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"Wir brauchen ein starkes Rückgrat"

Die Gewalt im Irak führte zu einem Massenexodus der Christen. Viele flüchteten in die kurdischen Gebiete im Norden des Landes. In Erbil leben die Christen wesentlich sicherer und freier als in den anderen Teilen des Irak. Und doch: Auch hier fühlen sich viele von radikalen Muslimen bedrängt.

Von Jan Kuhlmann | 08.05.2012
    Ein Nachmittag in der kurdischen Stadt Erbil im Norden des Irak. Jeden Tag um 17 Uhr läuten die Glocken der chaldäisch-katholischen Kirche St. Joseph. Das imposante Gebäude aus den Siebziger Jahren erinnert an einen babylonischen Tempel. Eigentlich soll es um 17 Uhr eine Andacht geben. Der Wächter an der Tür aber weist fremde Besucher ab. Nein, sagt er, Zutritt verboten. Begründen will er das nicht. Stattdessen holt er eine Maschinenpistole und marschiert mit ihr demonstrativ über den Bürgersteig. Erbil ist die Hauptstadt der kurdischen Autonomiegebiete im Irak. Hier leben die Christen sicherer als im Rest des Landes – und doch halten sie sich nach außen hin bedeckt. Über ihre Lage reden viele ungern offen.

    Gesprächiger ist ein 55 Jahre alter Mann mit dunklem Haar und einem schmalen Schnurrbart – ein Schreiner, der gerade mit einem Kollegen ein altes Sofa zerlegt. Seine kleine Werkstatt liegt in Ankawa, dem christlichen Stadtteil Erbils. Er ist assyrischer Christ, stammt eigentlich aus der irakischen Stadt Mosul und ist vor einigen Jahren in die kurdischen Gebiete gezogen. Gewalt und Terror gegen Christen – auch der Schreiner kann davon berichten. Schiitische Muslime hätten in Bagdad seinen Neffen entführt.

    "Wir sind an den Rand gedrängt. Wir brauchen ein starkes Rückgrat. Die Amerikaner sind gekommen und haben den Islam gegen uns gestärkt. Wir sind am Ende, mit dem assyrischen Volk ist es vorbei. Wir sind in alle Richtungen verstreut und leben im Schutze Kurdistans oder irgendwelcher anderen Orte. Aber eine sichere Zukunft gibt es für uns nicht."

    In den kurdischen Autonomiegebieten fühlten sich die Christen mehr oder weniger sicher – zumindest bis Ende vergangenen Jahres. Da griff ein muslimischer Mob in der kurdischen Stadt Zakho christliche Läden an, die Alkohol verkauften. Der Schreiner ist noch immer empört.

    "Wenn du einen Laden aufmachst, in dem du Alkohol verkaufst, sprengen sie ihn in die Luft. Die schicken Leute, die eine Bombe hochgehen lassen. Sie haben auch das Geschäft meines Neffen angezündet, weil er Alkohol verkaufte. Wo ist die Demokratie' Wo ist die Freiheit' Die Muslime gehen gegen den Verkauf von Alkohol vor und trinken selbst. Das ist das Problem."

    Es gibt nicht allein religiöse Differenzen. Die Kurden besitzen eine eigene Identität mit eigener Geschichte und Sprache. Sie bestimmen Politik, Verwaltung und Wirtschaft in den Autonomiegebieten. Die Christen dagegen sind vor allem Assyrer und Araber. Viele von ihnen können nicht einmal Kurdisch. Im Alltag sprechen sie Arabisch oder das fast ausgestorbene Syrisch, das vom Aramäischen abstammt. So wie der Schreiner berufen sich viele darauf, dass die Christen lange vor dem Islam in der Region lebten.

    "Das hier ist doch eigentlich christlicher, assyrischer Boden. Ich möchte einen assyrischen Staat, der den Islam von hier fortjagt. Die sollen da hin gehen, wo sie hergekommen sind. Wir wollen endlich in unserem Land leben, im Land unserer Vorväter, deren Gebeine hier begraben liegen."

