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William Golding: "Herr der Fliegen"
Unschuldige Kinder auf mörderischer Jagd

Mit "Herr der Fliegen" schrieb William Golding (1911 bis 1993), Literatur-Nobelpreis-Träger des Jahres 1983, seinen erfolgreichsten Roman. Er handelt von der Unzähmbarkeit der Gewalt und siedelt dies in der Welt der vermeintlich unschuldigen Kinder an. Nun wurde der Roman von Peter Torberg neu ins Deutsche übersetzt.

Von Wolfgang Schneider | 17.07.2016
    Der britische Schriftsteller, u.a. "Herr der Fliegen" (1954) und Nobelpreisträger für Literatur 1983, William Gerald Golding, mit seinem Pferd Cobber.
    Der britische Schriftsteller, u.a. "Herr der Fliegen" (1954), und Nobelpreisträger für Literatur 1983, William Gerald Golding, mit seinem Pferd Cobber. (picture-alliance / dpa /London Express)
    Schullektüren bleiben nicht immer gut in Erinnerung. Aber gelegentlich gab und gibt es sie doch, jene Romane, die einem als Pflichtpensum aufgetragen wurden. Und die man trotzdem mit fast überraschter Spannung gelesen hat. Romane, die durch die Kraft ihres Erzähltons über die "Was-will-uns-der-Autor-sagen-Moral" hinausgewachsen sind. "Herr der Fliegen", der dunkle Klassiker des Nobelpreisträgers William Golding aus dem Jahr 1954, ist solch ein Roman.
    - "Sie entdeckten ein Ferkel, das sich in einem Vorhang aus Lianen verfangen hatte und sich aus blankem Entsetzen in wildem Wahn gegen die elastischen Riemen warf. Die drei Jungs stürzten hin, Jack zückte wieder schwungvoll sein Messer. Er hob den Arm. Eine Pause trat ein, eine Unterbrechung, das Ferkel schrie weiter, die Lianen zerrten an ihm, die Klinge blinkte am Ende eines dürren Arms. Die Pause war lang genug, dass sie begriffen, welch ungeheure Tragweite der nach unten gerichtete Hieb haben würde. Da riss sich das Ferkel von den Lianen los und huschte ins Unterholz. Die drei standen da, sahen sich und den Schreckensort an. Jacks Gesicht war unter den Sommersprossen ganz weiß geworden. Dann lachten alle drei verschämt und stiegen wieder zum Pfad hinauf. "Warum hast du nicht ... ?" Sie wussten nur zu genau, warum Jack nicht zugestochen hatte: Wegen der Ungeheuerlichkeit, das Messer zu senken und in lebendiges Fleisch zu schneiden; wegen des unerträglichen Blutes."
    Messer, die in Fleisch schneiden – oder an dieser Stelle eben noch zögern, es zu tun. Es geht in "Herr der Fliegen" um die Gewalt, das Böse, den Tod. Die Natur des Menschen und ihr Verhältnis zum Bösen, das ist allerdings ein Thema, das kontrovers debattiert wird, seit Kain den Abel erschlagen hat. Der Glauben ans prinzipiell Gute im Menschen, das nur durch die falsche Gesellschaft korrumpiert werde, wechselt dabei regelmäßig mit Schüben pessimistischer Ernüchterung über die "conditio humana".
    Wer jedenfalls als Schriftsteller um die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht bloß unterhaltsame Geschichten erzählen, sondern wie William Golding die Natur des Menschen vermessen wollte, der konnte nach Hitler und Stalin, Auschwitz und Hiroshima kaum noch Kredit auf das Gute im Menschen bekommen. Mit einer Ausnahme: Mochten die Erwachsenen ganze Erdteile in Schutt und Asche legen und von einem bestialischen Krieg in den nächsten stolpern: Die Kinder galten bis auf Weiteres als unschuldig, so sehr, dass das Adjektiv und das Hauptwort bis heute eine feste Verbindung eingehen.
    "Herr der Fliegen" hat sich der Widerlegung des Klischees vom unschuldigen Kind gewidmet. Die Welt versinkt im Chaos, ein Krieg mit Atomwaffen findet statt. Es bleibt allerdings bei unscharfen Andeutungen. Englische Schuljungen werden in entfernte, sichere Gebiete geflogen. Das Flugzeug muss notlanden auf einer unbewohnten tropischen Insel. Wunderbarerweise – und ein erster Verweis auf die eher allegorische als realistische Grundierung von Goldings Erzählen – bleiben die Kinder unverletzt und können ganz ohne posttraumatischen Schock ein Sozialexperiment starten.
