Christoph Hein wurde berühmt, weil er in "Der fremde Freund" (in der Bundesrepublik hieß der Roman "Drachenblut") 1982 von der Einsamkeit, der Beziehungslosigkeit in der DDR schrieb, schonungslos und suggestiv - er beschrieb eine DDR, wie sie in den Medien der DDR nicht denkbar war. Als literarischer Text aber konnte es veröffentlicht werden: es sah nämlich auf den ersten Blick wie ein konventionell erzähltes Stück Prosa aus, mit Identifikationsangeboten und sozialem Touch. Man konnte glauben, dieser Text bewege sich immer noch in den Bahnen eines irgendwie gearteten "sozialistischen Realismus", so breitgetreten diese Bahnen auch waren. Christoph Hein hat in dieser Art immer weitergeschrieben, auch über die DDR hinaus. Dabei war er nie ganz so emotional an das Staatswesen, an die Macht geknüpft wie die berühmten Kollegen mit ihrer "kritischen Solidarität zur DDR", da bewegte sich etwas eher unspektakulär in den Randzonen. In dem Roman "Das Napoleon-Spiel" hat er 1993 auch den Kapitalismus mit den Mitteln der tradierten psychologischen, realistischen Beschreibung zu fassen versucht, aufgeladen mit einer genau berechneten Metaphorik. Sein neuer Roman "Willenbrock" führt dies nun auf neue Weise weiter. Schon, wenn wir den Anfang lesen, werden wir hineingezogen in eine Form, die mit den alten Mitteln von Spannungsaufbau und Verrätselung spielt: "Er kauerte vor dem kleinen, gusseisernen Ofen und hielt ein Streichholz an das zusammengeknüllte Papier und die darüber geschichteten Holzspäne. Dann schloss er die Klappe und wartete.
Als er das Knistern der Flamme hörte, öffnete er die obere Klappe und warf ein paar Scheite hinein. Er wischte sich die Finger an einem Lappen ab, der neben dem Schreibtisch lag, und setzte sich. Aus einem Schubfach holte er ein Magazin heraus und blätterte darin, während er sich mit der Hand eine einzelne Zigarette aus einer Jackettasche angelte und sie entzündete."
Das ist alles sehr kleinteilig, minuziös beobachtet, wie in einer Filmsequenz. Der Erzähler, der gleichwohl allwissend ist, hält sich mit all seinem Wissen bedeckt und gibt nur das wieder, was gerade passiert, nimmt mit seiner Kamera den Leser wie auf gleicher Höhe, mit dem gleichen Informationstand in das Geschehen hinein. Nach dem idyllisch anmutenden Genrebild mit dem gusseisernen Ofen und der Zigarette erfahren wir von einem Traum, den die Hauptfigur in der letzten Nacht gehabt hat, und dann begibt sich folgendes:
"Vor der Tür des Wohnwagens gab es ein Geräusch. Er schaute auf und sah, dass die Türklinke sich bewegte. Er stand auf, ging zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie. Vor dem Wagen standen sechs Männer, die ihn schweigend und erwartungsvoll ansahen. 'Um neun', sagte er und tippte auf seine Armbanduhr, 'um neun wird geöffnet.'
Er sah nach dem Tor, es stand offen, er hatte vergessen, es zu schließen, nachdem er am Morgen auf den Hof gefahren war. Die Männer blickten ihn mit einem verlegenen Lächeln der Verständnislosigkeit an, und er wiederholte: 'Neun Uhr'. Da die Männer wortlos verharrten, fügte er hinzu: 'Dewjatj schasow'. Dann nickte er mehrmals, schaute sich auf dem umzäunten Platz um und ging wieder in den Wohnwagen. Er verschloss die Tür, ging zum Ofen, warf mit der Kohlenzange ein paar Briketts auf das brennende Holz und setzte sich erneut an den Schreibtisch. Er zog die Schubläden heraus, eine nach der anderen, um sie dann schwungvoll wieder hineinzuschieben, nachdem er einen Blick auf die darin liegenden Papiere geworfen hatte. Aus der untersten Lade nahm er ein mit einer Büroklammer geheftetes Bündel von Verträgen heraus und blätterte es durch. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, griff er zum Telefon, wählte die angegebene Nummer und verhandelte dann längere Zeit über die Lieferung einer Klimaanlage. Danach blätterte er nochmals in den Papieren, wählte eine weitere Telefonnummer und sprach mit dem Chef einer Lackierwerkstatt."
