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Winter in der Wildnis

Der Wintersport boomt in Utah. Nicht nur Skifahrer, auch Skimobilsportler haben in den vergangenen Jahren am Salt Lake ihre sportliche Heimat gefunden – trotzdem bewahrt sich das Gebiet eine natürliche Schroffheit. Anziehungspunkt ist auch die besondere Beschaffenheit des Schnees.

Von Andreas Burman |
    Unzählige Schneekristalle glitzern in der Vormittagssonne. Die Luft ist klar und kalt, das Thermometer zeigt etwas unter Null. Bis auf rund 2800 Meter erhebt sich das Bergmassiv von Snowbasin, wie eine weiße Arena mit schlanken Espen und beschneiten Föhren, in der Höhe begrenzt von einem breiten, steilen Felskamm mit mehreren Gipfeln. Auf der Rückseite fällt das Massiv 1500 Meter ab bis an die Häuser in der Ebene von Salt Lake City am Großen Salzsee. Am fernen Horizont, wohl 150 Kilometer entfernt, sind die Gipfelketten zweier Nachbar-Bundesstaaten zu erkennen: im Westen die von Nevada, im Norden die von Iowa.

    Snowbasin, eine gute halbe Autostunde nördlich von Salt Lake City, gehört zu den ältesten Skigebieten Nordamerikas, erzählt Bob Chambers. Der Ex-Rennläufer des US-Skiteams gilt hier mit 82 Jahren als lebende Legende. Mit neun Jahren hat er hier zum ersten Mal auf den Brettern gestanden. 1939 war das, als man noch überall nur das Skispringen kannte, das skandinavische Einwanderer populär gemacht hatten.

    "Als alles begann, gab es nur einen Sprunghügel. Wie man einen Ski dreht, lernte man hier erst in den 1940er-Jahren. Das "Drehenkönnen", die Arlberg-Schwung-Technik, war eine richtige Offenbarung. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, ab 1945, begann die - zunächst sehr dürftige - Entwicklung mit einem Übungslift."

    Das Gebiet hat sich seitdem grundliegend entwickelt. Heute erschließen moderne Umlaufgondeln und Expresslifte viele Pisten und freies Gelände für alle Ansprüche. Zur Rast laden drei auffallend luxuriöse Lodges ein mit viel Naturgranit, Ökoholz, dicken Klubsesseln vor flackernden Kaminen, Kronleuchtern aus venezianischem Glas, Panoramafenstern mit ausnehmend schönen Blicken auf die verschneite Berglandschaft. Trotzdem zu zivilen Preisen, erst recht für Euro-Touristen. Aber das Beste, erklärt Bob, sind die beiden Pisten, die für die Olympischen Winterspiele 2002 von Salt Lake City gebaut wurden:

    "Die Herrenabfahrt müssen Sie sich ansehen, die nimmt es mit der Streif in Kitzbühel auf. Nicht übel, was? Sowohl die Herren- als auch die Damen-Olympia-Abfahrt sind Hardcore-Skifahren. Wenn Du am Startpunkt stehst, solltest Du Skifahren können, denn es ist eine echte Herausforderung."

    Damit macht er sich zum Skifahren auf.

    Eine halbe Autostunde südlich von Salt Lake City liegt der Big Cottonwood Canyon. Die schmale Zufahrt windet sich aufwärts an malerischen Felsformationen vorbei. Es sind zum Teil Ablagerungen eines mächtigen Gletschers, der in der Eiszeit den Canyon geformt hatte. Nach etlichen engeren Kurven verläuft die Straße zunehmend gerade, mit jedem Kilometer werden die waldigen Berghänge des Canyons weiter, wirken die Flanken weniger steil und schroff.

    An einem Aussichtspunkt im oberen Canyon, bei Brighton, ist Bruce Tremper mit Schneeuntersuchungen beschäftigt. Der Direktor des Utah Lawinenzentrums zählt zu den führenden US-Experten. Er kann erklären, ob wahr ist, dass es in den Wasatch Mountains einen ganz besonderen Schnee gibt.