    - "Also, wir sind vielleicht noch ziemlich lange hier." Niemand sagte etwas. Plötzlich grinste Ralph. "Aber das hier ist eine gute Insel. Wir – Jack, Simon und ich –, wir sind auf den Berg gestiegen. Es ist krass. Es gibt Essen und Trinken und solange wir warten, können wir es uns auf der Insel richtig gut gehen lassen." Er machte eine ausladende Handbewegung. "Das ist wie in einem Buch." Es wurde laut. "Die Schatzinsel ... " - "Die Koralleninsel ... " Ralph wedelte mit dem Muschelhorn. "Das hier ist unsere Insel. Eine gute Insel. Wir werden hier Spaß haben, bis die Erwachsenen uns holen kommen."
    Spannungen in der Gemeinschaft
    Zunächst halten sie sich auf der Insel, angeleitet von dem besonnenen Ralph, an die Formen der zivilisierten Welt, bauen Hütten, stellen Regeln für das Zusammenleben und den Alltag auf. Sie lassen ein Signalfeuer brennen – Verbindung zur Zivilisation, Hoffnung auf Rettung. Bald aber entwickeln sich Spannungen in der Gemeinschaft, vor allem zwischen dem gewählten Anführer Ralph und dem Usurpator Jack, einem aggressiven und egozentrischen Jungen, gekennzeichnet durch eine provozierende Sprechweise und so symbolisch rothaarig wie Esau, der biblische Jäger. Auch Jack will sich als Jäger profilieren – und schürt dadurch den Streit.
    - Ralph senkte die Hand, ballte eine Faust und sprach mit bebender Stimme: "Da war ein Schiff. Da draußen. Du hast gesagt, du hütest das Feuer, und jetzt hast du es ausgehen lassen! Vielleicht hätten sie uns gesehen. Vielleicht wären wir nach Hause gekommen ... " Das war zu viel für Piggy, und er vergaß bei diesem Schmerz seine Schüchternheit. Er kreischte: "Du und dein Blut, Jack Merridew! Du und deine verfluchte Jagerei! Vielleicht wären wir nach Hause gekommen!" Ralph drängte Piggy beiseite. "Ich war der Anführer, und du wolltest tun, was ich sage. Du redest nur. Du kannst noch nicht mal Hütten bauen – und dann verschwindest du einfach auf die Jagd und lässt das Feuer ausgehen." - "Wir brauchten Fleisch." Mit diesem Satz erhob sich Jack mit dem blutigen Messer in der Hand.
    Bald wird deutlich, dass Jacks Lust am Jagen, Hetzen, Abstechen und Töten über den Zweck und die Notwendigkeit der Nahrungsbeschaffung hinausschießt. Seine Gruppe der Jäger verfremdet und verfratzt sich innerhalb kurzer Zeit zu einem kriegerisch bemalten, dunklen Ritualen ergebenen Stamm, der die Oberherrschaft über die Jungen gewinnen und Gegner zu Strecke bringen will.
    Umkämpfte Hackordnung unter den Jugendlichen
    Jugendliche träumen zwar gern von einer besseren, gerechteren Welt, aber die Wahrheit ist, dass soziale Ausgrenzungsmechanismen unter Halbwüchsigen in verschärfter Form zur Wirkung kommen. Identitätsbildungsmaßnahmen, Suche nach Rang, Geltung, Anerkennung in der Gruppe spielen eine zentrale Rolle, jede coole Pose, jede sprachliche Gebärde ist ein Signal, das auf willige Empfänger hofft. Die Hackordnung ist umkämpft, Mobbing kann vernichtende Formen annehmen. Das archetypische Opfer ist der asthmakranke Piggy, der sich in fast jeder Szene bemüht, die Risse seines fragilen Selbstbewusstseins zu überspielen.
    - "Du redest zu viel", unterbrach ihn Jack. "Schnauze, Fettsack." - "Er heißt nicht Fettsack", rief Ralph, "er heißt Piggy!" - "Piggy!" - "Piggy!"´- "Oh, Piggy!" Ein Sturmgelächter brach aus, und selbst die Kleinsten fielen mit ein. Die Jungs bildeten einen geschlossenen harmonischen Kreis, nur Piggy war außerhalb: Er lief rot an, senkte den Kopf und putzte erneut seine Brille."