Sehr viel weiß der Leser auch jetzt noch nicht, aber er befindet sich in einem Ambiente, das geheimnisvoll wirkt und einiges erwarten lässt. Christoph Hein wendet durchaus avancierte Realismustechniken an, lässt langsam durchblicken, dass es hier um Autos geht und um den Osten, und so, wie er hier am Anfang sorgfältig Information an Information aneinander reiht und sich langsam ein Bild der Hauptfigur entfaltet, ohne dass der Erzähler psychologisches Vokabular oder andere Erklärungsmuster anzuwenden braucht - genau so entfaltet sich das Spannungsfeld des gesamten Romans, bis hin zum Schluss. Zunächst aber muss noch eine weitere Erzählstufe genommen werden, und das geht, nach drei Seiten, so:
"Ein Mann war vor dem Wohnwagen stehen geblieben. Er deutete auf das Schild mit dem Namen und den Öffnungszeiten: 'Sind Sie hier der Chef?'
Der Mann auf der kleinen Holztreppe nickte. Dann kam er die zwei restlichen Stufen hinunter und stellte sich vor: 'Willenbrock ist mein Name. Was kann ich für Sie tun?'"
Und ab jetzt verkehren wir auf Augenhöhe mit ihm. Die Hauptfigur heißt nicht mehr "der Mann auf der kleinen Holztreppe" oder anonym "er", sondern "Willenbrock".
Unscheinbar wird später präzisiert, dass er auch noch einen Vornamen hat, nämlich Bernd. Doch der Name, der Titel des ganzen Romans, deutet assoziativ noch etwas anderes an, etwas, was keinen Vornamen mehr braucht. Man denkt an "gebrochenen Willen", obwohl der Roman bis zuletzt keinen direkten Anlass bietet, dies so einfach zu übersetzen. Willenbrock ist ein starker Mann.
Er ist Gebrauchtwagenhändler, ein Self-Made-Man, wie man es auf amerikanisch im Wirtschaftswunder Westdeutschlands gesagt hätte, aber einer aus dem Osten und aus den neunziger Jahren. Ein bisschen hat er was von den die Ärmel hochkrempelnden Typen aus der DDR-Literatur der Arbeitswelt, die ihren Mann stehen und kaum angekränkelt sind von Selbstzweifeln und intellektuellen Höhenflügen. Für künstlerische Neigungen steht eher seine Frau, die eine Mode-Boutique betreibt. Willenbrock hat immer einen Stapel Pornohefte bei sich im Wohnwagen, um sie an seine Kunden zu verschenken, aber er blättert ab und zu auch selbst zum Zeitvertreib drin herum, und abends mit seiner Frau schaut er Filme über das Liebesleben von Raubkatzen an oder lässt Wrestling-Kämpfe auf dem Bildschirm laufen, während er mit seinem Steuerberater telefoniert. Er ist ein Typ aus dem Volk, wie er in der Gegenwartsliteratur doch ziemlich selten vorkommt, so etwas wie ein repräsentativer Typus, keine Projektionsfläche für Intellektuelle, für die Ich-Wahrnehmungen des ausgehenden Jahrtausends.
Die zu verkaufenden Autos stehen auf einem umzäunten Hof, das Büro befindet sich in einem Wohnwagen. Der Absatz floriert, da vor allem aus dem Osten Kunden kommen: aus Polen und aus Russland. Willenbrock hat deswegen einen Angestellten, der im Grunde die gesamte Arbeit für ihn leistet: Jurek, ein Pole, der Gewährsmann für die potenziellen Kunden ist und gleichzeitig ein ausgezeichneter Automechaniker. Jurek ist im geheimen die große positiv besetzte und tragische Figur in diesem Roman. Das kann er aber nur in einer Nebenrolle sein, das gehört zum ästhetischen Aufbau des Textes: denn Willenbrock verkörpert das Typische und steht selbstredend im Zentrum.
Wenn man direkt nach 1989 im Osten mit irgendetwas ein sicheres Geschäft machen konnte, dann mit Gebrauchtwagen. Hier lag, im Gegensatz zu vielen anderen Optionen, ein Markt wirklich brach, hier konnte man die schnelle Mark machen. Willenbrock, der zwanzig Jahre lang Ingenieur in einer Rechenmaschinenfabrik gewesen war, wurde vom Bruder seiner Frau darauf gestoßen, einem Westdeutschen natürlich. Im Laufe des Buches wird er es schaffen, endlich die Möglichkeit zum Kauf des Grundstückes zu bekommen, auf dem sein Autohof liegt, und ein richtiges Autohaus zu bauen. Dennoch kehrt sich im Fortgang des Buches seine Erfolgsgeschichte anfangs kaum merklich um, und das ist das eigentliche Thema.
