Freitag, 19. April 2024

Archiv


Winnetou und Che Guevara

Der Schriftsteller Karl May starb in diesen Tagen vor 100 Jahren. Mit seinen Abenteuerromanen und den Geschichten über Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi avancierte der Sachse zu den meistgelesenen Schriftstellern deutscher Sprache. In mehr als 33 Sprachen wurde er übersetzt. Viele seiner Werke sind auch verfilmt oder zu Hörspielen verarbeitet worden.

Von Friedhelm Lövenich | 11.03.2012
    Karl Mays Reiseerzählungen handeln von exotischen Schauplätzen, dem Wilden Westen oder dem Vorderen Orient. Da er stets Partei ergriff für das Schicksal unterdrückter Völker, wurde er auch gern politisch in Anspruch genommen. In dem nun folgenden Essay von Friedhelm Lövenich über "Winnetou und Che Guevara." geht es zum Beispiel um das Verhältnis der deutschen Linken zu Karl May und seinem Werk.

    Friedhelm Lövenich promovierte an der Universität Frankfurt in Soziologe. Er ist Übersetzer, Lektor und Texter und arbeitet als freier Dozent. Lövenich schrieb das Buch "Verstaatlichte Sittlichkeit. Über Wilhelm Heinrich Riehls 'Naturgeschichte des Volkes'", das 1992 im Leske und Budrich Verlag erschien.


    Winnetou und Che Guevara
    Karl May und die deutsche Linke
    Von Friedhelm Lövenich

    "Lieber als Karl Marx ist mir als Revolutionär Karl May", erklärte 1989 der sandinistische Innenminister Nicaraguas Tomás Borge Martínez in Erinnerung an den liebsten Schriftsteller der Deutschen, der vor hundert Jahren am 30. März 1912 starb. Von Karl May sollen insgesamt zweihundert Millionen Bände verkauft worden sein, die Hörbücher und -kassetten nicht mitgerechnet. May ist damit der weltweit meistgelesene deutsche Autor. Und dies, obwohl er gerade als Schriftsteller von den meisten bis dato nicht ernst genommen wurde. Nur Agatha Christie mit ihren Krimis und Joanne K. Rowling mit Harry Potter haben mehr Bücher verkauft.

    Auf Mays ungebrochene Popularität verweist auch Rüdiger Schaper zu Beginn seiner gerade erschienenen Biografie über den "Untertan, Hochstapler und Übermenschen":

    "Der Name Karl May hat nur eine sehr dünne Patina angesetzt. Er ist nie aus dem Bewusstsein verschwunden, er schlummert und wartet unter der Wahrnehmungsoberfläche, ein Geist in einer unverschließbaren Flasche. Seine Idee von religiöser Toleranz, seine Offenheit für fremde Kulturen, sein von flachen Hierarchien und einem leidenschaftlichen Friedensgedanken geprägtes Bild der Welt entfalten im 21. Jahrhundert aufs Neue ihren Charme, ihre Verführungskraft."

    Dass Mays Erzählungen mit ihren deutschen Recken von den eher national bis nationalistisch Gesonnenen, besonders dabei von den Nationalsozialisten, für ihre Ideologie in Beschlag genommen wurden, verwundert niemanden.

    So erinnert auch Schaper an zwei Schriftsteller, die die Instrumentalisierung Mays durch die Nazis hervorkehrten. Klaus Mann zum Beispiel habe May als "Hitlers Mentor" und "schaurigen" Realisator "seiner Träume" gehasst, Während der Dramatiker Heiner Müller noch kurz vor seinem Tode 1995 festgestellt habe:

    "Ich war zwar antifaschistisch erzogen, aber Deutscher sein, hieß auch Indianer sein ?...? Ja, die Nazis haben das genial benutzt; das antizivilisatorische Moment, die Sehnsucht nach Wildheit in diesen Geschichten."