    "Herr der Fliegen" ist durchzogen von einem dichten Leitmotivgeflecht. Fast jeder Gegenstand hat hier zugleich symbolische Bedeutung, wie das am Strand gefundene Muschelhorn, dessen durchdringender Ton die verstreuten Jungen zusammenruft und während ihrer Versammlungen zentrale, zivilisierende Bedeutung bekommt: Wer es in der Hand hält, darf beim Sprechen nicht unterbrochen werden. Realistik und Symbolik gehen insbesondere bei den atmosphärischen Schilderungen der Insel und des feuchtheißen Klimas bezwingende Verbindungen ein, wenn es zum Beispiel heißt, der im gleißenden Sonnenlicht liegende Strand sei "so sauber wie eine blank gescheuerte Klinge" – ein großartiges Bild, in dem Landschaftsbeschreibung und Gewaltmotivik zusammenkommen.
    Im Roman gibt es eine lange Reihung von Motiv-Antithesen: Jäger oder Hüttenbauer, Früchtesammler oder Fleischesser, Hüter des Signalfeuers oder Anbeter der Dunkelheit, symbolisiert im aufgespießten, halb verwesten, von Fliegen übersäten Schweinekopf. "Herr der Fliegen" ist eine Anspielung auf Mephisto, der in Goethes "Faust" als "Fliegengott" bezeichnet wird.
    "Immer höher türmten sich die Wolken über der Insel ... Am frühen Nachmittag war die Sonne verschwunden. Und ein bronzener Glanz hatte das klare Tageslicht verdrängt. Selbst die Meeresbrise war heiß und brachte keinerlei Abkühlung. Wasser, Bäume und rosa Felsen verloren alle Farbe, weiße und braune Wolken brüteten vor sich hin. Nichts gedieh außer den Fliegen, die ihren Herrn schwärzten und die Gedärme wie einen Brocken glänzender Kohle wirken ließen."
    Salingers "Fänger im Roggen" und "Herr der Fliegen” – zwei Romane der frühen 50er-Jahre, die durch ihren neuen Blick auf Jugendliche Furore machten. Trotzdem: Manches würden heutige Autoren anders machen. Eine reine Jungengesellschaft ohne weibliche Haupt- und Identifikationsfigur wäre nur noch schwer zu vermitteln.
    Aus Buchmarktsicht erscheint der Roman allerdings vorausweisend. Das literarische Feld der Young-Adult-Fiction wird inzwischen breit bewirtschaftet, von "Harry Potter" bis zu den "Tributen von Panem" – Romane, die pubertäre oder adoleszente Helden haben, aber eben nicht nur von Jugendlichen, sondern auch von Erwachsenen gerne gelesen werden.
    Diverse Robinsonaden als Vorbild
    Zu Goldings literarischen Vorlagen gehören diverse Robinsonaden – Defoes Original, insbesondere aber auch "The Coral Island" von R. M. Ballantyne aus dem Jahr 1858, ein britischer Schulbuchklassiker, der von einigen Jungen erzählt, die sich nach einer Schiffskatastrophe allein auf einer Südseeinsel durchschlagen.
    Robinson Crusoe werkelt in emsiger bürgerlicher Zweckrationalität auf der Insel als Überlebenskünstler vor sich hin und wurde vom Literaturwissenschaftler Franco Moretti kürzlich sogar als Archetypus des Bürgers interpretiert. Auch die kühnen Burschen der "Koralleninsel" verkörpern westliche Werte in Reinform. Das Bedrohliche ist bei Ballantyne wie Defoe das Fremde, die Piraten und Kannibalen, gegen die die englischen Schuljungs mutig antreten. Robinsons Angst vor den Kannibalen ist notorisch und droht seinen Schaffensdrang zu untergraben.
    Dagegen bietet "Herr der Fliegen" eine schroffe Kontrafaktur; hier braucht es keine Kannibalen. Das Unheimliche, Böse, Destruktive spießt aus den Kindern selbst, der Wilde arbeitet sich gleichsam aus ihrem Inneren hervor und durchbricht die dünne Kruste der Zivilisation. Die Jungen projizieren ihre dunklen Antriebe und Ängste nach außen: in das Phantasma eines schrecklichen Tiers, das oben auf der Insel lebe und womöglich in den Nächten herunterkomme, um sie zu holen. Simon geht der Sache nach und entdeckt die Wahrheit: Das gespenstische, sich aufblähende Wesen dort oben ist der Schirm eines toten Fallschirmspringers, der sich im Geäst verfangen hat.