Die Öffnung der Grenzen, die für Willenbrock ungeahnte Möglichkeiten mit sich brachte, die Selbständigkeit und das Geldverdienen, ist gleichzeitig auch die große Gefahr für ihn. Mehrfach wird sein Autohof überfallen, und zum Schlüsselerlebnis wird eine Nacht in seinem Landhaus am Stettiner Haff. Um zwei Uhr wird er von einem verdächtigen Geräusch geweckt, und als er aufsteht, sieht er sich einem Russen gegenüber, der mit einer großen Eisenstange auf ihn einschlägt.
Christoph Hein schildert diesen Einbruchsversuch atmosphärisch äußerst dicht: das Trauma, das dieses Erlebnis bei Willenbrocks Frau Susanne hinterlässt, die Verunsicherung, die langsam auch beim Tatmenschen Willenbrock größer wird, obwohl er mit viel Glück und Mut die Russen in die Flucht schlagen konnte:
"Irgendetwas wurde zerstört, dachte er, es wird nie mehr wie früher, irgendetwas ist vorbei".
Es ist nicht nur der Einbruch in die Intimsphäre - das Ehepaar wacht automatisch lange Zeit immer um zwei Uhr auf, und beide können nicht mehr einschlafen, isoliert nebeneinander. Es ist auch die Erfahrung, dass es staatlich und gesellschaftlich keine Sicherungen gibt, ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Der Dorfpolizist erklärt durch seine Sprechanlage, dass er nicht zuständig sei und verweist, obwohl die Telefonkabel Willenbrocks und seines Nachbarn zerschnitten wurden, auf die öffentliche Telefonzelle auf dem Dorfplatz. Der Arzt im Nachtdienst, der Willenbrock wegen der Schläge mit der Eisenstange röntgt und ihm eine Knochenhautentzündung prophezeit, teilt müde mit: "Jede Woche haben wir einen Fall wie Sie", und die Schwester an der Pforte antwortet auf die Frage Willenbrocks, der mit einem Krankenwagen transportiert wurde, knapp: "Für Heimfahrten ist die Ambulanz nicht zuständig." Am peinigendsten sind jedoch die schlampigen Ermittlungen der Polizei und die Tatsache, dass zwei Tatverdächtige, zwei Brüder aus Moskau, einen Tag später über die Grenze nach Polen abgeschoben wurden und theoretisch sofort wieder vor der Tür stehen könnten.
Das Eigenartige und auch Kunstvolle an diesem Roman ist, dass nichts plakativ oder aufgesetzt erscheint, obwohl jede Inhaltsangabe zwangsläufig so wirken muss. Die Umbruchszeit der neunziger Jahre, mit all ihren anarchischen Formen des Kapitalismus, wird nicht im Zeichen einer DDR-Nostalgie dargestellt, sondern nüchtern, wie beiläufig, ohne dass ein ideologisches Konstrukt dabei durchschiene. Das Geschehen wird völlig ohne Wertung, ohne Kommentar erzählt. Willenbrock, eine unverkennbare DDR-Gestalt, ist keineswegs als Identifikationsfigur angelegt oder sonderlich sympathisch. Und auch die Stasi-Geschichte, die mit hereinspielt, ist sehr differenziert angelegt; der Denunziant wirkt, obwohl er nicht von vornherein verdammt wird, eher erbärmlich.
Der Prototyp der neuen Zeit ist Krylow, ein Russe, der alle paar Monate auf Willenbrocks Autohof kommt und zwei, drei Gebrauchtwagen kauft. Er ist immer im Begleitung von ein paar jungen Männern, die seinen Anweisungen unbedingt folgen; einer, der im sowjetischen Staatsdienst, Westeuropa-Abteilung, beschäftigt war und sich nach der Auflösung der Sowjetunion selbständig machte, mit dem Tätigkeitsfeld: "Import und Export von Innovationen". Jurek, der Pole, meidet ihn instinktiv, weil "Leute wie er" es "immer schaffen ". Krylow steht für das, was man gemeinhin als "russische Mafia" bezeichnet, und er beschreibt Russland so:
"Russland ist groß nur im Krieg, und unter einem harten Zaren. Der Russe verträgt die Freiheit nicht. Uns hat Asien geprägt, nicht Europa. Wir haben Europa vor den Asiaten bewahrt und sind dabei selbst Asiaten geworden. Wir haben uns für Europa geopfert, haben mit unseren Leibern Wien und Paris vor den Mongolen bewahrt. Und wir haben dafür einen hohen Preis entrichtet, den uns Europa nicht erstatten will. Jetzt musst du den Russen prügeln, wenn er gut arbeiten soll. Wir sind keine Deutschen, die gern arbeiten und alles fein sauber haben wollen."
