"Um unsere Kriminalpolitik steht es schlecht, in der Theorie wie in der Praxis. (...) Telefonüberwachung, Datenabgleich, Rasterfahndung, verdeckte Ermittlungen oder langfristige Observationen streuen breit über Gerechte und Ungerechte, und der Gesetzgeber hat ein übriges getan und auch Kontaktpersonen einbezogen. Dieser Typ von Ermittlungen ist nicht mehr auf einzelne Verdächtige konzentriert, er wird vielmehr auf Bereiche, auf Felder ausgedehnt, in denen sich neben den einen eben auch die anderen aufhalten. Alle landen, jedenfalls zuerst einmal, im ermittlungstechnischen Staubsauger und müssen dann sehen, dass sie schnellstmöglichst wieder herauskommen."
Die Polizei hat immer mehr Befugnisse bekommen, und die Strafgesetze sind immer mehr verschärft worden:
"Man (... ) traut dem Strafrecht die passenden Lösungen zu: die Umwelt zu retten, den Terrorismus zu beseitigen, den Drogenmissbrauch abzuschaffen. Kaum wird ein Problem öffentlich wahrgenommen, schon hört man Verantwortliche und weniger Verantwortliche unisono nach dem Strafrecht rufen, und immer geht es um Verschärfung und Verbilligung: Doping bei Sportlern, (...) illegale Einwanderung, Korruption."
Macht euch doch nichts vor, so scheint Hassemer an seine Leser zu appellieren: Eine Gesellschaft ohne Kriminalität gibt es nicht. Er erinnert daran, dass es immer ein Kennzeichen autoritären Denkens gewesen ist, der Bevölkerung das Märchen von der kriminalitätsfreien Gesellschaft zu erzählen. Dabei würden die Regierungen immer mehr an der Kontrollschraube drehen und die Gesetze zu Lasten der Bürger verschärfen, ohne dass sie das Ziel je erreichen, eine Gesellschaft ohne Gesetzesverstöße zu schaffen
Dabei plädiert Hassemer keineswegs dafür, die Hände in den Schoß zu legen. Praktische Phantasie ist gefragt, sagt er. Man könne kriminell organisierten Autohandel damit bekämpfen, dass man den Großen Lauschangriff gegen internationale Hehlerbanden einsetzte. Man könne aber auch genauso gut die Industrie zum Einbau von Wegfahrsperren anhalten. Im Drogenbereich müsse vor allem darauf geachtet werden, die Märkte Schritt für Schritt auszutrocknen. Dann würde auch der Beschaffungskriminalität der Boden entzogen. Und was die Gewaltkriminalität unter Jugendlichen angehe, so Hassemer, müsse es für uns allerhöchste Priorität haben, Kindern und Jugendlichen sinnvolle Beschäftigungen zu bieten.
Die Aufsatzsammlung von Verfassungsrichter Winfried Hassemer ist sehr interessant, zum Teil aber ein wenig theoretisch. Da ist das Buch von Heribert Ostendorf, "Wie viel Strafe braucht die Gesellschaft?", eine gute Ergänzung. Der frühere Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein, der heute als Professor Strafrecht an der Universität Kiel lehrt, hat in vielem dieselben Ansichten wie Verfassungsrichter Hassemer. Aber Ostendorfs Buch hat einen ganz anderen Charakter: Da schreibt ein Praktiker in klarer, ungeniert direkter Sprache, was er von dem Ruf nach mehr Strafe hält. Ostendorf kritisiert, dass in den letzten Jahren geradezu eine Straflüsternheit ausgebrochen sei. Als Beispiel führt er an, dass im hessischen Landtagswahlkampf 1999 mit der Einführung des "härtesten Strafvollzugs aller Bundesländer" geworben wurde. Nicht nur in China oder in den USA stiegen die Zahlen der Hinrichtungen ständig. Ostendorf verweist darauf, dass auch bei uns nach einer Meinungsumfrage von 1996 immerhin 60 Prozent der Bundesbürger dafür sind, Sexualmörder hinzurichten, deren Opfer Kinder waren.
Dieser Straflüsternheit etwas entgegenzusetzen, das ist das Anliegen von Ostendorf. Vieles, was er schreibt, ist durchaus bekannt. Die Stärke seines Buches ist, dass er die Argumente gegen die Straf-Fanatiker in bestechender Einfachheit vor dem Hintergrund seiner eigenen praktischen Erfahrungen zusammenfasst.
Beispiel: Drogenpolitik. Anfang der neunziger Jahre ging jeder zweite Auto-Diebstahl und jeder dritte Wohnungseinbruch auf das Konto eines Rauschgiftsüchtigen. Diese Taten hätten vermieden werden können, meint Ostendorf. Um die These zu belegen, berichtet er von einem Methadon-Programm aus Schleswig-Holstein, bei dem die Hälfte der 500 Teilnehmer während der Behandlungszeit nicht mehr mit der Strafjustiz in Kontakt kamen. Ostendorf plädiert dafür, die bloßen Konsumenten zu entkriminalisieren und ihnen deutlich mehr Hilfen anzubieten.
Die Strafverfolgungsorgane funktionierten bei den Schwachen, bei den Mächtigen dagegen kaum, bemängelt Ostendorf. Angesichts begrenzter Ressourcen müssten Polizei und Staatsanwaltschaft sich aber vor allem auf die Kriminalität der Mächtigen konzentrieren, diejenigen, die die weitaus größeren Schäden für die Gesellschaft anrichten. Ein Ladendieb würde ausreichend bestraft, wenn er eine Geldbuße zahlen müsse. Beim Wirtschaftsstraftäter sei ein viel größerer Einsatz der Ermittler und der Strafjustiz nötig.
Zum großen Teil beschäftigt sich Ostendorf in seinem Buch mit der Frage, wie mit jugendlichen Straftätern umzugehen sei . Denn in der Öffentlichkeit wird vor allem nach härteren Strafen für Jugendliche gerufen. Ostendorf warnt vor Illusionen: Jugendliche einzusperren bringe wenig; die Rückfallquote von inhaftierten Jugendlichen liege etwa bei 70 Prozent. Der ehemalige Generalstaatsanwalt findet es vor allem wichtig, dass Behörden und Gerichte darauf achten, "jugendadäquat" zu handeln. Mit den Jugendlichen müsse gesprochen werden; ein schriftliches Strafbefehlsverfahren bringe erfahrungsgemäß nichts. Und: Alle müssten sich intensiver um die Problemfälle kümmern. Circa fünf bis zehn Prozent der Jugendlichen seien für die Hälfte aller Straftaten dieser Altersgruppe verantwortlich. Hierauf müsse sich die Jugendstrafrechtspflege konzentrieren.
"Bei alledem (...) muss uns klar sein, dass wir nur ein Reparaturbetrieb sind. Wir, die Strafjustiz kommen erst zum Einsatz, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. (...) Wir, die wir die begrenzten Wirkungen strafrechtlicher Maßnahmen tagtäglich erfahren, gerade wir müssen mehr Prävention, mehr gesellschaftliche Prävention vor Kriminalität einfordern."
"Winfried Hassemer: Strafen im Rechtsstaat" hat 308 Seiten und kostet 124 DM. Es ist ebenso im Nomos Verlag erschienen wie Heribert Ostendorfs "Wie viel Strafe braucht die Gesellschaft", das 219 Seiten hat und 68,-- DM kostet.