Doris Simon: Herr Schulz, in dieser Woche hat die EU eine ganze Reihe neuer Balken ins Europäische Haus eingezogen. Das nächster Rettungspaket für Griechenland steht erst mal. Die privaten Gläubiger erlassen Athen dafür die Hälfte seiner Schulden. Die Regierungschefs haben die großen Banken gezwungen, mehr Eigenkapital vorzuhalten, um in der Krise gerüstet zu sein. Der Rettungsschirm wird vorbeugend verstärkt und die Mitgliedsländer verpflichten sich zur Haushaltsdisziplin und Schuldenbremsen und Italien und Spanien, die ja gefährlich ins Visier der Märkte geraten sind, die verpflichten sich zu überfälligen Reformen. Die 17 Euroländer, aber auch die 27 insgesamt haben sich da zusammengerauft. Gibt das Europa einen Schub?
Martin Schulz: Sie haben in Ihrer Frage ein optimistisches Bild gezeichnet. Wenn das alles so wäre, wie Sie es beschrieben haben, dann sind wir sicher einen Schritt nach vorne gekommen. Objektiverweise sind wir einen Schritt nach vorne gekommen. Aber es gibt ein paar offene Fragen. Sie haben Italien genannt. Ich glaube, Italien ist nach wie vor in einer schweren Krise. Kein Problem in Italien ist gelöst. Und die Dinge, die beschlossen worden sind, die sind in der Nacht beschlossen worden. Es empfiehlt sich auf europäischer Ebene, die Dinge dann sehr sorgfältig bei Tag und bei Licht zu betrachten. Und wenn man das macht, stellt man fest, dass doch das eine oder andere Ankündigungen sind, die noch der Umsetzung harren.
Simon: Sind Sie zuversichtlich, dass es trotzdem gut ausgehen könnte?
Schulz: Wir haben es mit einem Schub von Europäisierungen zu tun, wie wir in den letzten Jahren so nie erlebt haben - von den gleichen Leuten nebenbei bemerkt, die das Gegenteil behaupten oder behauptet haben. Wenn Sie mal sehen, wie im Zeitraffer die Ankündigungen und die Auffassungen von Angela Merkel von ihr selbst unter dem Druck der tatsächlichen Ereignisse in ihr Gegenteil verdreht wurden - übrigens von Sarkozy ja auch -, dann sehen Sie, wir sind auf dem Weg zu mehr europäischer Integration. Das finde ich richtig. Zugleich muss ich als Abgeordneter aber auch sagen, dass viele meiner Wählerinnen und Wähler das in dieser Schnelligkeit nicht mitmachen können und wollen. Und deshalb ist es gut, dass wir Schritte nach vorne machen. Aber es wäre noch wesentlich besser, wir würden sie viel stärker begründen, erklären und den Versuch unternehmen, die Menschen mitzunehmen. Das kann nicht die Aufgabe der Europaparlamentarier alleine sein. Das muss vor allen Dingen von den Regierungschefs, die diese Entscheidungen treffen, gemacht werden.
Simon: Sie sagen, es geht zu schnell für die Menschen. Was müsste denn da passieren, damit die Menschen besser mitgehen können?
Schulz: Dass man begründet, warum wir diese enormen Risiken auf uns nehmen, die wir auf uns nehmen. Es reicht nicht, dass man den Deutschen Bundestag zusammenruft - wenn ich mal unser deutsches Beispiel nehmen darf - und dort sagt, also das muss jetzt so sein, weil es alternativlos ist. Das stimmt nämlich nicht. Nichts im Leben ist alternativlos. Es gibt zu allem eine Alternative. Es gibt auch zu dem Rettungsschirm eine Alternative. Aber genau diese Alternative muss man beschreiben, und zwar so, wie sie ist: Dass das Auseinanderbrechen der Eurozone Deutschlands Ökonomie, die soziale Stabilität, die Arbeitsplätze in unserem Land massiv gefährden würde und dass wir deshalb diese Risiken auf uns nehmen. Mir fehlt der Mut und die Bereitschaft auch, sich die Mühsal aufzuladen, den Menschen die Notwendigkeit dieser sehr komplizierten Entscheidungsprozesse und der komplizierten Entscheidungen selbst zu erläutern.
Simon: Fehlt Ihnen da nicht - was ich so raushöre - ein klareres Bekenntnis vonseiten der Regierungschefs zu Europa?
Schulz: Die gleichen Leute, die hinter verschlossenen Türen immer mehr Europa beschließen, weil sie unter den tatsächlichen Verhältnissen sehen, dass nur der Zusammenschluss und die Europäische Gemeinschaft und das gemeinschaftliche Handeln uns weiterbringen. Die gleichen Leute erzählen teilweise, wenn die Türen wieder offen sind, vor den Kameras das Gegenteil von dem, was sie gerade tun. Die gleichen Regierungen, die den Leuten erzählen, dass der Nationalstaat eigentlich alles so schön regeln kann, sind die, die in Brüssel erkennen, dass der Nationalstaat an seine Grenzen gekommen ist und dort das Gegenteil von dem beschließen, was sie erzählen. Das ist eines der größten Probleme hier in Europa.