    Doch das ist nur die halbe ideologische Wahrheit. Denn auch für die Linken war der erklärte Pazifist May ein literarischer Held. Über die jugendliche Identifikation hinaus hat sich manches seelisch angesammelt, was später in revolutionärer Kostümierung wieder hervortreten sollte, gleichsam aus dem unterirdischen Labyrinth - so wie sich Kara Ben Nemsi aus den dunklen Gängen unter den Ruinen von Baalbek selbst befreit.

    Ernst Bloch, Hermann Hesse, Karl Liebknecht, Egon Erwin Kisch, Erich Mühsam, Gerhard Zwerenz, Hans Fallada, Carl Zuckmayer, der seine Tochter sogar "Winnetou" nannte - sie alle haben sich zu ihrer May-Begeisterung "bekannt". Auch zum Mythenschatz jener "Neuen Linken", die in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts aufgebrochen waren, gehört ohne Zweifel das immer noch lodernde Feuer kindlicher Begeisterung für Kara Ben Nemsis, Old Shatterhands und Winnetous Einsatz für die Gerechtigkeit.

    Wie viel May steckte in den Achtundsechzigern, ihrem Denken und Abenteurertum, könnte man fragen? Nicht dass sie in ihrer Kindheit beim "Cowboy und Indianer-Spiel" bereits die Weltrevolution geprobt hätten. Aber die "Stadtindianer" der frühen 1980er-Jahre hätte es vielleicht ohne Winnetous, Wokadehs oder Apanatschkas Vorbild oder Old Shatterhands Verteidigungsreden für die indianische Kultur und deren Widerstand so kaum gegeben.

    Gewiss, May taugt nicht zum Ahnherren rechter oder linker Positionen, wie man etwa Nietzsche für den Nationalsozialismus oder Marcuse für den Terrorismus der RAF verantwortlich machen wollte. Aber - zumindest im deutschen Sprachraum - hat wohl niemand eine derartige Wirkung erzielt wie Karl May mit seinen Sehnsuchtshelden Old Shatterhand und Winnetou, sonst wären seine Bücher nicht über ein ganzes Jahrhundert hin Bestseller geblieben.

    Seine mehrdeutigen Geschichten und zwiespältigen Figuren haben das Gerechtigkeitsstreben vieler motiviert, Energie und zuweilen auch Explosionskraft freigesetzt, das utopische wie konservative Denken von ebenso toleranten wie autoritären Charakteren bestärkt,

    May hinterließ Spuren. Schon beim utopiebesessenen alten Stammeshäuptling und Großvater der 68er, Ernst Bloch, dann beim winnetouhaften Helden Che Guevara, der zur wahren Popikone aufsteigen sollte, und bei den alternativen Nachfolgern der 68er in den 1980er-Jahren, die von urbanen Indianern träumten.

    Karl May als Redakteur, 1890
    Karl May als Redakteur, 1890 (Karl-May-Gesellschaft e.V.)
    Erstens: Die Spurenlese einer jugendlichen Utopie
    Der sozialrevolutionäre Anti-Sozialist May war beliebt in der deutschen Linken. Jedenfalls bei der mit Geist und Humor, esprit und éducation, und nicht bei den verbeamteten Marxisten, den Kulturfunktionären der DDR, die in May nur einen wilhelminisch gestimmten kapitalismus- und imperialismusfreundlichen Ideologen sahen.

    Aus seinen Werken lässt sich gewiss auch einiges über der Deutschen geistiges und seelisches Vaterland herauslesen. Wir erfahren manches über die deutsche Geschichte und ihre Motivationslagen.

    Aber sie sahen eben auch das andere - oder genauer: spürten es heraus und empfanden - unter Umständen nur unbewusst - den utopischen Zusammenhang zwischen dem Zukunftsland des Sozialismus und dem Abenteuerland des Eskapismus, zwischen dem erhofften politischen Paradies der idealen Gesellschaft und der erfundenen idyllischen Oase im wüsten Llano estacado - die zugleich als Hoffnungsort in der verdörrten Wüste doch auch das Urbild der "konterrevolutionären" kleinen Nische für diejenigen darstellt, denen es gelungen ist, sich im allgemeinen Unglück ihr privates Nest zu bauen. Und so ist es immer bei May, daheim und in der Fremde, in allen fernen Weltecken: Je nach politischer Perspektive und ethischem Blickwinkel erscheint er als utopischer Autor oder als reaktionärer Ideologe.

