Es handelt sich bei dem ursprünglich als Vorlesung konzipierten Text nicht um ein leidenschaftliches Plädoyer für die working poor, wie es erst kürzlich die Grande Dame der US-amerikanischen Linken, Barbara Ehrenreich, vorgetragen hat, als vielmehr um eine trockene, mit allerhand statistischem Material angereicherte wissenschaftliche Untersuchung eines Soziologen, der sich seit Jahrzehnten um benachteiligte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Afro-Amerikaner, verdient gemacht hat und dafür auch die höchsten akademischen Anerkennungen erhielt.
Aber auch Wilsons Bericht ist ein starker Appellcharakter eigen: Er wendet sich an all diejenigen, die in sozialen, politischen und religiösen Organisationen für soziale und wirtschaftliche Reformen arbeiten, um sie für ein multi-ethnisches, landesweites Bündnis zu gewinnen, das genug Macht besäße, auch auf die Gesetzgebung Einfluss zu gewinnen. Wilson ist dem Lager der traditionellen reformistischen amerikanischen Linken zuzuordnen, deren Ideale einer solidarischen, sozial gerechten, gar klassenlosen Gesellschaft gelten, von denen die Wirklichkeit des neuen Kapitalismus sich jedoch zusehends weg bewegt hat.
Interessant an Wilsons Buch ist, dass es einen Einblick in gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse gewährt, die einem hierzulande fremd erscheinen. Bei der Beschreibung und Analyse der sozialen Beziehungen wird nämlich ganz selbstverständlich mit Begriffen der Klassen- und Rassenanalyse hantiert, wobei die Frage, was denn nun eigentlich das dirty little secret, das schmutzige kleine Geheimnis, Amerikas sei, nämlich das Rassen- oder das Klassenproblem, nach wie vor umstritten ist.
Aus politisch-praktischen Gründen plädiert Wilson im Zusammenhang der anvisierten Bündnispolitik für eine - wie er es nennt - "ethnisch neutrale" Vorgehensweise, denn gerade die konservative Rechte habe das verbreitete Gefühl wirtschaftlicher Unsicherheit dazu benutzt, rassischen und ethnischen Spannungen das Wort zu reden, indem sie gezielt gegen eine Politik Front machte, die ethnische Minderheiten bevorzugt, und sie diese auch zum Sündenbock der wirtschaftlichen Ängste der verarmten weißen Bevölkerung erklärte. Von den weltweiten wirtschaftlichen Veränderungen infolge der Globalisierung seien jedoch Mitglieder der mittleren und unteren Einkommensklassen völlig unabhängig von ihrer rassischen und/oder ethnischen Zugehörigkeit betroffen, und aus diesem Grund müsse an Gemeinsamkeiten und nicht an Unterschiede appelliert werden. Die Gemeinsamkeiten fänden sich nun aber in der Klassenzugehörigkeit der vom Wandel Betroffenen. Wilson selbst beschreibt seinen Ansatz deshalb als rassenübergreifend, aber klassengebunden.
Bereits Ende der 70er Jahre hat Wilson zu zeigen versucht, dass "Rasse" als Kategorie der sozioökonomischen Analyse gegenüber dem Klassenbegriff an Bedeutung verliere, denn es habe sich inzwischen eine schwarze Mittelschicht herausbilden können, die ihren Klassenstatus, also die ihr eigenen materiellen und kulturellen Ressourcen, auch an die nachfolgende Generation weiterzugeben in der Lage sei. Das bedeute nun jedoch nicht, dass es keine rassische Diskriminierung und daraus abgeleitete soziale Probleme mehr gebe. Gerade die nichtausgebildete schwarze Bevölkerung der verwahrlosten Innenstädte sei von der ökonomischen Ausgrenzung durch die Globalisierung am härtesten betroffen. Weil es sich aber nicht nur um ein ethnisch begründetes Problem handele, griffe ein ethnischer Maßnahmenkatalog auch hier zu kurz.
