden Ränder, den Galgenplatz.

    Lager die Grenzen hinab und hinauf, das hat was Hübsches, die weißen Steine, die weißen Ketten von Stein zu Stein, die geraden Wegekanten schlohweiß die hohen Tore aus Holz, da laßt uns singen macht hoch die Tür, und Schluß mit der schlurfenden Herrlichkeit, und im Gleisanschluß, von Schwelle zu Schwelle, die wilden Blumen so bunt. Und rechnet sich allemal günstiger. Das ist ja auch gestern schon durchgekommen, ja ja, auf allen Programmen, der innere Kreis sei rein deutsch, Greifswald Guben Gefell Griesbach Garmisch, ja unsre Leni Riefenstahl, immer noch kühn die Reichsgletscherspalte, und Goch und Gronau, und endlich bei uns hier drüben Greetsiel, ach was denn Bürgerinitiative, die marschieren als erste hinter den Zaun, die werden wir dienstverpflichten für die Betreuung der Affen, laß sie doch Zirkus machen, ja, Lagertheater mit Händchenhalten, ja, Seil ohne Netz, ja, Westerbork!"

    Die politische Analyse und ein surrealistisch anmutender Alptraum gehen ineinander über, das Ästhetische und das Politische sind nicht voneinander zu trennen. Es ist dies "kamalattasprache": >>kamalatta << hieß ein 550 Seiten umfassender Roman, den Christian Geissler 1988 veröffentlichte - das letzte, was wir von diesem mittlerweile 68jährigen Autor gehört hatten. Es ging darin um den politischen Befreiungskampf, um persönliche wie gesellschaftliche Befreiung, und vor allem der Teil über die RAF erregte großes Aufsehen: Geissler reflektierte hier die Anstrengungen der linken Intellektuellen in der alten Bundesrepublik, sich im antikapitalistischen Kampf nicht auseinanderdividieren zu lassen - ein verzweifelt anmutender Kraftakt, etwas Pathetisches, Hochfahrendes und in sich Zerrissenes.

    Geissler hatte in "kamalatta" seine spezifische Autorsprache bis zur äußersten Konsequenz geführt: das spröde, monologische Sprechen in verschiedenen Stimmen, die Prosa als ein "durchflimmertes wirrgitter", wie es an einer Stelle einmal heißt und die in den vorangegangenen Romanen >>Das Brot mit der Feile<< von 1973 und>>Wird Zeit, daß wir leben << von 1976 entwickelt wurde. Manche Figuren aus "kamalatta" tauchen als Schemen auch in "Wildwechsel mit Gleisanschluß" wieder auf. "kamalatta" ist eine zentrale Metapher, und sie betrifft nicht nur den Roman namens "kamalatta" , sondern auch die Art und Weise, wie Geissler in seinem neuen, dünnen, konzentrierten Buch daran anknüpft. Im Klappentext zu "kamalatta" hieß es:

    "wenn hölderlin in seinem turm unruhig wurde, pflegte ein freund ihm griechisch vorzulesen: '...sodann aber schrie er mit krampfigem lachen: das versteh ich nicht! das ist kamalattasprache!' kalamatta: der ort, an dem der griechische freiheitskampf gegen die türken begonnen hat. kamalatta: in gebrochener und silbenverdrehter sprache verbietet sich hölderlin die offene rede von der freiheit."

    Die konsequente Kleinschreibung aus "kamalatta" hat Geissler jetzt zwar nicht mehr übernommen, aber "die offene rede von der freiheit", die gelangt in "Wildwechsel mit Gleisanschluß" ebenfalls nur durch äußerste ästhetische Anstrengung an die Oberfläche des Textes. Die konkrete politische Aktion, das gesellschaftliche Eingreifen ist hier nicht mehr, wie in "kamalatta", das zentrale Thema. In den Jahren seit 1988 scheint diese direkte Verbindung für Christian Geissler verlorengegangen zu sein. Doch er hält fieberhaft fest an dem, woran er in seinem bisherigen Lebenswerk gearbeitet hat: seinen Lebensnerv kann man nicht ändern. Der Text ist eine übersteigerte, überhöhte Koloratur, ein glühendes Alptraumbild, in dem die Hoffnungen verschwunden sind. Es ist ein Schreckensgemälde, eine apokalyptische Vision wie bei einem Hieronymus Bosch am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Manierismus der Verzweiflung. Außer bei Christian Geissler ist in der neueren deutschen Literatur höchstens noch bei Peter Weiss diese charakteristische Verbindung von radikalen linken Positionen und avantgardistischen ästhetischen Formen zu finden: Geissler jedoch ist es vorbehalten, eine vorläufige Endform dafür zu finden. Sie liegt wie ein Fremdkörper in dieser Gegenwart, quer zu allen Strömungen. Wer es auf sich nimmt, so etwas heute zu lesen, dem gibt es zu denken.

    "Es sind alte Fenster. Innen rinnt Schwadenwasser über das Glas in das Moos. Das wächst aus den Rahmenquerhölzern, die weich sind unterm zersprungenen Lack. Es ist ein zarter Zerfall, ohne Gewalt, durchflutet vom dunklen Licht eines Wintermorgens. Kein Schatten liegt auf der Welt. Sie ist ein Schatten. Weiß-schwarze Vögel schießen flach ein in die vom Winde durchwellten Wiesengewässer. Die Katze hat einen Maulwurf getötet. Tief jagen Flugzeuge Angriffsschneisen in eines Menschen Atem. Ein Lamm wird geboren zu falscher Zeit, die Tochter des Nachbarn ist zwölf Jahre alt ist tumorkrank hinkt haarlos, Graureiher fliegen laut. Alles leer alles Liebe alles geschenkt alles verloren."