    Unbestreitbar ist, dass die Sympathien des in der Unterschicht geborenen May in aller Regel auf der Seite der Unterdrückten liegen - jedenfalls solange, wie sie nicht als soziale Revolutionäre gegen die bürgerliche Gesellschaft auftreten: auf der Seite der vor der vollständigen Ausrottung stehenden "indianischen Rasse", wie May sie zu nennen pflegte, und auf der Seite der vom Osmanischen Reich unterworfenen, ursprünglich freien Beduinen in Nordafrika und im Nahen Osten sowie aufseiten anderer unterdrückter Völkerschaften in Weltgegenden.

    Supersachse Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi handelt und kämpft mit seinen "Gefährten" im Interesse der Erniedrigten und Beleidigten, Bestohlenen und Bedrohten, Bedrängten und Gefährdeten.

    Da kommen auf dem ganzen amerikanischen Kontinent die Weißen nicht gut weg, ebenso wenig wie in anderen, vom europäischen Kolonialismus heimgesuchten Weltecken. Manches der linken USA-Kritik der 68er ist vermutlich auch beeinflusst worden durch das negativ gezeichnete Bild des rücksichtslos das Land der indianischen Ureinwohner besetzenden und sie verdrängenden, ja ausrottenden "hinterlistigen Yankees", über den es in den grünen Bänden unter anderem heißt:

    "(dass) der echte Yankee, der native (Yankee) schuld am Untergange der Indsmen, am gewaltsamen Tod seines roten Bruders ist".

    Ernst Bloch - selbst einmal wie mancher bei May vorkommende ebenfalls studentenbewegte 1848er ausgewandert nach Amerika wegen politischer Verfolgung und später noch einmal von Deutschland nach Deutschland - hat das, auf die Aktualität der amerikanischen Politik seiner Zeit bezogen festgehalten:

    "Schöne Erinnerung aus der eigenen Jugend beim Gedenken an Karl May. Die Nazis haben sich auf ihn etwas zugute getan, als hätte er ihre eigene Mörderrasse verherrlicht. In Wahrheit wimmelt es bei ihm von weißen Schuften, Rowdys, oft auch von germanischer Hergekommenheit, wie es in ‚Satan und Ischariot II' bei freilich anderer Gelegenheit heißt. Aber Empörung, Trauer und Liebe wenden sich den verfolgten Indianern zu und ihrem Untergang durch etwas, das man in Vietnam heute Ledernacken heißt. Selbst im Orient ist dieser Volksschriftsteller mit Rat und Tat auf Seite der unterdrückten Kurden und ihrer Revolte gegen die brutalen Kolonialherren in Mossul."

    Der Titel dieser kurzen, 1967 geschriebenen Notiz lautet Charley. Er verbindet damit den Vornamen, den der deutsche Karl verschiedentlich als Old Shatterhand im Wilden Westen oder auch "am Stillen Ozean" als den seinen angab. Auch Winnetou rief ihn so. Mit "Charlie" war auch die Bezeichnung der amerikanischen GIs für den Vietcong gemeint, der während der Studentenrevolte mit Ho-Chi-Minh-Rufen angefeuert wurde. Bloch verknüpft ganz selbstverständlich den Einsatz des "Freundes aller roten Männer" für ihre Interessen mit dem "anti-imperialistischen Kampf" in der Dritten Welt, die Mays Wildem Westen entspricht.

    Bloch lieferte sich mit Carl Zuckmayer auf dem Heidelberger Philosophenweg Duelle über den Sagenstoff Mays; und von Bloch ist die Bemerkung überliefert, er kenne nur Karl May und Hegel, alles andere sei eine unreinliche Mischung. "Old Bloch", wie er von seinem ehemaligen Leipziger Studenten Gerhard Zwerenz genannt wurde, fasste Mays Werk vor allem unter dem Aspekt der Kolportage auf, jener im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorläuferin der Soapopera, die mit inhaltlich und formal oft schematischer Gestaltung für, wie es heute heißt, "bildungsferne Schichten" geschrieben wurde und von sogenannten "Literaturhändlern", oder eben Kolporteuren, Klinken putzend unters Volk gebracht wurde.