Krylows spätere Einlassung über Russlands Zukunft ist ein Kernstück des Romans:
"Die einzigen Russen, die wirklich in der Gegenwart zu leben verstehen, sind unsere prächtigen Ganoven, jene, die ihr als Russenmafia bezeichnet. Das sind gläubig, orthodoxe Russen, sie werden nie ein Wort gegen die allgegenwärtige Kirche sagen, nie die Hand heben gegen unsere Tradition, aber sie werden sich von den tausend Jahren russischer Kultur nicht daran hindern lassen, ihren so wenig ehrenwerten Geschäften nachzugehen. Vielleicht sind diese Leute unsere Chance. Westeuropa wurde von der Aufklärung und dem Kapitalismus sanft und unnachgiebig erzogen, Nordamerika von seinen Siedlern, in der einen Hand den Pflug, in der anderen das entsicherte Gewehr. Vielleicht lernt Russland von seinen Ganoven wie man, ohne auf die Tradition zu spucken, die Gegenwart bewältigt. Bisher haben wir das immer nur im Krieg erreicht, im Krieg und in der Kunst. Gepriesen seien Puschkin, Tschaikowski und die russischen Generäle. Vielleicht lehrt uns unsere Mafia auch das alltägliche Leben zu meistern, das Leben in Friedenszeiten."
Es waren offenkundig Russen, die Willenbrock und seine Frau im Landhaus am Stettiner Haff überfallen und Willenbrock fast totgeschlagen haben. Es ist mit Krylow aber auch ein Russe, der das probate Mittel dagegen hat. Willenbrock hat schon vorher versucht, sich zu wappnen: in einem Waffengeschäft mit einer kleinen Pistole mit Signalmunition, er hat sich wegen Sicherungstechnik und Alarmanlagen erkundigt, er ist sich seiner selbst nicht mehr sicher. Krylow aber, der Geschäftsfreund, dem Willenbrock von dem Überfall erzählt hat, übergibt Willenbrock eines Tages ein Päckchen, für das nur 300 Mark zu zahlen sind, und Willenbrock findet darin einen nagelneuen Revolver der Marke Smith & Wesson vor. Das verändert endgültig sein Leben.
In einer Nacht in Berlin, Willenbrock ist sofort hellwach, hört er verdächtige Geräusche aus der Garage, und als er einen höchstens 18- oder 19-Jährigen dort stellt, schießt er mit seiner Smith & Wesson auf ihn, "entjungfert" sie, wie Krylow es formuliert hatte. Der potenzielle Autodieb schleppt sich weg, die Straße entlang, er blutet an der linken Seite unterhalb des Halses. Willenbrock weiß nicht, wie die Geschichte weitergeht. Der gesamte Skiurlaub danach steht im Zeichen dieser Begebenheit. Er möchte sie seiner Frau verschweigen, aber fällt dadurch auf, dass er manisch sämtliche Berliner Zeitungen nach Meldungen über einen Schussverletzten durchsucht. Willenbrock ist nicht mehr der alte. Er ist gezeichnet.
Christoph Hein flicht in diesen Roman einige kleine Beobachtungen über die neunziger Jahre in Berlin ein, über Verunsicherungen, über den Egoismus, über die Erkenntnis, dass jeder sich selbst der Nächste sei. Das Yuppie-Pärchen, neben dem das Ehepaar Willenbrock in einem trostlosen Café in der Nähe ihres Einfamilienhauses direkt hinter der Stadtgrenze Berlins sitzt, wird mit wenigen Strichen ebenso beredt wie die Szenerie einer Modeschau in Susannes Boutique, bei der einige klassische Parvenüs auftreten. Im Zentrum von Christoph Heins Versuch, das gesellschaftliche Klima im gegenwärtigen Berlin in einem erzählerischen Modell zu fassen, steht jedoch die langsame Verunsicherung des Tatmenschen Willenbrock. Es ziehen sich einige Motive durch den Roman, die das Ganze konturieren, aufrauen und es in ein charakteristisches Licht hüllen - Willenbrocks Umgang mit Frauen etwa, der anfangs souverän funktioniert, oder das Foto des jungen Willenbrock vor einem Segelflugzeug, das beiläufig als unerreichbares Traumbild erscheint.
