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Wippende Weberknechte

Umwelt. – Nicht nur der Mensch profitiert von der Globalisierung. Dank weltumspannenden Handels verbreiten sich auch Tierarten schneller und über größere Gebiete als jemals zuvor. In Deutschland etwa machen sich bisher unbekannte Weberknechte breit. Die Spinnentiere haben Beinspannweiten von bis zu 18 Zentimetern.

Von Volker Mrasek | 16.05.2008
    "Was ist denn jetzt diese entscheidende Serie?"

    "Ein Männchen, ein Weibchen. Das ist die erste Serie."

    "Schon mit Nummer in der ..."

    "Ja, ja!"

    "... Sammlung drin?"

    "Die ist auf jeden Fall schon da, ..."

    "Welche ist das?"

    "... und zwar 5315."

    "5315. Das heißt, dann schauen wir mal nach…"

    Ein Laborraum im Zoologischen Institut der Universität Mainz. Mikroskope und Computer mögen noch als normal durchgehen. Nicht aber der breite Büroschrank. Bis oben hin ist er vollgepackt. Doch nicht mit Aktenordnern, sondern mit Reagenzgläsern. Darin: unzählige Präparate einer Tiergruppe, an die viele nur mit Schaudern denken.

    "Das sind in dem Fall Weberknechte. Wir haben eine große Alkoholsammlung."

    "Ja, das sind jetzt knapp 6000, über 6000 Stück eigentlich."

    "Wir betreiben diese Weberknecht-Forschung seit etwa 40 Jahren in dieser Arbeitsgruppe."

    Jetzt steht Zoologie-Professor Jochen Martens vor dem bisher mysteriösesten Fall in seiner Karriere als Spinnentier-Forscher.

    "Da ist es doch hier!"

    "Genau!"

    "5315."

    Martens und sein Doktorand Axel Schönhofer stehen vor einem Rätsel. Das Glas mit der Nummer 5315 enthält zwei Exemplare einer völlig neuen Weberknecht-Art in Mitteleuropa. Die Tiere rotten sich zu riesigen Horden zusammen. Martens:

    "Vor einigen Jahren haben wir von einem holländischen Kollegen die Nachricht bekommen, dass in Holland eine Weberknecht-Art aufgetreten sei, und erstaunlicherweise in ganz großen Mengen, zu Hunderten, gegebenenfalls sogar zu Tausenden, und es völlig offen war, wie diese Art dorthin gekommen ist. Und noch rätselhafter war, wie sie wohl heißen möge. Denn es war keine Art, die aus Mitteleuropa bekannt ist."

    Inzwischen gibt es etliche weitere Funde: im Ruhrgebiet, in Koblenz, im Saarland – und sogar in Österreich und der Schweiz. Die Tiere ruhen tagsüber auf Mauern, an Hauswänden, unter Dachvorsprüngen. Die größte Ansammlung auf deutschem Boden wurde im Essener Stadtwald beobachtet, an einer Burgruine: Dort hockten im vergangenen Herbst fast 500 Weberknechte auf einem Haufen. Ein gruseliger Anblick, zumal die achtbeinigen Exoten außerordentlich groß sind. Bis zu 18 Zentimeter beträgt die Spannweite ihrer Beine. Noch furchteinflößender ist, wie sich die Horden verhalten. Martens:

    "Wenn man sie nicht stört, passiert auch gar nichts. Aber wenn man dann zu nahe kommt und die sich bedroht fühlen, dann fängt die ganze Gruppe an, sich zu bewegen. Eine Abwehrreaktion ist, dass die Tiere auf und nieder schwingen. Der Körper schwingt quasi zwischen den acht Beinen auf und nieder. Und das kann immer schneller passieren, je stärker sich diese Gruppe erregt."

    So sollen potentielle Angreifer verwirrt werden: Die Beute verschwimmt ihnen förmlich vor den Augen. Die Zoologen vermuten, dass die Neueinwanderer als blinde Passagiere auf einem Schiff nach Holland kamen. Ein schwangeres Weibchen oder ein Ei-Kokon hätten im Zweifelsfall genügt. Doch woher die Eindringlinge stammen, ist weiterhin völlig offen. Eine heiße Spur führte zunächst nach Mexiko. Darauf hätte auch Wolfgang Nentwig getippt, Professor für Ökologie an der Universität Bern:

    "Denn ich habe selbst in Südamerika Hunderte Weberknechte auf einem Busch gesehen, die, als ich mich näherte, alle ins Wippen kamen."

    Inzwischen steht aber fest: Die beiden Arten sind verschieden, auch wenn sie auffällige Merkmale gemeinsam haben. So bleibt die Identität der eingeschleppten Weberknechte weiter im Dunkeln. Das hält Jochen Martens’ Arbeitsgruppe in Mainz allerdings nicht davon ab, sich weiter mit ihnen zu beschäftigen. Schönhofer:

    "Ich leg’ die jetzt mal hier drunter, hol sie aus den Glasröhrchen ’raus."

    Martens:

    "Das Spannende dabei ist, dass wir jetzt vor unseren Augen sehen können, wie eine eingeschleppte Art sich massiv bei uns etabliert und ausbreitet. Und vor allen Dingen können wir analysieren, was wohl die Ursachen für dieses enorme Durchsetzungsvermögen sind. Wenn wir auch dazu gleich sagen müssen, dass die Effekte sehr wahrscheinlich für unsere einheimische Weberknecht-Fauna eher schädlich, wenn nicht sogar katastrophal sein werden.""

    Der Mensch dagegen muss sich vor den mysteriösen Spinnentieren nicht fürchten. Martens:

    ""Die Weberknechte sind ja absolut ungiftig. Und wenn zwei oder auch zwanzig über den Ärmel laufen, ist das auch unbedenklich."

    Hinweis:Zur schleichenden Invasion der Spinnentiere können Sie am Sonntag, 18. Mai, 16:30 Uhr, ein Featurein der Sendung Wissenschaft im Brennpunkt hören.