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Winter in Kanada

Der Winter in den kanadischen Rocky Mountains beginnt früh und dauert lange: Die Berge im Westen des Landes sind ein Wintersportparadies. Wer sich jedoch Zeit nimmt für die Menschen, die hier arbeiten und leben, trifft auf Geschichten von Königen, heiligen Männern und Olympioniken.

Von Gerd Brendel |
    Den besten Blick auf Banff hat man von Mount Norqouir 2300 Meter über dem Meeresspiegel. Die Veranda vor dem alten Tea House, einem Bungalow aus den 50er-Jahren ist der Lieblingsplatz von Skilehrer Tom Robertson. Seit zehn Jahren bringt er Touristen Schneepflug und wedeln bei.

    "Meine Frau und ich sind in Toronto aufgewachsen, aber vor zehn Jahren haben wir unseren Lifestyle komplett umgestellt und sind mit unseren beiden Söhnen aus der Stadt in die Berge gezogen und wir haben es keine Sekunde bereut."

    Die Verbundenheit mit der Natur: Jeder Einheimische, den man in Banff trifft,…

    "Ich hab meine Medaille gewonnen, aber meinen Traum lebe ich im Winter in den rockies."

    "Das hier ist für mich ein unbezahlbares Abenteuer."
    ...egal ob Olympia-Gewinner oder Saisonarbeiter, alle reden irgendwann von ihrer Liebe zu den Bergen

    "Der Ort hat für meinen Stamm eine besondere Bedeutung."

    "Die Berge inspirieren mich und in der Natur finde ich meinen Frieden."

    Genauso wie der Schwarzfußindianer und Künstler oder die erste Weiße, die im Banff Nationalpark geboren wurde.

    "Das war 1925, mein Vater leitete das Büro unseres Familienunternehmens der Brewster Transport Company am Lake Louise ein paar Meilen von hier. Damals waren die Hotels und die Busstation nur im Sommer auf. Und ich kam im August."

    Ralphine Locke, geborene Brewster. Einer ihrer Großväter kam als methodistischer Missionar ins Land.

    "Der ist auf einer Büffeljagd erfroren."

    Ein Onkel, Norman Luxton paddelte im Kanu um die halbe Welt, bevor er sich in Banff niederließ und ein florierendes Geschäft mit Kunsthandwerk aus den Indianerreservaten begann. Der ehemalige Laden ist heute ein Naturkundemuseum, vollgestopft mit Grizzlies, Berglöwen und anderen Raubtieren. Ein paar Straßen weiter im alten Holzbungalow der Luxtons pflegt heute Ralphine das Familienerbe.

    Die alte Musiktruhe mit dem Geheimfach für die Platten ist Ralphines Lieblingsfamilienmöbel. Damals kamen die Reisenden mit dem Zug und stiegen in den luxuriösen Hotels der Bahngesellschaft ab. Heute stehen vom Banff Springs Hotel und dem Lake Louise Chateau nur noch die prunkvollen Fassaden. Dahinter herrscht längst 0815-Hotelketten-Ambiente. Aber hier in der Family-Residence der Luxtons ist die Zeit stehen geblieben. An den Wänden erzählen Bilder von der Zeit, als Kanadas Westen noch wild war und seine Bewohner britische Untertanen.

    "Auf dem Foto hier sieht man Georg VI. und Königin Elisabeth 1939 bei ihrem Besuch in Banff kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich kann mich noch gut daran erinnern weil mein Onkel Jim Brewster sie in einer Kutsche durch die Berge kutschieren durfte. Keiner kannte sich in der Gegend so gut wie er."

    Kein Wunder denn Jim Brewster, der zweite berühmte Onkel von Ralphine, hatte mitten im Ersten Weltkrieg die Brewster Transport Company. gegründet. Bis heute gehören die Brewster Überlandbusse zum Straßenbild Kanadas. Getreu seines Mottos:

    "Mein Heim steht allen offen vom König zum gemeinen Mann” hieß Jim Brewster auch König Georg VI und Königin Elisabeth bei sich zuhause willkommen. Noch herrschte Frieden, endlich ging es mit der Wirtschaft wieder bergauf und Ralphine wurde erwachsen.