    Schwierig ist die Lage für viele Christen in den Kurdengebieten auch, weil sie keine Arbeit finden. Trotzdem geht es ihnen vergleichsweise gut. Die kurdische Autonomieregierung unterstützt die christlichen Gemeinden mit Geld – von 50 Millionen US-Dollar im Jahr ist die Rede.
    Auch der Bau von Kirchen ist gestattet. So wie in diesem Baugebiet am Stadtrand von Erbil. Walid Qatan ist hierher gekommen, um einen Blick auf einen Rohbau zu werfen. Ein gewisser Stolz ist ihm anzumerken, wenn er über das künftige Gebäude seiner Gemeinde spricht. Hier soll bald die neue syrisch-orthodoxe Kirche eingeweiht werden: oben ein großer Saal für Gottesdienste, unten Räume für Feiern und andere Aktivitäten. Hier entstehe neues christliches Leben, sagt Walid Qatan.

    "Das ist so, als wenn du endlich ein eigenes Haus hast. Diese Kirche gehört uns allein. Hier wird die Gemeinde vereinigt, sodass wir unabhängig leben können. Hier gibt es keinen Einfluss von außen."

    Walid, ein Mediziner, war früher Offizier in der irakischen Armee. Er ist vor ein paar Jahren mit seiner Familie aus Bagdad nach Erbil gekommen, weil ihm die Lage in der irakischen Hauptstadt zu gefährlich erschien. Über die Kurden will sich Walid Qatan nicht beklagen, im Gegenteil:

    "Die kurdische Regierung hat uns mit offenen Armen empfangen, sie hat uns Grundstücke und Vergünstigungen gegeben. Sie hilft uns auch jetzt noch. Die Zusammenarbeit läuft gut. Die Kurden sind früher selbst unterdrückt worden. Deswegen wissen sie, was Unterdrückung für uns Christen bedeutet. Jetzt bitten wir sie nur noch darum, dass sie uns beschützen. Der Rest ist unsere Sache."

    Walid Qatan jedenfalls plant nicht, nach Bagdad zurückzukehren. Und auch seine Kinder wollen in den kurdischen Gebieten bleiben. Viele andere jüngere Christen sind dagegen ins Ausland gegangen oder denken darüber nach, weil sie sich dort eine bessere Zukunft erhoffen. Die christlichen Gemeinden laufen Gefahr, immer kleiner zu werden. Zudem sind sie in unterschiedliche Konfessionen zersplittert: In Erbil leben unter anderem chaldäisch-katholische, assyrische und syrisch-orthodoxe Christen. Ja, sagt Walid, natürlich gebe es zwischen den Gemeinden Zusammenarbeit:

    "Aber sie ist nicht so stark wie erforderlich. Wir wünschen uns eine geschlossene Führung, die mit einer gemeinsamen Stimme spricht. Aber jede christliche Gemeinde vertritt ihre eigenen Interessen. Wenn wir geschlossen wären, wären wir stark. Unser Interesse ist doch, dass es den Christen insgesamt gut geht. Das wäre mein Wunsch."

    Auch in der Politik sprechen die Christen oft nicht mit einer Stimme. Gleich sieben Parteien ringen um Einfluss. Ein Minister im Kabinett der kurdischen Autonomieregierung ist Christ. Das aber reicht den meisten Christen nicht aus – sie wünschen sich mehr christliche Schulen, Beamte, Polizisten und Richter. Diya Butrus Sliwa, Generalsekretär einer von zwei chaldäischen Parteien, geht sogar noch weiter:

    "Wir fordern eine politische Selbstverwaltung. Ein territorialer Zusammenschluss ist nicht möglich. Die Christen in den kurdischen Gebieten sind über verschiedene Orte verstreut, die nicht vereinigt werden können. Aber man könnte sie zu einer politischen Einheit zusammenschließen und das Zentrum der Selbstverwaltung in einem bestimmten Gebiet ansiedeln."

    Der chaldäische Politiker hofft, so die Abwanderung der Christen zu stoppen. Auch Hilfe aus dem Ausland wünscht sich Diya Butrus Sliwa. Allerdings: Nicht jede Unterstützung ist willkommen.

    "Wir sind der deutschen Regierung dankbar, weil sie die Christen hier unterstützt. Aber bitte nicht, indem sie die Türen für Flüchtlinge öffnet. Sie sollte besser dem Irak dabei helfen, die Christen hier im Land zu beschützen. Und Druck auf die Politik im Irak ausüben, damit es für die restlichen Christen hier eine passende Lösung gibt und sie nicht ins Ausland emigrieren."