    "Auch die Fliegen hatten die Gestalt entdeckt. Die lebendig wirkende Bewegung verscheuchte sie für einen Augenblick, dann formten sie eine dunkle Wolke rings um den Kopf. Wenn der blaue Fallschirmstoff in sich zusammensackte, beugte sich die gedrungene Gestalt seufzend nach vorn, und die Fliegen setzten sich wieder. Simon stieß sich die Knie an einem Felsen auf. Er kroch voran und begriff bald. Das Gewirr der Leinen verriet ihm die Mechanik dieser Parodie; Simon begutachtete die weißen Nasenknochen, die Zähne, die Farben des Verfalls. Er sah, wie die Schichten aus Gummi und Leinwand den armen Leib erbarmungslos zusammenhielten, der doch vergehen sollte. Dann blies der Wind wieder, die Gestalt erhob sich, verbeugte sich und hauchte ihn faulig an. Simon kniete auf allen vieren und musste sich übergeben, bis sein Magen leer war. Dann nahm er die Leinen in die Hände, er löste sie von den Felsen und befreite die Gestalt aus der Demütigung des Windes."
    Als Simon vom Berg kommt mit der frohen Botschaft – tatsächlich hat er einige Züge einer Christus- und Erlösergestalt –, gerät er in ein zum Exzess ausartendes Jagdspiel und wird selbst zum bald nicht mehr nur symbolischen Opfertier. Aus Spiel wird Mord.
    Neuübersetzung war notwendig
    Ist eine Neuübersetzung nötig bei einem Buch, das über weite Strecken in einer unaufwändigen, schlichten Sprache geschrieben ist? Gerade deshalb. Es ist ein wenig wie bei den alten, schwer erträglichen und inzwischen weitgehend ersetzten Hemingway-Übertragungen. Cool wirkte an denen überhaupt nichts mehr. Gerade wenn der Stil einfach, natürlich, bisweilen fast mündlich daherkommt, kann eine nicht treffsichere Übersetzung viel Schaden anrichten. Vergleicht man die alte Übersetzung mit der neuen von Peter Torberg, findet man in fast jedem Satz eine Verbesserung. Beim ersten Auftritt Piggys heißt es in der alten Übersetzung: "Der, dem die Stimme gehörte, schaffte sich rückwärts aus dem Buschwerk heraus. Zweige zerrten an seiner schmierigen Windbluse." Man versteht, was gemeint ist, aber: "Der, dem die Stimme gehörte" – das klingt ungeschickt. Dass sich jemand "rückwärts aus dem Buschwerk herausschafft" – ist so merkwürdig wie die "zerrenden Zweige". Und was genau ist eine "Windbluse"? Nun die Neuübersetzung:
    "Der Junge, zu dem die Stimme gehörte, schob sich rückwärts aus dem Gestrüpp, und die Zweige kratzten über die speckige Windjacke."
    Alle vier Fragwürdigkeiten sind hier verbessert; der Satz klingt viel geschmeidiger. "Twigs scratched" heißt es im Original, "kratzen" ist also auch originalgetreuer als das zu starke "zerren". "Gestrüpp" trifft das Wort "undergrowth" besser als "Buschwerk", was mehr an einen europäischen Park als an tropischen Dschungel denken lässt.
    "Wo ist der Mann mit dem Sprachrohr?" ruft Piggy als Erstes. Auch im Deutschen benutzt man inzwischen – abgesehen von der eher spaßigen "Flüstertüte" – dasselbe Wort, das im englischen Original steht: "Megafon". Ralph zieht sich in der ersten Szene den "Pullover seiner Schuluniform" aus, so die Neuübersetzung. Vor 50 Jahren aber wussten die Deutschen offenbar noch nicht so genau, was ein Sweater oder School-sweater ist. Und deshalb kam der Übersetzer auf das "Schultrikot", als wäre man auf einer Sportveranstaltung. Die beiden Jungen klären die Lage. "Perhaps there arent't any grownups" – "Kann sein, dass es hier keine Erwachsenen gibt", so die Neuübersetzung. "Vielleicht sind überhaupt keine großen Leute hier", grübelt der intelligente Piggy in der alten Übersetzung. "Große Leute", das klingt eher kleinkindhaft. Und auch wenn man nicht über jedes "krass" der Neuübersetzung begeistert ist – erst recht die jugendsprachlichen Ausdrücke der alten Übersetzung wirken heute hoffnungslos antiquiert.