    In Europa, erläutert Bruce, liegen die Gebirge näher am Meer, der Schnee ist deshalb viel feuchter und dichter. Im Unterschied dazu lägen die Wasatch Mountains in einem meerfernen, sehr trockenen Wüstengebiet:

    "Die Luft strömt auf ihrem Weg vom Pazifik hierher rund 1500 Kilometer weit, überquert die Sierra Nevada und ist danach ausgetrocknet. Sehr kalt weht sie schließlich über den rund 120 Kilometer langen Großen Salzsee. Der ist wegen seines Salzgehaltes warm und erhitzt die Luft. Es bilden sich große Wolken und die müssen hier, am Gebirge, plötzlich rund 2000 Meter aufsteigen."

    Der beschriebene "lake effect", Salzsee-Effekt, sorgt schließlich für den sehr trockenen, außergewöhnlichen Schnee.

    Die Ski-Enthusiasten aus Salt Lake City pilgern dann vor allem in die Skigebiete im Big Cottonwood Canyon und dem benachbarten, parallel verlaufenden Little Cottonwood Canyon. Dort gibt es nicht nur sehr gute, auch viele anspruchsvolle Pisten, sondern mit bis zu 13 Metern pro Winter auch den meisten Schnee. Denn beide Schluchten folgen nicht wie üblich dem Längsverlauf des Gebirgsstrangs, sondern verlaufen quer dazu. Eine Folge des Wirkens der mächtigen Eiszeitgletscher. Dadurch liegt diese seltene West-Ost-Ausrichtung genau in Zugrichtung der Schneefälle.


    Roberta, die mit ihrer Familie in Alta lebt, beobachtet an solchen "powdays" genannten Pulvertagen schon früh am Morgen die ersten Skitourer:

    "Die Jungs steigen wirklich um 6 Uhr morgens mit ihren Stirnlampen auf, suchen sich oben eine unberührte Abfahrt und schwingen herunter" - um anschließend arbeiten zu gehen.

    Als der Neuschnee fällt, lässt sich sogar ein erstaunlicher Anti-Aging-Effekt beobachten: In Alta ist der Wild Old Bunch, der "Wilde Alte Haufen", ein Kreis von 80-Plus-Skifreunden, auf den Pisten unterwegs. Mitten im Schneegestöber eine Frau, die gleich 92 Jahre alt sein soll. Auf die Frage, ob das wirklich stimmt, winkt Naomi Wayne, die ihr Gesicht mit einer Fleecemaske schützt, gut gelaunt ab:

    "Oh nein, ich bin erst 91 am 8. April. Ich liebe es hier, vor allem, wenn es schneit. Seit 1965. Hier habe ich Tiefschneefahren gelernt."

    Damit kurvt sie in eleganten Schwüngen weiter ins Tal.

    Skifahrer sind nicht die Einzigen, die sich über Neuschnee freuen. In sehr großen ausgewiesenen Gebieten sind Snowmobil-Sportler unterwegs. Für ihren Motorschlitten legen viele Amerikaner mindestens 9000 Dollar auf den Tisch, bei entsprechender Ausstattung auch bis zum Dreifachen. E. J. Poplawsky hat für sein Gerät 12.000 Dollar ausgegeben. Der schlanke, sportliche 36-Jährige trägt am Oberkörper eine Schutzweste, die den gesamten Rücken bedeckt und den Brustbereich, zudem schützt er Schultern, Ellbogen und Knie mit Protektoren. Alles in schwarz. Das erinnert an martialische Helden in Actionfilmen. Als E. J. den Helm abnimmt, kommt er mit seiner Drei-Tage-Rasur auch so ähnlich rüber.

    "Es ist ein Adrenalinkick, gerade in tiefem Powder, wenn Du durch die Bäume fegst, mit einem guten Meter Neuschnee. Mit das Aggressivste, was ich je gemacht habe. Du musst Dich reinhängen, das Gerät ständig herumreißen, Bäumen ausweichen, musst die volle Geschwindigkeit halten, darfst nicht bremsen, sonst steckst Du richtig fest. Dann musst Du Dich freischaufeln. An einer dummen Stelle kann das sehr lange dauern."

    Natürlich, so versichert E. J., fahre er vorsichtig. In schwieriges, steiles Gelände gehe er nur, wenn die Situation überschaubar sei. Und in jedem Fall habe er eine Lawinenausrüstung dabei, auch eine Rettungsdecke, etwas zu essen und zu trinken, sollte er mal eine Nacht draußen bleiben müssen.