    "Ich weiß noch genau, wie wir alle bei einer alten Dame in der Cascade Dance Hall tanzen lernten. Wir hatten sauberen guten Spaß. Auch wenn ein paar der Älteren unter dem Tisch eine Schnapsflasche hatten, denn damals war es für Frauen und Männer verboten, im gleichen öffentlichen Raum Alkohol zu konsumieren."

    Heute ist die Cascade Dance Hall ein Shoppingcenter. In den Bars nebenan braucht niemand heimlich Alkohol zu konsumieren. Bis in die späte Nacht ziehen Teenagergruppen auf der Suche nach der nächsten Party über die vereisten Bürgersteige. Viel Schlaf werden sie nicht bekommen. Wer Ski fahren will, muss früh aufstehen, wenn er nicht die Busse in die Skiresorts verpassen will. Das höchste Skigebiet mit 2700 Metern ist Mount Sunshine. An die Eröffnung vor 75 Jahren kann sich Ralphine Locke noch gut erinnern.

    "Mein Onkel Jim hat die erste Hütte in Mount Sunshine gebaut, damals musste man noch hochreiten. Ich war zehn und sollte mit, aber was hatte, ich für eine Angst, als die Pferde durch die Schneedecke brachen. Aber das Rührende an der Geschichte ist, dass mein Onkel mich oben an die Hand nahm und sagte: Du bist die Jüngste aus der Familie und ich der Älteste und gemeinsam gehen wir jetzt als Erstes über die Schwelle."

    Heute muss keiner mehr mit dem Pferd zur Piste reiten. Skilifte bringen die Touristen auf die Bergspitze. Ein Heer von Saisonarbeiten sorgt hier und in den anderen Ressorts für das reibungslose Sporterlebnis in atemberaubender Natur. Einer von ihnen ist Brandon Barns. Der junge Südafrikaner liest mit einem Scanner die Skipässe vorm Lift ein.

    "Zusammen mit dem Flug habe ich für den Job hier schon in Südafrika einer Zeitarbeitsagentur umgerechnet 2000 Euro bezahlt. Und viel mehr werde ich während der Zeit hier auch mit meinem Mindestlohn nicht verdienen."

    Trotzdem lohnt sich für Brandon der Arbeitsurlaub.

    "Das hier ist eine großartige Erfahrung, als jemand aus einem Dritte-Welt-Land den Alltag in der Ersten Welt zu erleben. Bei uns gibt es Korruption und Kriminalität. die Leute haben Angst, überfallen zu werden: Aber hier? Grüßen einen alle und lächeln. Für mich ist das surreal."

    So surreal es dem weißen Südafrikaner auch vorkommt, angstfrei Alltagsfloskeln mit Fremden auszutauschen – der wahre Grund für Brandons Arbeitseifer sind die schneebedeckten Rockies. "Skifahren und vor allem snowboarden. Das übertrifft alles, was Brandon bisher erlebt hat.

    Eine Begeisterung, die er mit vielen teilt. Über zwei Millionen Besucher während der sechsmonatigen Wintersaison muss der Banff-Nationalpark verkraften. Fast jeder, der 2000 Einwohner, lebt vom Tourismus oder vom Sport. Die Familie von Skilehrer Roberson zum Beispiel: Nicht nur Vater Tom lebt von den Rockies auch seine beiden Söhne. Der älteste verdient sein Geld als Nationaltrainer der kanadischen Snowboarding-Mannschaft, sein Bruder als Profi-Snowboarder. Sein größter Erfolg war bisher die Winterolympiade in Vancouver im letzten Jahr.

    Schwer wiegt die Silbermedaille in der Hand. Der Lohn für harte Arbeit :

    "Die Medaille bedeutet mir unglaublich viel. Zehn Jahre habe ich dafür gebraucht, zehn Jahre lang trainiert an jedem Wochenende, winters wie sommers."

    Die olympische Auszeichnung machte Mike zur Lokalberühmtheit.

    "In der Stadt werde ich noch immer erkannt, und bis heute bekomme ich Autogrammanfragen aus der ganzen Welt."