    Über Ralph heißt es: "There was a mildness about his mouth and eyes that proclaimed no devil." Die Neuübersetzung gibt das knapp und genau wieder: "Mund und Augen umspielte eine Sanftheit, die nichts Böses verriet.” Wie umständlich dagegen die alte Fassung: "Aber seine Augen, ein Zug um seinen Mund, sprachen von Empfindsamkeit, die der brutalen Gewalt abhold war." Auch bei den stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen gab es Missgriffe: "Von der Hand Gottes bewegt – von einem Taifun vielleicht lagen innerhalb der Lagune Sandmassen aufgetürmt."
    Ist Golding denn ein religiöser Autor? "Act of god" heißt es im Original; das bedeutet jedoch nicht "Hand Gottes", sondern "höhere Gewalt" oder "Naturereignis", und so steht es in der Neuübersetzung. Mag auch die Neuübersetzung nicht völlig perfekt sein - das ist keine Übersetzung -, sie zieht den sprachlichen Grauschleier von Goldings Roman. Er ist wieder so lesenswert wie am ersten Tag. Der Durchbruch des Archaischen, die Brüchigkeit ziviler Normen – das sind ja weiterhin brisante Themen.
    Ermordung von Piggy
    Stephen King hat "Herrn der Fliegen" als eines seiner großen Lektüreerlebnisse gepriesen. Das letzte Drittel habe er mit aufgerissen Augen und pochendem Herzen mehr "inhaliert" als gelesen. Piggy wird heimtückisch getötet:
    "Der Fels streifte Piggy vom Kinn bis zu den Knien; die Muschel zersprang in tausend weiße Stücke .... Piggy flog seitwärts vom Fels, sagte nichts, hatte nicht mal mehr Zeit, zu ächzen, überschlug sich in der Luft. Er stürzte ein dutzend Meter tief und landete mit dem Rücken auf der flachen roten Felsplatte im Meer. Sein Kopf platzte auf, etwas ergoss sich und wurde rot. Piggys Arme und Beine zuckten ein wenig, wie bei einem gerade getöteten Schwein. Das Meer atmete mit einem langen, tiefen Seufzer aus, das Wasser brodelte weiß und rosig über den Fels. Und als es wieder saugend verschwand, war Piggys Leiche fort."
    Wie das Meer hier einen Anblick des Grauens von einer Sekunde auf die andere wieder wie von einer Tafel wegwischt – das ist ein Bild von unheimlicher Abgründigkeit. Am Ende sind die Jungen eine Horde Kampfschreie ausstoßender, dem Todeskult verschworener Urmenschen, die – kommandiert vom prototypischen Diktator Jack – Ralph zu Tode hetzen wollen. Eine große Ironie des Romans liegt darin, dass Ralphs Projekt des Signalfeuers am Ende dennoch triumphal erfüllt wird, durch Jacks Schergen: Sie stecken die Insel in Brand, um Ralph aus dem Dickicht hervorzutreiben. Gerade dadurch locken sie die Rettung, ein Schiff der britischen Marine herbei. Wie beschämte Schulkinder stehen sie nun plötzlich wieder vor einem verwunderten Offizier.
    Ein gutes Ende. Und doch auch nicht, denn wenn sich im letzten Satz die Blicke des Offiziers auf den Kreuzer in der Ferne richten, ist der Zusammenhang zwischen den Chaos, das die Jungen auf der Insel angerichtet haben, und dem Kriegstaumel der Außen- und Erwachsenenwelt wiederum deutlich gekennzeichnet. Auch die Perspektive der Rückkehr ist ironisch infrage gestellt. Warum Signalfeuer brennen lassen, warum so viel Rauch machen, wenn sich die Welt der Erwachsenen da draußen gerade selbst zerlegt? Golding ist ein bezwingendes Finale geglückt.
    Buchinfos:
    William Golding: "Herr der Fliegen". Aus dem Englischen von Peter Torberg, Verlag S. Fischer, 224 Seiten, Preis: 19,99 Euro