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Wilhelm-Raabe-Literaturpreis für Judith Schalansky
"Sie erfindet die Dinge quasi neu"

Eine Insel im Pazifik, ein Einhorn, der Palast der Republik: In ihrem "Verzeichnis einiger Verluste" erzählt Judith Schalansky von verschwundenen Dingen. "Es ist der Versuch einer Weltrettung, gegen die Vergänglichkeit der Dinge etwas zu tun", meint Buchredakteur und Jury-Mitglied Hubert Winkels im Dlf.

Hubert Winkels im Gespräch mit Henning Hübert | 25.09.2018
    Die Schriftstellerin Judith Schalansky bei einem Gespräch im Stuttgarter zoologisch-botanischen Garten Wilhelma
    Judith Schalansky sei eine Grenzgängerin zwischen Natur und Poesie, heißt es in der Begründung der Jury (imago / Lichtgut)
    Henning Hübert: Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis geht in diesem Jahr an die Schriftstellerin, Buchgestalterin und Herausgeberin Judith Schalansky. Unter sechs Kandidaten in der Endauswahl durchgesetzt hat sie sich mit ihrem neuesten Buch "Verzeichnis einiger Verluste", das erst Ende Oktober bei Suhrkamp erscheinen wird. Der Wilhelm-Raabe-Preis ist mit 30.000 Euro dotiert und gilt als einer der bedeutendsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum. Er wird jährlich vergeben, Deutschlandfunk und die Stadt Braunschweig kooperieren dabei.
    In der Begründung heißt es: Judith Schalansky sei eine Grenzgängerin zwischen Natur und Poesie, zwischen Wissenswelten und Fantasiereichen, zwischen Zählen und Erzählen. Und sie biete mit ihrer neuesten literarischen Erzählung eine ganz neue Gattung an: die poetische Archivierung verschwundener Dinge, die so eine Wiederauferstehung in der Verwandlung erfahren.
    In der neunköpfigen Jury ist der Deutschlandfunk vertreten, mit Hubert Winkels, Buchredakteur im Dlf. Ich habe ihn zu dem Gewinner-Buch von Judith Schalansky gefragt: Was verzeichnet denn ihr "Verzeichnis einiger Verluste", was der Jury als preiswürdig auffiel?
    Hubert Winkels: Ich müsste quasi alle zwölf verschwundenen Dinge aufzählen, weil es keine auf den ersten Blick erkennbare Logik darin gibt, welche Dinge denn verschwunden sind. Es ist eine Insel im Pazifik namens Tuanaki, die es nicht mehr gibt. Der kaspische Tiger überhaupt, der ausgestorben ist. Gericke von Otto Gericke, einem bekannten Wissenschaftler aus dem frühen 18. Jahrhundert. Ein Einhorn, das wahrscheinlich keins war. Und es sind die Liebeslieder von Sappho. Wie wir wissen, ist von der Lyrikerin kaum etwas überliefert. Oder, um ein ganz signifikantes Beispiel zu nehmen, der Palast der Republik, der bekanntlich abgerissen wurde. Das sind Dinge, die auf dieser Welt nicht mehr existieren in der Form, wie wir sie gewohnt sind, aber sie sind natürlich noch im kollektiven Gedächtnis in verschiedenen Formen, zum Beispiel in Archiven oder in Bibliotheken oder auf Atlanten, auf alten Globen. Sie sind aber auch in Legenden noch da und derjenige, der sich darum kümmert, wenn er viel Fantasie hat, kann aus den übrig gebliebenen Elementen seinerseits wieder neue Kosmologien, neue Religionen oder einfach tolle Geschichten fabulieren.
    Wohin die führen, ist aber nicht zu systematisieren. Das ist bei jeder Geschichte anders. Sie schreibt über Greta Garbo aus der Perspektive von Greta Garbo, dann schreibt sie aus der eigenen Perspektive, dann aus der eines Wissenschaftlers, eines neutralen Beobachters, oft sehr, sehr wissenschaftlich, dann plötzlich wieder sehr poetisch - das wechselt.