    Karl May selbst wehrte sich dagegen, herabmindernd nur der Kolportage-Literatur zugeordnet zu werden. Nicht ganz zu Recht. Denn auch bei ihm finden sich viele Elemente dieser Literaturgattung, zum Beispiel in seinen Reiseerzählungen. Etliche Jahre hatte er Verlage als Kolportage-Schriftsteller mit solcher "Schundliteratur" beliefert, wie er sie selbst abfällig zu bezeichnen pflegte.

    Für den von den Studenten verehrten alten Häuptling Bloch ist May daher so eine Art "Marx für Jugendliche" und "einfache Leute", deren Abenteuerträume in ähnlichen Sehnsuchtsräumen angesiedelt sind wie in jenen utopisch aufgeladenen nach "einem besseren Leben". Bloch schreibt:

    "Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter; und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt",

    Damit formuliert die Kolportage einen evidenten Zusammenhang zwischen Volks-Schriftstellerei und Volks-Politik. Bloch zufolge hat die Kolportage

    "Zugang zum Jahrmarkt, zur Wild- und Traumkraft des Volks. In dieser Traumkraft dringt zugleich die Kolportage seit hundert Jahren steigend vor, hat die sesshaften Kalender, die Schnurren des bedürfnislosen Volks überrannt, greift neu die Urelemente von Glanz und Weitensehnsucht auf. In der Freizügigkeit entstanden, ja sinngemäß aus ihr erst möglich, teilt so die Kolportage ihre Motive mit den alten Abenteuer-, Verfolgungs- und Rettungsepen, mit den Urstoffen des alten Rittersangs; und sie hält, in einem immerhin aktuellen, einem freizügigen Wunschtraum, diese Grundkämpfe zwischen Gut und Böse frisch, mit endgültigem Sieg des Guten. Auch hier also reinigt sich Kolportage gerade noch aus den Motiven der Traumkraft, als eines nicht nur schwebenden, sondern ferntreffenden, als eines kreuz und quer gemischten, halb schiefen, halb übergraden Vehikels von Vorwirklichkeit. Und der Inhalt der Freizügigkeit schlechthin erscheint: Schurken, die sie hindern, weite Prärie, gefährliche Stadt, Räuberbraut, Detektive des Schlechten, Held und edle Rächer, alle Gestalten der Dämonie und des Lichts."

    In den jungen Linken der 60er- und 70er-Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts wirkte ihre Abenteuerlektüre auf diese Art fort, unbewusst, wie Blochs Schilderungen es ausführen, oder erschreckend bewusst: Erinnert sei an jene aufsehenerregende Flugschrift während des Deutschen Herbstes 1977, in der ein anonymer Verfasser aus Göttingen seine "klammheimliche Freude" über die Erschießung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback durch die RAF zum Ausdruck brachte. Als nom de guerre wählte er "Mescalero", den Namen von Winnetous Stamm.

    Ernesto "Che" Guevara am Flughafen Havanna 12.6.1962
    Ernesto "Che" Guevara am Flughafen Havanna 12.6.1962 (AP Archiv)
    Zweitens: Der ewige "Kampf für die Gerechtigkeit"
    Die Begeisterung, die bei idealistischen jungen Linken mitschwingt, ist rasch erklärt: Es ist das Kämpferische des Indianers, der Mut und die Verwegenheit des Kriegers, der "Kampf für die Gerechtigkeit", der Winnetou und Old Shatterhand, der zum roten Blutsbruder gewordene Weiße aus deutschen Landen, stets antreibt.