Als Beispiel fügt Wilson an, dass 40 Prozent der Arbeiter in der Textilindustrie Afroamerikaner sind, ein Industriezweig, der infolge der Liberalisierung von Handel und Finanzen zunehmend in Billiglohnländer ausgelagert wird. Auf dem heimischen Niedriglohnsektor, also in der Jobwunderwelt der Serviceindustrie, wird es noch enger werden, wenn die von postindustrieller Arbeitslosigkeit Betroffenen zusammen mit den aus dem Wohlfahrts-System Hinauskomplimentierten in Scharen auf diesen Markt drängen. Auch hier zeigt sich also, dass Fabrikarbeiter, Billiglohnarbeiter, Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit und dem Verlust der Sozialhilfe Bedrohte an einem Strang ziehen sollten, und zwar unabhängig von ihrer Hautfarbe und Herkunft, denn die Profitinteressen großer Unternehmen und auch wirtschaftspolitische Maßnahmen scheren sich um deren Interessen keinen Deut. Klassenbewusstsein, so altbacken es hierzulande auch klingen mag, kann in einer Klassengesellschaft zu einem mächtigen politischen Instrument werden.
Sich qua Klasse zusammenschließen, statt rassisch oder ethnisch spalten zu lassen, lautet folglich auch Wilsons Devise.
Dabei spricht er sich nicht gegen eine Antidiskrimierungspolitik aus, wie sie beispielsweise in den affirmative action-Programmen verwirklicht worden ist. Dennoch hält er es aus pragmatischen Gründen für richtig, die ethnischen mit leistungsbezogenen Auswahlkriterien zu verknüpfen. Denn in erster Linie müssten jetzt die Voraussetzungen für einen klassengebundenen Konsens unterschiedlicher Gruppen geschaffen werden. Und hier heißt es, Prioritäten, also Rasse versus Klasse, klug abzuwägen. Wilsons extreme Vorsicht, die ihn für eine Politik der ethnischen Enthaltsamkeit plädieren lässt, mag allerdings auch als Indikator dafür gesehen werden, wie sehr sich die Lage der sozial Schwachen in einem höchst kompetitiven Wirtschaftssystem, dessen Arbeitskräfte unabgesichert und unorganisiert sind, bereits zugespitzt zu haben scheint. Zu guter Letzt mündet Wilsons Bericht dann auch in einen pathetischen Aufruf:
Eine neue demokratische Vision muss geschaffen werden, die die gemeinhin geltende Überzeugung überwinden hilft, dass ethnische Zugehörigkeit etwas derart Trennendes ist, dass Weiße, Schwarze, Latinos, Asiaten etc. sich nie für eine gemeinsame Sache einsetzen und zusammenarbeiten können... Darum rufe ich das amerikanische Volk und besonders die Sprecher der Armen, der arbeitenden Klasse, der Ausgegrenzten auf, die notwendige Debatte in einer Sprache zu führen, die das Gemeinsame unter den ethnischen Gruppen fördert. Dies ist die Aufgabe, die vor uns liegt!
Das Pathos gehört zum kulturellen Repertoire US-amerikanischer Ausdrucksformen und kommt besonders in Krisenzeiten gern zum Einsatz; es zeigt sich hier aber auch, wie wichtig Wilson das Vorgetragene ist, weil die Globalisierung auch das eigene System in ein mit sozialen Konfliktfeldern versehenes Territorium verwandelt hat, die es dringend zu bearbeiten gilt.
Barbara Ehrenreichs Erfahrungsbericht von der Arbeitsfront im Dienstleistungsgewerbe hat drastisch vor Augen geführt, wie notwendig die Mobilisierung eines kollektiven Geistes in einer Welt systematisch verängstigter und verelendeter Einzelkämpfer wäre.
William Julius Wilsons programmatische Vorschläge eines landesweiten Bündnisses mögen einen zuweilen zwar an verstaubte Arbeitskampfrhetorik erinnern, und man mag auch seine Zweifel haben, ob sich die doch sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen unter dem Klassenbanner zusammenfinden. Aber zu hoffen bleibt doch, dass Wilsons Vorschläge der massenhaften Ohnmacht und Vereinzelung vielleicht einen ersten Weg zur Solidarisierung weisen.
William Julius Wilson, "Soziale Ungleichheit in den USA", erschienen im Wiener Passagen Verlag hat 96 Seiten und kostet 27,40 DM.