In diesem Roman wird deutlich, wie dünn der Firnis der Zivilisation geworden ist, wie die Barbarei hinter der deutschen Fassade hervorlugt. Die Sicherheiten schwinden, und es entsteht ein Gefühl des Ausgesetztseins, das eher diffus ist, aber den Alltag zu prägen beginnt. Dies wird nicht mit avancierten literarischen Mitteln dargestellt, sondern ganz zurückhaltend, realistisch und erzählend, sich seiner Mittel wohl bewusst. Es ist ein Text über die neunziger Jahre, wie ihn Heinrich Böll über die fünfziger Jahre geschrieben hat. Und so wenig ist das nicht.
Als er das Knistern der Flamme hörte, öffnete er die obere Klappe und warf ein paar Scheite hinein. Er wischte sich die Finger an einem Lappen ab, der neben dem Schreibtisch lag, und setzte sich. Aus einem Schubfach holte er ein Magazin heraus und blätterte darin, während er sich mit der Hand eine einzelne Zigarette aus einer Jackettasche angelte und sie entzündete."
Das ist alles sehr kleinteilig, minuziös beobachtet, wie in einer Filmsequenz. Der Erzähler, der gleichwohl allwissend ist, hält sich mit all seinem Wissen bedeckt und gibt nur das wieder, was gerade passiert, nimmt mit seiner Kamera den Leser wie auf gleicher Höhe, mit dem gleichen Informationstand in das Geschehen hinein. Nach dem idyllisch anmutenden Genrebild mit dem gusseisernen Ofen und der Zigarette erfahren wir von einem Traum, den die Hauptfigur in der letzten Nacht gehabt hat, und dann begibt sich folgendes:
"Vor der Tür des Wohnwagens gab es ein Geräusch. Er schaute auf und sah, dass die Türklinke sich bewegte. Er stand auf, ging zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie. Vor dem Wagen standen sechs Männer, die ihn schweigend und erwartungsvoll ansahen. 'Um neun', sagte er und tippte auf seine Armbanduhr, 'um neun wird geöffnet.'
Er sah nach dem Tor, es stand offen, er hatte vergessen, es zu schließen, nachdem er am Morgen auf den Hof gefahren war. Die Männer blickten ihn mit einem verlegenen Lächeln der Verständnislosigkeit an, und er wiederholte: 'Neun Uhr'. Da die Männer wortlos verharrten, fügte er hinzu: 'Dewjatj schasow'. Dann nickte er mehrmals, schaute sich auf dem umzäunten Platz um und ging wieder in den Wohnwagen. Er verschloss die Tür, ging zum Ofen, warf mit der Kohlenzange ein paar Briketts auf das brennende Holz und setzte sich erneut an den Schreibtisch. Er zog die Schubläden heraus, eine nach der anderen, um sie dann schwungvoll wieder hineinzuschieben, nachdem er einen Blick auf die darin liegenden Papiere geworfen hatte. Aus der untersten Lade nahm er ein mit einer Büroklammer geheftetes Bündel von Verträgen heraus und blätterte es durch. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, griff er zum Telefon, wählte die angegebene Nummer und verhandelte dann längere Zeit über die Lieferung einer Klimaanlage. Danach blätterte er nochmals in den Papieren, wählte eine weitere Telefonnummer und sprach mit dem Chef einer Lackierwerkstatt."
Sehr viel weiß der Leser auch jetzt noch nicht, aber er befindet sich in einem Ambiente, das geheimnisvoll wirkt und einiges erwarten lässt. Christoph Hein wendet durchaus avancierte Realismustechniken an, lässt langsam durchblicken, dass es hier um Autos geht und um den Osten, und so, wie er hier am Anfang sorgfältig Information an Information aneinander reiht und sich langsam ein Bild der Hauptfigur entfaltet, ohne dass der Erzähler psychologisches Vokabular oder andere Erklärungsmuster anzuwenden braucht - genau so entfaltet sich das Spannungsfeld des gesamten Romans, bis hin zum Schluss. Zunächst aber muss noch eine weitere Erzählstufe genommen werden, und das geht, nach drei Seiten, so:
"Ein Mann war vor dem Wohnwagen stehen geblieben. Er deutete auf das Schild mit dem Namen und den Öffnungszeiten: 'Sind Sie hier der Chef?'