    Der für die Befreiung der Unterdrückten kämpfende und wie Winnetou dabei sterbende Che Guevara, seit Generationen auf Plakaten bei Demonstrationen auftauchend und millionenfach als Poster oder auf T-Shirts von Bürgerkindern gekauft oder auf dem Arm des gestrandeten Fußball-Helden Diego Maradona tätowiert, erscheint wie eine imitatio Winnetous als Archetyp des ebenso gut aussehenden wie guten Revolutionärs, des politisch korrekten "Edelmenschen", wie Karl May seinen Helden adeln sollte.

    Ohne eine diffuse Mischung aus kindlichen Fantasien, Träumen und Sehnsüchten kommt wohl kein utopischer Idealismus aus. Offenbar hat sich bei jungen Lesern und Nachspielern von Abenteuern ein role model eingeprägt, das "Tapferkeit vor dem Freund", wie Ingeborg Bachmann es ausdrückte, moralische "Kriegertugenden", Mitmenschlichkeit und Zivilcourage, ja "mannhaftes" Einstehen gegen das Unrecht "verlangt".

    Ohne Zweifel folgten die Studenten- und die Alternativbewegung sowie die "neuen sozialen Bewegungen" einem Menschheitsideal, das dem Geist in Karl Mays Werk durchaus ähnlich war und - politisch gewendet und marxistisch belehrt - nach dem "Edelmenschentum" strebte. Dieses sollte einmal später von rechten wie von linken Zynikern als blutleeres "Gutmenschentum" verhöhnt werden. Wie auch Winnetou und Old Shatterhand dies oft von ihren verschlagenen Feinden, erfahren mussten. So zum Beispiel in den abfälligen Äußerungen des amerikanischen King of Cowboys, jenes Farbige so verachtenden "Yankees" Fred Cutter, der als Old Wabble die Menschheitsmoral und das christliche Weltbild des kampferprobten aber doch so friedfertigen Globetrotters aus dem Erzgebirge verspottet und ihn als "frommen Schäfchenhirten" vorzuführen versucht.

    Daniel Cohn-Bendit, Veteran von 68, hat in der Rückschau 30 Jahre später die nahezu gewollte illusionäre Identifikation mit der Traumfigur Che Guevara hervorgehoben, der geradezu wider besseres Wissen und trotz der Kenntnis seiner dunklen totalitären wie diktaturfreundlichen Seiten als strahlender edler Held der Dritten Welt verehrt wurde und noch wird, an der sich die Erste ein Beispiel zu nehmen habe:

    "Der größte Star der antiautoritären Bewegung war Che Guevara [...] Dabei wurde Che mehr wie eine Popikone verehrt und diente als Objekt sexueller Projektion. Die Bewunderung für ihn, Mao Zedong oder Ho Chi Minh - das waren doch alles Projektionen unseres Wunsches nach Emanzipation und Befreiung. Der Realitätsgehalt ihrer Texte und das, was sie wollten und taten, wurde nicht geprüft. Wir nahmen sie als Metaphern unserer Wünsche."

    Das klingt wie eine psychologische Parallelerklärung für die Faszination, die Winnetou, "der Rote Gentleman", wie es in der ersten Buchauflage von Mays Winnetou noch heißt, auf die jugendlichen Karl-May-Leser ausgeübt hat. Grünen-Sprecherin Claudia Roth drückte es einmal so aus:

    "Als Kind träumte ich mich in die weite Welt von Winnetou, Old Shatterhand, Nscho-tschi und Kara Ben Nemsi. Bei mir hing als junges Mädchen zunächst Winnetou im Zimmer, dann irgendwann Che Guevara."

    "Che" bedeutet bekanntlich soviel wie "Kumpel" oder "Freund". Ernesto Guevara wurde so genannt, weil er selber seine Freunde mit diesem Namen ansprach. Freundschaft - und erst recht "Blutsbrüderschaft" - ist der utopische Gegenentwurf von Beziehungen gegen die kapitalistische Realität der Konkurrenz "unter Geiern" im Wirtschaftsleben, aber auch des hinterhältigen Statuskampfes "unter Freunden" und der alltäglichen Gehässigkeit "unter Nachbarn".

