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Wille zur Macht

Kritischen Geistern galten die pompösen Auftritte von General Charles de Gaulle als nicht mehr zeitgemäße Zitate einer verbleichenden Operettentradition, anderen wärmten sie das Herz. Ihnen galt der General als Lichtfigur, die es geschafft hatte, Frankreich im Kreis der Siegermächte zu etablieren, und der den Franzosen nach den dunklen Jahren der Besetzung und der Kollaboration den Glauben an ihre Größe, Würde und Unabhängigkeit zurückgegeben hat. Von solchen Deutungen, ihrer Konstruktion und Dekonstruktion handelt eine Studie, die Matthias Waechter im Göttinger Wallstein Verlag herausgebracht hat. "Der Mythos des Gaullismus – Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie – 1940 – 1958" ist sie überschrieben, und Albrecht Betz stellt sie nun vor.

Moderation: Hermann Theißen |
    In majestätischem Tonfall kommt in vielen Passagen von Charles de Gaulles Erinnerungen die Idealisierung, ja Verkultung Frankreichs und seiner "Größe" zu einem beinahe religiösen Wesen daher. Wohlgemerkt die Größe Frankreichs, nicht die der Franzosen. Die Identifizierung mit dem auserwählten Land versteht sich fast von selbst: de Gaulle als Prophet, als Instrument, beauftragt mit einer rettenden Mission, der Heilsbringer und Befreier. Eine Jeanne d’Arc-hafte, transzendente Legitimität und das Pathos der Entscheidung bestimmen die Atmosphäre. De Gaulle wird eins mit seinem Mythos, an dessen Zustandekommen er keinen geringen Anteil hatte.

    Es gibt einen Jahrhunderte langen Pakt zwischen der Größe Frankreichs und der Freiheit der Welt.

    Solche Sätze erheben einen Geltungsanspruch, an den de Gaulle fraglos glaubte. Diesen Sätzen, die aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen, haftet die Aura des Heroisch-Anachronistischen an: ein lateinischer Gestus mit imperialem Akzent. Dagegen steht, was de Gaulles ehemaliger Minister, Roger Peyrefitte, notierte: der Präsident habe ihm anvertraut, er habe oft in seinem politischen Leben so "tun müssen, als ob", "faire comme si".

    Damit sind zwei wichtige Positionen der Kontroverse zwischen de Gaulles Verehrern und seinen Kritikern angedeutet: Die Kritiker werfen ihm vor, seine historische Existenz bestehe überwiegend aus theatralischer Selbstinszenierung, vor allem ein egozentrischer "Wille zur Macht" habe ihn angetrieben, viel heiße Luft habe er um sich verbreitet.

    Für die Bewunderer hingegen – und die sind bei weitem in der Überzahl – ist de Gaulle die Inkarnation des Widerstands "von Anfang an"; sein Aufruf zur Résistance vom 18. Juni 1940, einen Tag nach der von Marschall Pétain verkündeten Kapitulation, sei die Flamme der Hoffnung gewesen, irgendwann die deutschen Besatzer abschütteln, das Trauma der größten Niederlage in einer tausendjährigen Geschichte überwinden zu können. Die Geschichte habe ihm Recht gegeben und auch der Bewegung des Gaullismus, die – über die große Person hinaus – Frankreich wieder nach oben getragen habe.

    Diese, selber zum Mythos gewordene Bewegung in ihren ersten beiden Jahrzehnten auf ihre Konjunkturen hin zu untersuchen, ist das Ziel der zeithistorischen Studie von Matthias Waechter. Der Gaullismus war Programm, Heldenerzählung und Herrschaftsinstrument in einem. Er war mehr als nur erweiterter Personenkult, teilte sich phasenweise in verschiedene Fraktionen und wurde unterschiedlich stark zusammengehalten von der "Vereinigung" "Rassemblement du Peuple Francais" (RFP). Begonnen hatte die Konstruktion des Mythos, als die vereinzelten Résistance-Gruppen in Frankreich mit de Gaulle als Führer der Londoner Exilgruppe ein Symbol für die Wiederaufrichtung ihres Landes gefunden hatte.