Der Mann auf der kleinen Holztreppe nickte. Dann kam er die zwei restlichen Stufen hinunter und stellte sich vor: 'Willenbrock ist mein Name. Was kann ich für Sie tun?'"
Und ab jetzt verkehren wir auf Augenhöhe mit ihm. Die Hauptfigur heißt nicht mehr "der Mann auf der kleinen Holztreppe" oder anonym "er", sondern "Willenbrock".
Unscheinbar wird später präzisiert, dass er auch noch einen Vornamen hat, nämlich Bernd. Doch der Name, der Titel des ganzen Romans, deutet assoziativ noch etwas anderes an, etwas, was keinen Vornamen mehr braucht. Man denkt an "gebrochenen Willen", obwohl der Roman bis zuletzt keinen direkten Anlass bietet, dies so einfach zu übersetzen. Willenbrock ist ein starker Mann.
Er ist Gebrauchtwagenhändler, ein Self-Made-Man, wie man es auf amerikanisch im Wirtschaftswunder Westdeutschlands gesagt hätte, aber einer aus dem Osten und aus den neunziger Jahren. Ein bisschen hat er was von den die Ärmel hochkrempelnden Typen aus der DDR-Literatur der Arbeitswelt, die ihren Mann stehen und kaum angekränkelt sind von Selbstzweifeln und intellektuellen Höhenflügen. Für künstlerische Neigungen steht eher seine Frau, die eine Mode-Boutique betreibt. Willenbrock hat immer einen Stapel Pornohefte bei sich im Wohnwagen, um sie an seine Kunden zu verschenken, aber er blättert ab und zu auch selbst zum Zeitvertreib drin herum, und abends mit seiner Frau schaut er Filme über das Liebesleben von Raubkatzen an oder lässt Wrestling-Kämpfe auf dem Bildschirm laufen, während er mit seinem Steuerberater telefoniert. Er ist ein Typ aus dem Volk, wie er in der Gegenwartsliteratur doch ziemlich selten vorkommt, so etwas wie ein repräsentativer Typus, keine Projektionsfläche für Intellektuelle, für die Ich-Wahrnehmungen des ausgehenden Jahrtausends.
Die zu verkaufenden Autos stehen auf einem umzäunten Hof, das Büro befindet sich in einem Wohnwagen. Der Absatz floriert, da vor allem aus dem Osten Kunden kommen: aus Polen und aus Russland. Willenbrock hat deswegen einen Angestellten, der im Grunde die gesamte Arbeit für ihn leistet: Jurek, ein Pole, der Gewährsmann für die potenziellen Kunden ist und gleichzeitig ein ausgezeichneter Automechaniker. Jurek ist im geheimen die große positiv besetzte und tragische Figur in diesem Roman. Das kann er aber nur in einer Nebenrolle sein, das gehört zum ästhetischen Aufbau des Textes: denn Willenbrock verkörpert das Typische und steht selbstredend im Zentrum.
Wenn man direkt nach 1989 im Osten mit irgendetwas ein sicheres Geschäft machen konnte, dann mit Gebrauchtwagen. Hier lag, im Gegensatz zu vielen anderen Optionen, ein Markt wirklich brach, hier konnte man die schnelle Mark machen. Willenbrock, der zwanzig Jahre lang Ingenieur in einer Rechenmaschinenfabrik gewesen war, wurde vom Bruder seiner Frau darauf gestoßen, einem Westdeutschen natürlich. Im Laufe des Buches wird er es schaffen, endlich die Möglichkeit zum Kauf des Grundstückes zu bekommen, auf dem sein Autohof liegt, und ein richtiges Autohaus zu bauen. Dennoch kehrt sich im Fortgang des Buches seine Erfolgsgeschichte anfangs kaum merklich um, und das ist das eigentliche Thema.
Die Öffnung der Grenzen, die für Willenbrock ungeahnte Möglichkeiten mit sich brachte, die Selbständigkeit und das Geldverdienen, ist gleichzeitig auch die große Gefahr für ihn. Mehrfach wird sein Autohof überfallen, und zum Schlüsselerlebnis wird eine Nacht in seinem Landhaus am Stettiner Haff. Um zwei Uhr wird er von einem verdächtigen Geräusch geweckt, und als er aufsteht, sieht er sich einem Russen gegenüber, der mit einer großen Eisenstange auf ihn einschlägt.