    Solche Freundschaft und Waffenbrüderschaft der brothers in arms - wie illusionär sie auch sei -, kann in der Abenteuerwelt noch bestehen, jedenfalls in den romantisierten Gegenden des amerikanischen Urwalds wie des bolivianischen Dschungels: "Der beste, treueste und opferwilligste" Freund und Kumpel, den Old Shatterhand je hatte, war eben Winnetou - und der musste genauso sterben wie Che, im gerechten Kampf für die Schwachen und das Gute erschossen von den Bösen. An seiner Gestalt scheiden sich in Karl Mays Geschichten Gut und Böse: Wer für ihn war oder für wen er sich einsetzte, das waren die Guten, die anderen die Bösen.

    Auch Winnetou war kein unpolitischer Mensch, sondern arbeitete als politischer Agent für den liberalen mexikanischen american native Benito Juarez und damit gegen die von Frankreich gestützte mexikanische "Herrscherklasse" und Klassenherrschaft. Doch der "liebe, liebe Winnetou" wirkt in allen Phasen seiner Entwicklung durchaus nicht überall so human und "civilisiert". Immerhin stand der phasenweise brutale Apatsche Geronimo für ihn Modell. Nach dem Mord an seiner Schwester und an seinem Vater durch den amerikanischen Raubkapitalisten Santer spielte er gar mit dem Gedanken, den "bewaffneten Kampf" aller Indianer gegen die Weißen anzuführen, einen letztlich sinnlosen Kampf, nahm aber dann davon abstand. Anders als Che oder die RAF, aber wie etliche 68er, die lieber den "langen Marsch durch die Institutionen" antraten.

    Sit-in an der Freien Universität Berlin, 10.7.1968
    "Cowboys und Indianer"? Sit-in an der Freien Universität Berlin, 10.7.1968 (AP Archiv)
    Eine links, zwei rechts: Vorkämpfer der trendy Stricker im Jahre 1981.
    Eine links, zwei rechts: Handgemachtes im Jahre 1981. (AP)
    Drittens: Grüne Rothäute oder: Die urbane Idylle der Stadtindianer
    Die wild und frei über die Prärie und durch die Wälder streifenden Indianer verkörpern in Mays Erzählungen das Wunschbild eines vom Kapitalismus und seiner einengenden "Zivilisation" befreiten Lebens, das der Entfremdung (noch) nicht unterworfen ist, und wo Natur und Geist noch miteinander verbunden sind.

    Auch die Alternativen der späten 70er- und frühen 80er-Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts beteten in ähnlich esoterischer Anmutung wie bei May die Kultur des Indianers an und lauschten seinen schamanenhaften Weissagungen über das Ende der westlichen Geld(un)kultur mit offenen Ohren.

    So lautete das berühmte fiktive Diktum der Cree, das freilich weder ein Cree noch irgendein anderer Indianer so je geäußert hat - das aber als Autoaufkleber zum Kultspruch ökologisch bewegter Alternativer in den 80er-Jahren wurde:

    "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann."

    Winnetou hätte es ähnlich sagen können. Sein Vater Intschu tschuna, der bald ein Opfer weißer Goldgier werden sollte, tat es:

    "Der Goldstaub, nach welchem die weißen Goldsucher streben, ist ein Staub des Todes; wer ihn zufällig findet, geht daran zugrunde. Trachte nie danach, ihn zu erlangen, denn er tötet nicht nur den Leib, sondern auch die Seele!"

    Mays berechtigte Kritik sollte noch Jahrzehnte später nichts an ihrer motivierenden Kraft einbüßen. Die Indianer werden geliebt, weil sie kein beladenes Opferkollektiv sind, das sich seinem Schicksal beugt. Sie gelten als die "absolutesten" Gegner der US-amerikanischen Lebenswirklichkeit des Yankee-Kapitalismus, in der Literatur, aber eben auch in der Realität.

    "Winnetou reitet wieder" lautete ein weitverbreitetes ironisches Sponti-Graffiti, das man in den frühen 1980er-Jahren an den Häuserwänden der großen Städte lesen konnte. Mit ihm ritt der kapitalismuskritische "Stadtindianer", der häuserbesetzend sein Recht auf Wohnraum ebenso einforderte wie die Rothäute jenes auf eigenes Land und der wie sie auf das Recht der Natur gegen deren industrielle Vermarktung pochte.