    Und sie bescherte Mike ein sicheres Auskommen durch Sponsorengelder. Sport und der Tourismus auf der einen Seite – der Naturschutz auf der anderen. Die Konflikte sind vorprogrammiert.

    Die Frage, wie viel Tourismus der Nationalpark vertragen kann, wird heftig diskutiert: Immer hin an den strengen Auflagen für den Naturschutz rüttelt niemand:

    "Es gibt strenge Vorschriften, die den Ausbau der Skigebiete beschränken. Die Skiresorts können sich nicht endlos ausdehnen."

    Oder:

    "Jedes Skigebiet darf dem Bow-Fluss, der durch Banff fließt, nur eine ganz bestimmte Menge Wasser zum Schneemachen entnehmen. Wenn die Quote ausgeschöpft ist, muss jedes Skiresort mit dem natürlichen Schnee auskommen."

    Auf der Piste, am Skilift, zu Hause bei einer Pioniersfamilie und einem Olympiagewinner: Wie die langen Winter in den Rockies die Menschen prägt, kann man hier erfahren. Aber ein Ort fehlt noch. Abgelegen auf einem Hügel, abseits vom Wintersport und Apres Ski in den Bars von Banff, liegt das Banff Centre for continuing education: ein Konferenz-und Kulturzentrum mit Bildungsauftrag. Den erfüllen die zahlreichen Stipendiaten, die hier leben und arbeiten: Musiker, Mathematiker, Schriftsteller und bildende Künstler wie Adrian Stimpson.

    "Hier kann ich mich als Künstler auf meine Arbeit fokussieren und Neues ausprobieren. Ich bin zwei Monate hier. Ich habe ein Atelier. Es gibt eine Bibliothek und ein großartiges Fitnessstudio."

    Adrian Stinson ist der zweite "koloniale” Name des Künstlers, wie er selber sagt. Eigentlich heißt er: "Kleiner brauner Junge mit dem schweren Schild", so wie ihn seine indianische Familie genannt hat. Adrian ist Schwarzfuß-Indianer. Auch das verbindet ihn mit Banff und den Rockies.

    "Das ist hier Indianergebiet, Heimaterde sozusagen. Meine Vorfahren nannten die Gegend um Banff: heiliges Wasser. Und früher schlugen wir hier unser Winterlager auf, in den Bergen suchten meine Vorfahren nach Heilpflanzen und besonderen Farbpigmenten aus den Felsen."

    Die heißen Quellen gibt es immer noch. Ansonsten findet sich das indianische Erbe der Rockies nur noch in den Andenkenläden von Banff und in der Arbeit von Adrian Stimson : In seinen Performances schlüpft er regelmäßig in die Rolle seines Alter Egos: Buffalo Boy.

    "Buffalo Boy ist eine Parodie auf Buffalo Bill und meine ganz eigene Sicht auf die Ausbeutung meiner Kultur durch Wild-West-Shows und die ganzen Klischees vom edlen Wilden. Buffalo Boy ist das genaue Gegenteil: Als Mensch mit zwei Geistern – wie wir bei uns Homosexuelle nennen – mache ich aus dem Bild vom Macho-Cowboy eine viel weiblichere Figur."

    Auch in Banff ist er schon als Buffalo Boy aufgetreten: In Netzstrümpfen Cowboystiefeln und Indianerschmuck tänzelte er über die Hauptstraße und forderte die weißen Skitouristen zum Pistolenduell heraus.

    "Ein großer Typ mit bloßem Hintern als Indianer verkleidet, der die Leute zum Pistolenduell herausfordert. Viele wussten gar nicht, was sie davon halten sollten."

    Knapp 1000 Meter über dem Städtchen auf dem American Chair wird es Abend. In der Nachmittagssonne werfen die Berge tiefen Schatten auf Banff. Die Hotels und Blockhütten sehen aus wie Spielzeughäuschen. Ein kalter Wind weht über die Piste. Zeit zurückzukehren in die Welt tief unten, zu den Geschichten von Sieg und Niederlage, Politik, Kolonisation, kleinen und großen Träumen, denn die Rockies haben schließlich mehr zu bieten als unberührte Berglandschaften.