Christoph Hein schildert diesen Einbruchsversuch atmosphärisch äußerst dicht: das Trauma, das dieses Erlebnis bei Willenbrocks Frau Susanne hinterlässt, die Verunsicherung, die langsam auch beim Tatmenschen Willenbrock größer wird, obwohl er mit viel Glück und Mut die Russen in die Flucht schlagen konnte:
"Irgendetwas wurde zerstört, dachte er, es wird nie mehr wie früher, irgendetwas ist vorbei".
Es ist nicht nur der Einbruch in die Intimsphäre - das Ehepaar wacht automatisch lange Zeit immer um zwei Uhr auf, und beide können nicht mehr einschlafen, isoliert nebeneinander. Es ist auch die Erfahrung, dass es staatlich und gesellschaftlich keine Sicherungen gibt, ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Der Dorfpolizist erklärt durch seine Sprechanlage, dass er nicht zuständig sei und verweist, obwohl die Telefonkabel Willenbrocks und seines Nachbarn zerschnitten wurden, auf die öffentliche Telefonzelle auf dem Dorfplatz. Der Arzt im Nachtdienst, der Willenbrock wegen der Schläge mit der Eisenstange röntgt und ihm eine Knochenhautentzündung prophezeit, teilt müde mit: "Jede Woche haben wir einen Fall wie Sie", und die Schwester an der Pforte antwortet auf die Frage Willenbrocks, der mit einem Krankenwagen transportiert wurde, knapp: "Für Heimfahrten ist die Ambulanz nicht zuständig." Am peinigendsten sind jedoch die schlampigen Ermittlungen der Polizei und die Tatsache, dass zwei Tatverdächtige, zwei Brüder aus Moskau, einen Tag später über die Grenze nach Polen abgeschoben wurden und theoretisch sofort wieder vor der Tür stehen könnten.
Das Eigenartige und auch Kunstvolle an diesem Roman ist, dass nichts plakativ oder aufgesetzt erscheint, obwohl jede Inhaltsangabe zwangsläufig so wirken muss. Die Umbruchszeit der neunziger Jahre, mit all ihren anarchischen Formen des Kapitalismus, wird nicht im Zeichen einer DDR-Nostalgie dargestellt, sondern nüchtern, wie beiläufig, ohne dass ein ideologisches Konstrukt dabei durchschiene. Das Geschehen wird völlig ohne Wertung, ohne Kommentar erzählt. Willenbrock, eine unverkennbare DDR-Gestalt, ist keineswegs als Identifikationsfigur angelegt oder sonderlich sympathisch. Und auch die Stasi-Geschichte, die mit hereinspielt, ist sehr differenziert angelegt; der Denunziant wirkt, obwohl er nicht von vornherein verdammt wird, eher erbärmlich.
Der Prototyp der neuen Zeit ist Krylow, ein Russe, der alle paar Monate auf Willenbrocks Autohof kommt und zwei, drei Gebrauchtwagen kauft. Er ist immer im Begleitung von ein paar jungen Männern, die seinen Anweisungen unbedingt folgen; einer, der im sowjetischen Staatsdienst, Westeuropa-Abteilung, beschäftigt war und sich nach der Auflösung der Sowjetunion selbständig machte, mit dem Tätigkeitsfeld: "Import und Export von Innovationen". Jurek, der Pole, meidet ihn instinktiv, weil "Leute wie er" es "immer schaffen ". Krylow steht für das, was man gemeinhin als "russische Mafia" bezeichnet, und er beschreibt Russland so:
"Russland ist groß nur im Krieg, und unter einem harten Zaren. Der Russe verträgt die Freiheit nicht. Uns hat Asien geprägt, nicht Europa. Wir haben Europa vor den Asiaten bewahrt und sind dabei selbst Asiaten geworden. Wir haben uns für Europa geopfert, haben mit unseren Leibern Wien und Paris vor den Mongolen bewahrt. Und wir haben dafür einen hohen Preis entrichtet, den uns Europa nicht erstatten will. Jetzt musst du den Russen prügeln, wenn er gut arbeiten soll. Wir sind keine Deutschen, die gern arbeiten und alles fein sauber haben wollen."