    Unter den Weggefährten der grünen Gründergeneration der Grünen kreuzten sich häufig zwei May-Momente - die Indianerromantik und ein "romantischer Antikapitalismus". Damit war jene Mischung aus einer nachkindlichen Abenteurermentalität gemeint, wie sie häufig in Hüttendörfern oder bei Hausbesetzungen im Metropolenkiez anzutreffen war, einer jugendlichen Revolutionsfantasie, die aus Empörung Solidarität mit den unterdrückten Völkern der Dritten Welt inszeniert, und einem Engagement für die Natur, das die Tier- und Pflanzenwelt ihrerseits wie ein unterdrücktes Dritte-Welt-Volk begreift.

    Karl May kann gewiss als ein Vorläufer der politischen Ökologie, der Dritte-Welt-Bewegung und der ethnologischen Romantik angesehen werden. Natürlich war er damit nicht der erste und erst recht nicht der einzige, sondern viel eher einer der vielen Zivilisations- und Europamüden, die der Moderne ein - leider nur rückwärtsgewandtes - kritisches Gegenbild vorgehalten haben, um die lebensweltlichen Kosten und Verluste an Menschlichkeit einzuklagen, die sie mit sich führt.

    Die Apachenfreunde wussten mit ihren 10, 12 Jahren natürlich noch nichts von Rousseau und seinen Jüngern. Später jedoch waren viele von ihnen umso leichter empfänglich für die Kritik an der "Dialektik der Aufklärung" und der eindimensionalen Rationalität der Moderne, wie sie von Marcuse gegeißelt worden war. Es war auch Karl May, der solche "Denkmuster" prägte, als sie atemlos die Seiten von "Old Surehand" verschlangen.

    Die aus den Zügen des Feuerrosses heraus abgeknallten Büffel sind im Bewusstsein der May-Leser die Leittiere, die mit ihrem Opfer märtyrerhaft den Zug anführten für die animal rights aller Tiere - aktuell gesprochen: den zum Schlachtvieh gezüchteten Rindern und Schweinen, den in Legebatterien gefangen gehaltenen Hühnern und den in Laboren gequälten Versuchstieren aller möglichen Arten und Gattungen. Karl Mays Bücher sprachen den Tieren eine eigene Würde zu:
    "Hier schlachtet man die Tiere förmlich ab. Die Sonntagsbüchse wütet unter den armen Büffeln, welche zu Tausenden getötet werden, nur weil ihre Häute sich besser zu Treibriemen eignen als gewöhnliches Rindsleder."

    So erläutert der Dicke Jemmy, selbstverständlich ein Waldläufer aus Deutschland mit "Gemüt", in "Der Sohn des Bärenjägers" die kapitalistischen Zusammenhänge dieses Massakers. Noch über hundert Jahre später wählte die Rockband U2 in einem ihrer Videos jene "Indianertiere" als Symbol für Freiheit und Abenteuer.

    Gewiss macht sich der naturliebende Old Shatterhand aus Sachsen eines reichlich unreflektierten und sinnlosen "Jagdtriebs" und "-fiebers" schuldig, wenn er immerfort arme Bären abschießen und -stechen muss. Dennoch kommt ihm das Verdienst zu, eine wichtige Quelle gewesen zu sein für eine engagierte Naturverbundenheit - heute Ökologie genannt - und einen gerechten Umgang im sozialen Miteinander.

    Man denke dabei auch an seine Lobeshymnen auf die Errichtung des ersten Naturparks der Welt, des Yellowstone National Parks. Er begrüßte, dass die wunderbare Landschaft erhalten bleibe, anstatt "dass die Spekulation und Gewinnsucht sich seiner bemächtige".

    Ganz im Stile seiner romantischen Naturbegeisterung schildert er die Parklandschaft, in der er auch manche Szene spielen lässt. Geschrieben wurde dies lange bevor 1921 in der Lüneburger Heide der erste deutsche "Natur(schutz)park" eröffnet werden sollte.

