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"Wir ermitteln wegen Mordes"

"Töten auf Tschechisch" heißt ein Dokumentarfilm, der die tschechische Öffentlichkeit aufgeschreckt hat: Er zeigt historische Aufnahmen von Massakern an Deutschen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Einer der mutmaßlichen Mörder ist noch am Leben.

Von Christina Janssen | 25.08.2010
    Ein schlichtes weißes Holzkreuz auf einer Wiese bei Dobronin, einem verschlafenen Dorf in Ostböhmen – für den Journalisten Miroslav Mares ist es ein Symbol von unschätzbarem Wert.

    "An einem Abend habe ich einen anonymen Anruf bekommen - jemand sagte mir, ich solle auf das Feld bei Dobronin fahren. Das habe ich dann gleich morgens gemacht - und da war das Kreuz schon von Weitem zu sehen. Es ist aus Holz und etwa drei Meter hoch. Ich gehe davon aus, dass es Leute aus dem Dorf aufgestellt haben."

    Das Kreuz erinnert an 15 deutsche Einwohner des Ortes: Sie wurden - so berichten es Augenzeugen - am 19. Mai 1945 von einer Horde Betrunkener zusammengetrieben, mussten auf der Wiese bei Dobronin ihr eigenes Grab schaufeln und wurden dann mit Spaten und Hacken erschlagen. Kein Einzelfall in den dramatischen Wochen nach Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Zeit der "Wilden Vertreibungen" kam es in vielen Orten zu Racheakten an den deutschsprachigen Mitbürgern – in Postelberg zum Beispiel, wo mehrere Tausend Männer aus der Umgebung umgebracht wurden. In Dobronin recherchierte Lokaljournalist Miroslav Mares – und schaltete schließlich die Staatsanwaltschaft ein:

    "Mir geht es um die historische Wahrheit in einer Angelegenheit, die auf tschechoslowakischem Boden geschehen ist, über die es aber auf tschechischer Seite keinerlei Dokumente gibt. Ich wollte wissen, ob das, was die Deutschen über die Ereignisse hier erzählen, tatsächlich den historischen Tatsachen entspricht."

    Deshalb sind auf der Wiese bei Dobronin, die im Dorf "Budinka" genannt wird, nun Kriminologen und Archäologen zugange: Vor einer Woche sind sie bei ihren Grabungen tatsächlich auf Skelette gestoßen – doch die Untersuchungen werden noch lange andauern, so Chefermittler Michal Laska:

    "Die Körper liegen hier übereinander und durcheinander, deshalb ist es keine einfache Aufgabe, die einzelnen Teile zuzuordnen. Es wird wohl noch mindestens zwei Monate dauern, bis mit Ergebnissen zu rechnen ist."

    Weniger nüchtern kommentiert David Vondracek den grausigen Fund. Der Filmemacher sorgte erst vor wenigen Wochen mit seiner Dokumentation "Töten auf Tschechisch" für Aufsehen. Jetzt arbeitet er schon an seinem nächsten Projekt: einem Film über Dobronin.

    "Wir sind gerade Zeugen eines historischen Augenblicks geworden. Wir haben hier – und ich sage bewusst: leider! – einen menschlichen Wadenknochen und einige Reste von Kleidungsstücken gefunden. Das ist der endgültige Beweis dafür, dass das Massengrab mit sterblichen Überresten deutscher Zivilisten hier tatsächlich existiert."

    So werden die Bewohner des Dorfes Dobronin von der Geschichte eingeholt - und mit ihnen ein ganzes Land.

    "Gegenwärtig ermitteln wir hier wegen Mordes, so Ermittler Laska. Juristische Analysen sollen außerdem klären, wie das Ganze zu bewerten ist, ob es sich hier möglicherweise um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt."

    Von den mutmaßlichen Tätern – so der Stand der Ermittlungen heute - ist vermutlich nur noch einer am Leben. Er hat sich nun erstmals im tschechischen Fernsehen geäußert:

    "Das ist doch alles erfunden. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich mich an nichts mehr erinnere. Die sollen mich in Ruhe lassen."

    Sollte der heute 88-Jährige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden, wäre das ein Präzedenzfall. Es wäre das erste Mal, dass dieser Tatbestand auf den Mord an Deutschen in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt würde.

    "Das Wichtigste ist, meint indessen Journalist Miroslav Mares, dass die Diskussion, ob hier so etwas passiert ist oder nicht, endlich vorbei ist. Sie ist in dem Moment verstummt, als hier die ersten Knochen gefunden wurden."

    Die Debatte über dieses schwierige Kapitel der eigenen Geschichte überschlägt sich in Tschechien geradezu. Schriftsteller, Historiker und Filmemacher schockieren die Öffentlichkeit mit ungeschönten Darstellungen der damaligen Ereignisse. Und die Reaktionen zeigen, wie gespalten das Land in dieser Frage ist: Während die einen der Ermordeten mit Holzkreuzen gedenken, sprechen andere von Nestbeschmutzung: Der konservative tschechische Europaabgeordnete Jan Zahradil schreibt in einem Internetblog, die Gräueltaten der Nationalsozialisten dürften durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld nicht relativiert werden. "Angesichts der Berichte über Ereignisse wie die Morde in Dobronin packt mich die Wut", so der Europaparlamentarier wörtlich. Das sei doch alles "Humbug".