Krylows spätere Einlassung über Russlands Zukunft ist ein Kernstück des Romans:
"Die einzigen Russen, die wirklich in der Gegenwart zu leben verstehen, sind unsere prächtigen Ganoven, jene, die ihr als Russenmafia bezeichnet. Das sind gläubig, orthodoxe Russen, sie werden nie ein Wort gegen die allgegenwärtige Kirche sagen, nie die Hand heben gegen unsere Tradition, aber sie werden sich von den tausend Jahren russischer Kultur nicht daran hindern lassen, ihren so wenig ehrenwerten Geschäften nachzugehen. Vielleicht sind diese Leute unsere Chance. Westeuropa wurde von der Aufklärung und dem Kapitalismus sanft und unnachgiebig erzogen, Nordamerika von seinen Siedlern, in der einen Hand den Pflug, in der anderen das entsicherte Gewehr. Vielleicht lernt Russland von seinen Ganoven wie man, ohne auf die Tradition zu spucken, die Gegenwart bewältigt. Bisher haben wir das immer nur im Krieg erreicht, im Krieg und in der Kunst. Gepriesen seien Puschkin, Tschaikowski und die russischen Generäle. Vielleicht lehrt uns unsere Mafia auch das alltägliche Leben zu meistern, das Leben in Friedenszeiten."
Es waren offenkundig Russen, die Willenbrock und seine Frau im Landhaus am Stettiner Haff überfallen und Willenbrock fast totgeschlagen haben. Es ist mit Krylow aber auch ein Russe, der das probate Mittel dagegen hat. Willenbrock hat schon vorher versucht, sich zu wappnen: in einem Waffengeschäft mit einer kleinen Pistole mit Signalmunition, er hat sich wegen Sicherungstechnik und Alarmanlagen erkundigt, er ist sich seiner selbst nicht mehr sicher. Krylow aber, der Geschäftsfreund, dem Willenbrock von dem Überfall erzählt hat, übergibt Willenbrock eines Tages ein Päckchen, für das nur 300 Mark zu zahlen sind, und Willenbrock findet darin einen nagelneuen Revolver der Marke Smith & Wesson vor. Das verändert endgültig sein Leben.
In einer Nacht in Berlin, Willenbrock ist sofort hellwach, hört er verdächtige Geräusche aus der Garage, und als er einen höchstens 18- oder 19-Jährigen dort stellt, schießt er mit seiner Smith & Wesson auf ihn, "entjungfert" sie, wie Krylow es formuliert hatte. Der potenzielle Autodieb schleppt sich weg, die Straße entlang, er blutet an der linken Seite unterhalb des Halses. Willenbrock weiß nicht, wie die Geschichte weitergeht. Der gesamte Skiurlaub danach steht im Zeichen dieser Begebenheit. Er möchte sie seiner Frau verschweigen, aber fällt dadurch auf, dass er manisch sämtliche Berliner Zeitungen nach Meldungen über einen Schussverletzten durchsucht. Willenbrock ist nicht mehr der alte. Er ist gezeichnet.
Christoph Hein flicht in diesen Roman einige kleine Beobachtungen über die neunziger Jahre in Berlin ein, über Verunsicherungen, über den Egoismus, über die Erkenntnis, dass jeder sich selbst der Nächste sei. Das Yuppie-Pärchen, neben dem das Ehepaar Willenbrock in einem trostlosen Café in der Nähe ihres Einfamilienhauses direkt hinter der Stadtgrenze Berlins sitzt, wird mit wenigen Strichen ebenso beredt wie die Szenerie einer Modeschau in Susannes Boutique, bei der einige klassische Parvenüs auftreten. Im Zentrum von Christoph Heins Versuch, das gesellschaftliche Klima im gegenwärtigen Berlin in einem erzählerischen Modell zu fassen, steht jedoch die langsame Verunsicherung des Tatmenschen Willenbrock. Es ziehen sich einige Motive durch den Roman, die das Ganze konturieren, aufrauen und es in ein charakteristisches Licht hüllen - Willenbrocks Umgang mit Frauen etwa, der anfangs souverän funktioniert, oder das Foto des jungen Willenbrock vor einem Segelflugzeug, das beiläufig als unerreichbares Traumbild erscheint.
In diesem Roman wird deutlich, wie dünn der Firnis der Zivilisation geworden ist, wie die Barbarei hinter der deutschen Fassade hervorlugt. Die Sicherheiten schwinden, und es entsteht ein Gefühl des Ausgesetztseins, das eher diffus ist, aber den Alltag zu prägen beginnt. Dies wird nicht mit avancierten literarischen Mitteln dargestellt, sondern ganz zurückhaltend, realistisch und erzählend, sich seiner Mittel wohl bewusst. Es ist ein Text über die neunziger Jahre, wie ihn Heinrich Böll über die fünfziger Jahre geschrieben hat. Und so wenig ist das nicht.