    "Das Verlorene muss nicht vollständig repräsentiert sein"
    Hübert: In dem Ankündigungstext heißt es, dass auch sie selber, die Schriftstellerin eine der Protagonisten ist im Abseits, die ankämpft gegen die Vergänglichkeit und das ausverhandelt an der Geschichtslosigkeit der DDR. Sie ist ja selber Jahrgang 1980, in Greifswald geboren. Was kann denn damit gemeint sein, Geschichtslosigkeit der DDR anhand des Abrisses des Palasts der Republik - oder wie wird das erzählt?
    Winkels: Mit DDR hat das Ganze fast gar nichts zu tun. Sie beschreibt mal den Hafen von Greifswald. Man weiß, dass sie da geboren ist und aufgewachsen ist in der Nähe, aber das spielt keine Rolle. Und beim Palast der Republik kann man ihr Verfahren wahnsinnig gut sehen. Nämlich sie erzählt von einem Paar in der Provinz, wo die Frau, die Hausfrau erfährt, ihr Mann, der beim Militär arbeitet, ist fremdgegangen, er hat eine andere Frau geküsst. Das erfahren wir aber alles aus der Wohnküchenperspektive dieser Frau. Das einzige, worin der Palast der Republik vorkommt, ist, dass dieses Treffen des Paares, das fremdgegangen ist, in einem Restaurant im Palast der Republik stattgefunden hat. Das sind vielleicht fünf Zeilen in dem Buch oder zehn. Der ganze Rest spielt in der Wohnküche. Das ist aber das Verfahren, das sie anwendet. Das Verlorene muss nicht vollständig repräsentiert sein, sondern es muss einen Bezug geben von dem Erzählten zu dem verlorenen Objekt. Sie wählt einen kleinen Faden aus, macht eine große Geschichte. Der ist aber nur teilweise verbunden mit dem Ursprungspunkt, nämlich dem Palast der Republik. So ist das auch beim Kaspischen Tiger und so ist es bei einem Mondkartographen und so weiter.
    "Der Versuch einer Weltrettung"
    Hübert: Herr Winkels, wenn Sie jetzt mal in Ihren Bauch reinhören, sind die Dinge, die sie beschreibt, nun für Sie verschwunden oder doch noch irgendwie da?
    Winkels: Na ja, dem liegt natürlich eine allgemeine Auffassung zugrunde, dass die Dinge, so wie wir sie für präsent halten, in Ordnungen eintragen, taxonomisch-wissenschaftlich, sowieso nur deshalb existieren, weil wir sie in dieser Weise geordnet haben. Sie ist ja diese Naturkunde-Beförderin. Da sie diese Taxonomien in ihren Erzählungen ablegt, erfindet sie die Dinge quasi neu und wir fragen uns, sind die Dinge, die wir für real halten, auch historisch real, natürlich nicht auch alles nur Konstruktionen von uns, die nur so lange wiederholt werden, von der Geschichtswissenschaft oder von der Botanik oder sonst irgendwas, bis wir glauben, das sei Realität. Das löst sie auf und sie tut es aber mit sogar wissenschaftlichen Mitteln innerhalb ihrer Erzählungen, und dem liegt wirklich ein Verständnis, wenn man so will, des Konstruktivismus in der Weltkonstruktion zugrunde. Das ist ernst gemeint! Die Dinge sind noch da. Sie sind noch da, sie sind in Spuren da, sie sind in Archiven da und sie sind in Fantasien oder Erzählungen oder Konstruktionen da, wie wir mit den Resten umgehen. Sie sind einfach nicht weg und das zeigt sie, dass sie nicht weg sind, und sie beweist auch zugleich, dass sie nicht weg sind, indem sie sie auf eine verschobene Weise anwesend sein lässt. Das ist fast mehr als ein Stück Literatur im einfachen Sinne; es ist der Versuch einer Weltrettung, gegen die Vergänglichkeit der Dinge etwas zu tun.
    Hübert: Jurymitglied Hubert Winkels, begeistert von Judith Schalanskys Buch "Verzeichnis einiger Verluste". Es hat den diesjährigen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis gewonnen und kommt Ende Oktober in den Handel
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.