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"Willkommen im Dorf"
Wie sich Jugenheim seiner Flüchtlinge annimmt

Ende 2014 zogen die ersten Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak ins rheinhessische Jugenheim - und wurden von der Dorfgemeinschaft förmlich aufgesogen. Schon vor der Ankunft waren Hilfen für die neun Flüchtlingsfamilien organisiert, die mittlerweile fest zur Gemeinschaft des 1.200 Jahre alten Weindorfs gehören.

Von Anke Petermann | 01.10.2015
    Mehrere Personen springen in die Luft und heben dabei die Hände.
    Am Wochenende lädt der TuS 1899 Jugenheim zum "Sportintegrationstag" mit Wettkämpfen im Tandem, da lassen sich die Kontakte zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen vertiefen. (Marcus Walther)
    Flüchtlinge in Deutschland: Der Deutschlandfunk startet zu dem Thema ein Langzeitprojekt. Wie gelingt das Zusammenleben und wo sind die Probleme? Wie gehen Flüchtlinge und Deutsche mit Enttäuschungen um? All das und viel mehr wollen wir beobachten am Beispiel von Jugenheim in Rheinhessen.
    Beitrag:

    "Ich bin abgeholt!"
    Lamar läuft durch den baumbestandenen Garten der evangelischen Kita ihrem Vater entgegen. Die Fünfjährige aus Syrien lebt seit acht Monaten in Jugenheim. Wo sie und ihr dreijähriger Bruder zuhause sind? Mitten im Dorf!

    "Hauptstraße, und meine Straße ist 3 und 0."
    Hauptstraße 30 also: Früher mal war das die Anschrift des Jugenheimer Pfarrhauses. Als die Evangelische Gemeinde das vor einem Jahr aus finanziellen Gründen abstoßen musste, sah der Kreis Mainz-Bingen darin eine Chance. Unterkünfte für Flüchtlinge wurden allmählich knapp - der Kreis kaufte das Haus aus dem 18. Jahrhundert und sanierte es mit dem eigenen Bautrupp.
    Ende 2014 zogen die ersten Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak ein. Und wurden von der Dorfgemeinschaft förmlich aufgesogen. Denn schon Wochen zuvor hatte der Kirchenvorstand in einem Aufruf an Vereine, Parteien und Einzelpersonen klar gemacht:

    "Wir werden Flüchtlinge bekommen, ob wir wollen oder nicht. Kümmern wir uns oder wollen wir das Ganze irgendwo laufen lassen?"
    Initiative für Flüchtlinge: "Willkommen im Dorf"
    Für Uli Röhm eine rein rhetorische Frage, denn dass er sich kümmern würde, stand für den späteren Koordinator der Initiative "Willkommen im Dorf" von vorn herein fest:

    "Ich selbst war erstaunt: Bei diesem ersten Treffen kamen über 50 Menschen zusammen und haben sich relativ spontan bereit erklärt, 'Ja wir wollen tun, was wir können'. Jemand, der Bankkaufmann ist, kann helfen, ein Konto einzurichten. Jemand, der Arzt ist, kann Ratschläge zum Gesundheitswesen geben, jemand, der im Bildungswesen tätig ist, wie kann ich mit der Sprache was machen."
    Das ehrenamtliche Netzwerk war also geknüpft, noch bevor die ersten Flüchtlinge kamen. Kita, Sportverein, Kirchenchor – alle waren aufs Willkommen eingeschworen. Dabei half die Zielstrebigkeit des ehemaligen ZDF-Wirtschaftsredakteurs Uli Röhm. Der 70-Jährige mit dem silbergrauen Haar kennt sich mit strategischer Kommunikation aus:
    "Es gab spontane Zusagen von einigen Vereinen und Verbänden, die gesagt haben, 'Ja, wir machen mit'. Es gab aber wohl auch welche, die hatten vergessen, zu antworten, die haben wir freundlich noch mal angefragt: 'Sollen wir wirklich in der Öffentlichkeit sagen, ihr macht nicht mit?' - und alle haben plötzlich mitgemacht."
    Ehemaliger ZDF-Redakteur sorgte für funktionierendes Netzwerk
    Sanfter Druck? Die Lachfältchen um seine Augen vertiefen sich ein wenig. "Freundliche Hilfe", korrigiert Röhm.

    "Vanja, wir brauchen noch Neles Puppe!"

    Sebastian Bauer holt seine beiden Kinder Vanja und Nele aus der evangelischen Kita ab und stößt am Tor auf Lamar, deren Vater und den dreijährigen Bruder Souher alias "Sousou". Wie sich die Kinder aus den Flüchtlingsfamilien einfügen?

    "Es funktioniert wunderbar. Also, die sind ja jetzt - wie lange seid ihr jetzt schon hier im Kindergarten? Halbes Jahr?"

