So stimmt der Fremde auch zunächst ein altes jüdisches Gebet an: "Ani máamin” - "Ich glaube” -, bevor er aus seinem Zimmer kommt und auf seiner Geige einige Takte aus Schuberts Ständchen intoniert, in denen das Gebet merkwürdig nachklingt. Der Freund kommt hinzu, nimmt seinen Platz am Flügel ein und schlägt die ersten Akkorde der Winterreise an; der andere setzt die Geige ab und beginnt zu singen: "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh́ ich wieder aus”... Und so erzählt der Abend Lied für Lied, Station für Station die Geschichte seiner Hoffnungen und Enttäuschungen, seiner einsamen Wanderschaft, seiner Vertreibung - bis er schließlich nach dem Leiermann seine Geige nimmt und über die Treppe einer ungewissen Zukunft entgegen geht. (Was auch den Bezug zu Walter Levin erklärt - dem Primarius des legendären LaSalle-Quartetts, dem Udo Samel den Abend gewidmet hat.)
Spätestens seit Fritz Lehners Schubert-Film Mit meinen heißen Tränen ist Samel so etwas wie ein "alter ego” Franz Schuberts geworden, und diese intime Ve-trautheit mit Wesen und Werk des Komponisten verleiht seiner Deutung der Winterreise über alle Zeit-Brüche hinweg ihre Stringenz und Eindringlichkeit. Die Inszenierung illustriert nicht etwa die Lieder, sondern setzt ihre Gefühls- und Gedankenwelt in eigenständige Bilder und Gesten um, die sich freilich als absolut schlüssig und stimmig erweisen. So sparsam die Mittel sind, mit denen Samel arbeitet, so genau folgt er der Musik und gerät nie in Gefahr, Schubert bloß als einen Kanevas zu nehmen, um darauf seine eigenen Regie-Einfälle auszuspielen - siehe Marthalers Schöne Müllerin. Johannes Martin Kränzles solider Bariton und die inspirierte und differenzierte Klavierbegleitung von Paul Lewis geben dem Abend auch musikalisch entsprechendes Gewicht: Frankfurt hat einmal mehr seinen Rang als "Opernhaus des Jahres” bestätigt.