    Teile der Ökologie-, Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung könnten sich auf seine Naturromantik, seinen Pazifismus und seine Kolonialismuskritik berufen, tun es aber höchst selten - trotz aller Stadtindianer-Romantik. Problematischer verhält es sich mit seiner historisch vorbelasteten, bloß romantischen Kapitalismuskritik, die dem Verdacht des antimonetären Ressentiments und eines verborgenen Antisemitismus nie so recht zu entraten vermochte.

    Und das Bild der Frau in der Welt des Karl May? Außer Kolma Puschi reiten kaum "wilde Frauen" durch Mays Wälder und Felder. Wenn sie überhaupt eine Rolle spielen, dann nur in reichlich diskriminierender Form als Femme fatale oder als brave Hausfrau und -tochter.

    Während Ministerin von der Leyen bekennt, sich als Kind gewünscht zu haben, wie Winnetous Schwester Nscho-tschi zu sein, wollten amazonenhaftere Gemüter wie Fußball-Trainerin Silvia Neid, Doris Dörrie oder Johanna Wokalek eher so zu sein wie der langhaarig-samtäugige Winnetou.

    Auch wenn sich die Antirassismus-Bewegung auch auf Textstellen Mays beziehen könnte, solche Tendenz wird konterkariert von einem unterschwelligen, in seiner Zeit verbreiteten Rassismus, der sich aus dem damals noch ungebrochenen kulturellen Überlegenheitsgefühl in Europa gegenüber "noch unentwickelten" Völkern und "Rassen", vor allem "dem" sogenannten "Neger" speist, und manchmal auch gegenüber "dem Juden". Ebenso sind May national-kulturelle Ressentiments nicht fremd - besonders gegenüber den - hört! hört! - Griechen, vorzugsweise nimmt er auch die Armenier aufs Korn, ebenso bekommen die Chinesen ihr Fett weg.

    Und ähnlich wie mit dem schlummernden Rassismus verhält es sich mit Mays Nationalismus, dem nur Latenz zu unterstellen einer allzu nachsichtigen Interpretation gleichkäme. Die Deutschen sind bei ihm überall die besten, vor allem moralisch, Verbrecher befinden sich überall - zumeist außerhalb Deutschlands, versteht sich.

    Trotz solcher Tendenzen hat Karl May an seiner Aktualität kaum abgenommen. So macht sich Rüdiger Schaper in seiner Biografie Gedanken darüber, was der sächsische Weltliterat wohl zu der Tragödie des 11. September 2001 und zu den Vergeltungskriegen infolge der Terrorangriffe gesagt hätte:

    "Wie hätte er gelitten, als seine beiden Sphären, seine allein im Atlas weit auseinanderliegenden Jagdgründe, die er nach Belieben durchquerte, Nordamerika und die Länder des Islam mit ungebremstem Hass ineinander rasten ?...? Ein Politikersatz wie ‚Der Islam gehört zu Deutschland' erscheint in einem anderen Licht, wenn man an Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar und ihre fantasievolle Freundschaft denkt. Denn so, wie Generationen deutscher Leser die Wüste, die islamische Welt inhaliert haben mit Karl May, wird eine solche Feststellung zur Selbstverständlichkeit."

    Mays Schriften sind eben zwiespältig. Das Werk des so beliebten Volks-Schriftstellers May ist Opium des Volkes: Ausdruck des wirklichen Elends wie Protestation gegen das wirkliche Elend. Was er dem Leser vorführt, ist die kritische, ja oft protestierende Beschreibung der kapitalistischen Wirklichkeit, die sich allzu oft auf unmenschlichem Wege der Welt und der Wildnis bemächtigt. Aber er bleibt dabei immer auch abenteuerlich stecken in diesem zähen Morast der unschönen Wirklichkeit: einer, der gerne mit der Faust auf den Tisch hauen würde und sie dann doch in der Tasche ballt – Möchtegernrevolutionär und Kleinbürgerseele. Wie wir alle.