    Nach der Befreiung 1944 erwies sich der Erneuerungsdiskurs de Gaulles während des Krieges als eher rhetorisch eindrucksvoll denn konkret umsetzbar. Jetzt rückte er die Einheit der Nation ins Zentrum seiner Reden – die Einheit unter seiner Führung, versteht sich. Nicht wenige seiner Gegner der Nachkriegsjahre sahen in diesem Anspruch nur den operettenhaften Ausdruck eines überdimensionierten Egos. Es stellte sich heraus, wie sehr die Vorstellung einer geeinten Widerstandslandschaft illusionär gewesen war, ebenso, dass das Integrationsbedürfnis keineswegs die traditionellen Gräben innerhalb einer wiedererstehenden Parteiendemokratie einfach überbrücken konnte. Gleichwohl war es de Gaulle gelungen, zwei Mythen zu lancieren, die zur Wiederaufrichtung des traumatisierten Landes beitrugen: zum einen den von der Selbstbefreiung des Landes (die tatsächlich überwiegend auf das Konto der Anglo-Amerikaner ging); zum anderen den vom "dreißigjährigen Krieg" gegen die deutsche Bedrohung (seit 1914).

    Mit dem Sieg über das Dritte Reich, 1945, konnten sich alle Franzosen als Widerständler und Sieger fühlen: die dankbare Annahme eines solchen Angebots gerade bei der Mehrzahl der früheren Mitläufer war garantiert. Die Wellenbewegungen, Scheitern und Erfolg des Gaullismus innerhalb der sich verändernden Konstellationen der Vierten Republik, nachzuzeichnen, ist Waechter in seiner Studie in hohem Maße geglückt, auch wenn man einige Details anders sieht und die geschilderte Bewegung insgesamt als weniger hegemonial in ihrer Zeit bewertet.

    Es gab auf der Linken große Vorbehalte gegen einen politisierten General als Staatschef, der – einmal gewählt – sich samt seiner "Bewegung" autoritär nach rechts bewegen würde. Das Beispiel Francos im Nachbarland Spanien flößte wenig Vertrauen ein, ebenso die eigene frühere Erfahrung mit dem General Boulanger. Bereits im Londoner Exil hatte ein emigrierter Soziologe von Rang – Raymond Aron – in einem Artikel "Der Schatten der Bonapartes" mit Hinweis auf die beiden Napoleons auf eine spezifisch französische Versuchung hingewiesen: die Neigung zum Cäsarismus. Sich mit einem linken Diskurs über die Parteien hinweg direkt an das ganze Volk zu wenden, als mythischer nationaler Held jene Mehrheit um sich zu scharen, die "ihre gewohnte Feindschaft gegenüber ihren Regierenden mit einer leidenschaftliche Begeisterung kompensiert", habe bereits Tradition. Aron warnte – immerhin schon 1943 – vor einer künftigen Reprise dieses Modells.

    Für die späteren Studenten von 1968 war genau dies längst eingetreten: In ihren Augen regierte ein autoritärer, fast achtzigjähriger Offizier, der sich von seiner Umgebung als "mon Général" anreden ließ, die Alleinherrschaft sichtlich genoss und die Demokratisierung des Landes blockierte.

    Waechters Beschränkung auf die französische Binnenperspektive bei seiner "Ent-Mythisierung" des Gaullismus ergibt einen Gewinn an Kohärenz. Sie verzichtet damit aber auf Fragestellungen wie die, welche Veränderungen das Konkurrenzverhältnis von Gaullismus und Kommunismus: Hauptträger des Widerstands gewesen (und damit vorrangig politisch legitimiert) zu sein, durch außenpolitische Einflüsse wie den Kalten Krieg erfuhr.

    Von Interesse wäre auch die Diskussion einer These von Armin Mohler gewesen, der seit 1953 als Pariser Auslandskorrespondent der Schweizer Tageszeitung "Die Tat" den kommenden Staatschef und seine Anhänger beobachtete. Laut Mohler inkarnierte de Gaulle als Politiker wie wenige die "Konservative Revolution" und einen Dezisionismus Carl Schmitt’scher Prägung, der ihn bei seiner lebenslangen Politik der Unabhängigkeit gegenüber beiden Blöcken, Ost und West, bestimmte. Dies sind Marginalien. Waechters Buch ist auch für Nicht-Zeithistoriker lesenswert.

    Matthias Waechter: Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie – 1940 – 1958. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 508 Seiten, 46 Euro.