    Das ist keineswegs übertrieben. Den Snowmobiles sind technisch kaum noch Grenzen gesetzt, sie haben eine deutlich größere Reichweite und fräsen sich praktisch auch da durch den Schnee, wo früher nur Skifahrer hinkamen. So hat sich bei Lawinenunfällen in den vergangenen Jahren die Zahl der Snowmobilisten gegenüber den Skifahrern verdoppelt. Die Lawinenschutzbehörde hat daher ein Programm laufen, um Snowmobilfahrer zu sensibilisieren. Experte Bruce Tremper hat als Skifahrer mit 23 Jahren selbst erlebt, was es heißt, eine Lawine auszulösen:

    "Ich wurde mitgerissen, schleuderte haltlos den Hang hinunter, der Schnee drang in meinen Nacken, in meine Unterwäsche, unter meine Augenlider, mit jedem Atemholen quoll Schnee wie ein Pfropf in meinen Hals, machte mich würgen. Ich prallte gegen Bäume, konnte mich an einem kleinen festhalten, zum Glück noch recht früh, und hing daran, solange ich konnte. Das hat mir das Leben gerettet. Als das Bäumchen brach, stürzte ich weitere 300 Höhenmeter abwärts, wurde aber nur noch bis zur Brust verschüttet. Ich konnte mich mit meiner Schaufel selbst befreien – und war der glücklichste Mensch auf Erden."

    In den Bergen von Park City, auf der Ostseite der Wasatch Mountains, ist ab den späten 1860er-Jahren kräftig gegraben worden. Vor allem Silberminen häuften den Reichtum von Leuten wie George Hearst, dessen Sohn William Randolph Hearst das berühmte Zeitungsimperium aufbaute. Zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, nach dem Ende des Booms, zählte die Stadt jedoch zu den Ghost Towns des amerikanischen Westens. Erst rund 25 Jahre nachdem sich auf der Wasatch-Westseite die ehemaligen Minenorte Alta und Brighton als Skigebiete neu erfunden hatten, entschloss sich auch Park City für diese Zukunft. Dafür gleich auf spektakuläre Weise mit der ersten Ski-U-Bahn der Welt, erzählt Jim Alston, Ex-Kampfjet-Pilot, jetzt im Ruhestand einmal in der Woche ehrenamtlicher Gästeführer.

    Auf den Transportschienen einer ehemaligen Mine rollten die Sportler 1965 in schmalen Miniwaggons viereinhalb Kilometer tief in den Berg. Dort beförderte sie ein Lift 550 Meter nach oben. Eine recht spezielle Sache, so Jim:

    "Je tiefer es hinein ging, desto dunkler wurde es, ständig rann Wasser von der Decke, Licht gab es kaum. Es war dunkel, feucht und kalt. Leute mit Platzangst fürchteten sich zu Tode. Und der Aufzug war noch schlimmer, denn er stammte aus den Minentagen."

    Nicht zu vergessen die einstündige Transportzeit. Nach drei Jahren machte die Mine wieder dicht. Endgültig. Das Skigebiet aber entwickelte sich zu einem der größten und führenden Nordamerikas und gilt heute als besonders familienfreundlich. Und die Stadt selbst?

    Park City hat sich den Charme eines Western-Städtchens bewahrt. Vor allem in seiner historischen Main Street mit ihren teils bunten Häuserfassaden aus Holz und Stein, kaum eine höher als zwei Stockwerke.

    Am beliebtesten sind zwei Saloons. Die Haus-Whiskey-Brennerei "High West" am Ende der Skipiste zur Main Street und daher weltweit einzige "Ski-in-distillery". Außerdem der schräge, abends knallvolle "No Name Saloon", der "seit 1903 Leuten hilft, ihren Namen zu vergessen", so der Slogan. Top, findet der Oldenburger Heinrich Gellhaus, der mit einer deutschen Skigruppe eine Woche in Park City ist:

    "Das sind hier wirklich so aus der Urzeit heraus gelebte Konzepte, die man hier sieht. Und die ‘No Name Bar‘ ist für mich ein exzellentes Ding, genau das, was man wahrscheinlich erleben will, erleben muss, wenn man hier ist. Ja."