    Bauer schaut zu Lamar und Sousou.

    Lamar: "Ja."
    Souher: "Ich auch."
    "Und das klappt wunderbar. Auch hier mit dem Deutschlernen klappt das ganz gut. Als der Sousou ungefähr drei Monate hier war, konnte er bereits ausreichend Deutsch, um mir zu petzen, dass der Vanja, der gerade hochgelaufen ist, ne Schnecke zertreten hat", amüsiert sich der junge Vater über den drei Jahre alten arabischen Muttersprachler. Der Wind zaust über ihm die Blätter aus den Bäumen.
    Jugenheims Unternehmer können auf Nachwuchs hoffen

    Mohamad Süleiman kehrt das Laub zusammen und häuft es in eine Schubkarre. Der 23-Jährige arbeitet im Wechsel mit seiner älteren Schwester stundenweise in der Kita, zum Mindestlohn, und zwar als "Hausmeister".
    Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD, r) und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD, 2.v.r.) nehmen am 24.08.2015 in Jugenheim bei Mainz an einer Deutschstunde für Flüchtlinge teil.
    Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD, r) und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD, 2.v.r.) nehmen am 24.08.2015 in Jugenheim bei Mainz an einer Deutschstunde für Flüchtlinge teil. (picture alliance / dpa / Peter Zschunke)
    Vor einem Jahr kam Süleiman mit Eltern und Geschwistern aus dem syrischen Aleppo. Die fünfköpfige Familie gehört zu den Kontingentflüchtlingen, die aus humanitären Gründen aufgenommen werden und kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Süleimans Hauptbeschäftigung ist - wie für die anderen Flüchtlinge derzeit:

    "Ich mache jetzt Deutschkurs hier in Jugenheim."

    Den amtlichen Deutsch- und Integrationskurs, den die Volkshochschule im Gemeindehaus abhält.

    "Ich habe noch drei oder vier Monate und dann fertig."

    Mit dem B1-Abschluss fürs mittlere Niveau. B2 für Fortgeschrittene will der junge Syrer später noch dran hängen. Täglich paukt er drei Stunden, schaut deutsche Filme, lernt soeben – neben den Paten und Helfern im mittleren Alter - auch gleichaltrige Deutsche kennen. Am Wochenende lädt der TuS 1899 Jugenheim zum "Sportintegrationstag" mit Wettkämpfen im Tandem, da lassen sich die Kontakte vertiefen. Und dann ist da noch eine Hoffnung, nämlich, dass es was wird mit dem Mini-Job in einer Jugenheimer Auto-Werkstatt. Süleimans jüngerer Bruder arbeitet schon auf 400-Euro-Basis bei einer Elektronik-Firma am Ort.

    "Die Leute aus Syrien mögen Arbeit."

    Jugenheims Unternehmer, ob im Friseur-, Sanitär- oder Elektrohandwerk, können auf Nachwuchs hoffen, die beiden Kindergärten im Dorf auch. Gut so, meint Sebastian Bauer, Vater von Vanja und Nele:

    "Zuletzt sah es so aus, dass uns ein bisschen die Kinder ausgehen würden, und insofern war es ganz passend, dass noch die ..."

    Bauer nimmt seine quengelnde Tochter auf den Arm:

    "Dass noch die anderen Kinder dazu gekommen sind, weil - dadurch war der jetzt quasi wieder voll besetzt, das war eigentlich ganz günstig. So allein aus den Leuten, die jetzt hier wohnen, lässt sich der Kindergarten eigentlich nicht befüllt halten."
    Anti-Falten-Kur fürs Dorf inklusive Sonderkonjunktur dank der Zuzügler
    Mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben die neun Flüchtlingsfamilien dem 1.200 Jahre alten Weindorf sozusagen eine Anti-Falten-Kur beschert. Zuletzt hatte Jugenheim Einwohner verloren. Dank der Zuzügler, die mit dem Rad statt mit dem Auto einkaufen, erlebt der Mini-Supermarkt eine kleine Sonderkonjunktur.

    "Kinder, wartet mal! Ja, ein Vollernter. Geht da bitte nicht hin – der ist groß", ruft Sebastian Bauer am Tor der evangelischen Kita. Doch Vanja, Nele, Lamar und Sousou verstehen plötzlich alle kein Deutsch mehr. Egal ob im Weindorf geboren oder später zugezogen - so eine riesige, rot lackierte Trauben-Erntemaschine muss man aus der Nähe bestaunen, da sind sich die Steppkes einig.

    "Sousou!"

    Die vier stürmen los. Und zwei Väter – ein syrischer und ein deutscher - genauso einig in ihrer Sorge, sprinten hinterher.