    Während des Sundance Festivals für unabhängigen Film, das zu den bekanntesten weltweit zählt, ist im Januar das "Zoom" der Mittelpunkt. Das Restaurant im ehemaligen Stationsgebäude der Union Pacific Railway von 1886 gehört dem Festivalpräsidenten, Schauspieler und Regisseur Robert Redford. Für viele der siebeneinhalbtausend Einwohner ist es das Jahres-Ereignis. Für Sara, 41, passt es zu der geistigen Kultur der Stadt:

    "Park City versucht wegen seiner Minenvergangenheit nicht zu sein wie Aspen oder Vail, es hält an seinen unkonventionellen Wurzeln fest."

    Das freilich liegt ganz besonders auch an Dana Williams, seit elf Jahren als Bürgermeister Gesicht und Stimme der Stadt. Gescheitelte, teils lichte weiße Haare, freundliche, lächelnde Augen und ein grau melierter Schnauzbart. In seinem Amtszimmer im Rathaus trägt er ein legeres kariertes Hemd in hellen Brauntönen, darüber ein ockerfarbenes Gilet. Er wirkt bodenständig, umgänglich und auf Anhieb sympathisch. Es ist einer, der grundsätzlich über die Stadtgrenze hinaus blickt. So bezieht er eine Onlinezeitschrift aus China und ein Wochenmagazin der EU aus Brüssel:

    "Daher lese ich wöchentlich von Angela. Starke Frau, erstaunliche Führungsperson. Wie sie die EU beeinflusst, ist phänomenal."

    Doch Danas wichtigstes politisches Anliegen ist Umweltpolitik. Da liegen die USA 15 Jahre hinter Europa zurück, sagt er, zum Beispiel bei Solarenergie:

    "Was ist in Deutschland geschehen? Sie tun so viel mehr als wir. Vor allem hier im Westen haben wir so viel mehr Sonne als Deutschland, könnten wir so viel mehr produzieren. Warum tun wir‘s nicht?"

    In seiner Stadt, mitten im stockkonservativen Utah, hat Dana ein großes Amt für Nachhaltigkeit eingerichtet. Die Gemeindefahrzeuge fahren mit Biodiesel, das Rathaus wurde energetisch saniert, es wird Windenergie bezogen, neue Gebäude entstehen in Niedrigenergie-Bauweise.

    "Wir sind davon überzeugt, dass der Klimawechsel existiert, auch wenn die Regierung von Utah das nicht so sieht. Unsere US-Regierung ist derart gelähmt, dass sie nichts unternehmen kann. Wer also muss sich darum kümmern? Wir! Vielleicht werden wir nicht die Welt ändern, aber es ist wichtig, dass wir hinsehen und etwas tun wollen."

    Umweltschutz betrachtet Dana für die Stadt als Aufgabe Nummer Eins, schon weil ihre Wirtschaft ganz auf der Umwelt basiert. Wegen der Natur kommen die Gäste, betont Dana und verweist auf eine Studie:

    "Wir haben unsere Schneefälle der letzten 30 Jahre nachgezeichnet und darauf ein Modell erstellt, speziell für die Schneeprognosen der kommenden 100 Jahre. Es ist in Frühling und Herbst bereits nasser. Wo früher Schnee fiel, regnet es heute. Und wir sind sehr beunruhigt. Viele verdienen mit dem Resort ihren Lebensunterhalt. Für mich ist die Frage nicht, ob wir etwas tun müssen, sondern wie weitreichend."

    Wenn er sich mal schlecht fühlt, er einfach aus sich heraus muss, geht er nach Hause und spielt eine halbe Stunde auf seiner Gitarre. Seine zweite große Leidenschaft nach dem Bürgermeisteramt – und angesichts magerer 20.000 Dollar Jahresvergütung auch ein zweites Standbein. In der Motherlode Canyon Band verdient er sich als Gitarrist, Sänger und Songschreiber etwas dazu. Im Sommer kommt das dritte Album heraus. Wenn Dana darauf rockt, wie in der City Hall wird es mit Sicherheit ein Hinhörer.
    "Powder Mountains", Utah, Cruisen im Backcountry
    Die "Powder Mountains": Cruisen im Backcountry (Andreas Burman)
    Skifahrer demonstriert den "Magic Powder"-Schnee in Utah
    Ein Skifahrer demonstriert den "Magic Powder"-Schnee in Utah (Andreas Burman)
    Autokennzeichen in Utah mit Skifahrer im Hintergrund
    Autokennzeichen mit Skifahrer im Hintergrund (Andreas Burman)