Simon: Tatsache ist, dass mit nationalen Reflexen immer noch mehr Zustimmung zu bekommen ist als mit Europapolitik. Ist das nicht ein Grundproblem, das man zwar beklagen kann, was sich aber nicht ändert?
Schulz: Wenn es sich nicht ändert, dann gehen wir gefährlichen Zeiten entgegen. Es muss sich ändern. Das Bekenntnis dazu, dass wir für die wirtschaftlichen, die umweltpolitischen, die wanderungspolitischen, bevölkerungspolitischen Probleme, die währungspolitischen Probleme staatenübergreifende Lösungen brauchen und dafür staatenübergreifende Institutionen, die für die Lösungen zuständig sind. Das muss man erklären. Europa bildet sich ein, der Nabel der Welt zu sein. Das war es mal. Die Zeiten sind vorbei. Bei den G20-Finanzministern haben die sogenannten Schwellenländer Brasilien, Südafrika den Europäern die Frage gestellt, ob sie Geld brauchen. China soll jetzt in die europäische Finanzstabilisierungsfazilität investieren. Man muss einfach mal sehen, dass sich die Gewichte in dieser Welt verschieben. Und wenn Europa glaubt, es könne mit so mächtigen Weltregionen wie China, Indien, Lateinamerika, den USA und Südostasien auf Dauer auf gleicher Augenhöhe rangieren, indem es sich in die Größenordnung 'Deutschland als größtes und Malta als kleinstes Land' zerlegt, dann unterliegen wir einem dramatischen Irrtum.
Simon: Aber viele Menschen, gerade in den Ländern des Nordens, haben das Gefühl - in Deutschland ist das ja weit verbreitet -, dass sie die einzigen sind, die im Zweifel etwas aufbringen müssen, garantieren müssen, zahlen müssen. Und sie sehen natürlich auch Bilder, sie erfahren auch Dinge, die zeigen, dass es in anderen Ländern teilweise sehr große Verantwortungslosigkeit gibt, auch auf der politischen Ebene. Schauen wir nach Griechenland zum Beispiel, wo die Oppositionspartei die Lage nutzt, um Wahlkampf zu machen, bei entscheidenden Abstimmungen nicht dabei ist. In der Slowakei zum Beispiel haben die Sozialdemokraten erst mal die Regierung kaputt gehen lassen, bevor sie zugestimmt haben beim Rettungsschirm. Italien ist auch ein Beispiel von Verantwortungslosigkeit. Was nützen in einer solchen Situation denn dann überhaupt Rettungspakete, Rettungsschirme, Schuldenschnitte?
Schulz: Ihre Frage ist berechtigt. Frage umgekehrt: Was machen wir, wenn wir die Rettungspakete, die Schuldenschnitte nicht machen? Wir sind ja in der schwierigen Situation, dass alle diejenigen, die so argumentieren "Ach, was sollen wir denn für die Griechen zahlen? Ach, was haben wir denn mit den Spaniern zu tun?" uns ja nie sagen, was sie denn anders machen würden. Das ist zwar eine ganz bequeme Vorgehensweise - ach, wir machen wieder die D-Mark. Alle diese Leute, die diese Stammtischparolen erzählen, sagen ja nicht, was die Alternative wäre, die Wiedereinführung der D-Mark. Das kann man zurzeit in der Schweiz sehen, was passieren würde, wenn wir in Deutschland die D-Mark wieder einführen würden: ein Aufwertungsdruck, der in Deutschland Hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde, weil deutsche Produkte im Ausland durch diese D-Mark Höhenflüge sofort extrem teuer würden, worüber sich die Vereinigten Staaten von Amerika und übrigens auch die Chinesen sehr freuen. Wir handeln in unseren ureigenen Interessen, wenn wir Europa stabilisieren. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie recht haben. Es gibt verantwortungslose Politik, und zwar immer dann wird sie ganz verantwortungslose, wenn gesamteuropäische Interessen der nationalen Taktik unterworfen werden. Sie haben ein paar Beispiele genannt. Ein anderes Beispiel gibt es in Deutschland. Ist es eigentlich angemessen, dass eine Mehrheit von 60.000 Mitgliedern der Freien Demokratischen Partei in Deutschland, eine Partei, die ja auch politisch fast insolvent ist, darüber mit Mehrheit entscheiden, ob es einen europäischen Stabilisierungsmechanismus gibt oder nicht.
Simon: Aber Sie als Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament mit Gruppenparlamentariern aus vielen Ländern der Europäischen Union, Sie wissen ja selber mit am besten, wie groß die Unterschiede sind zwischen den einzelnen Euromitgliedsstaaten: kulturelle Unterschiede, wirtschaftliche Unterschiede, mentale - allein schon bei der Frage: Was erwartet man vom Staat? Wie viele Unterschiede verträgt so eine gemeinsame Währung wie unser Euro?
Schulz: Es gibt Mentalitätsunterschiede, das ist richtig. Aber man muss auch die Kirche im Dorf lassen. Wenn der Wille zum gemeinsamen ökonomischen Handeln da ist, dann kann man diesen Willen auch in die Tat umsetzen. Dann kann man gemeinschaftliche ökonomische, fiskalische und arbeitsmarktpolitische, umweltpolitische, infrastrukturpolitische Entscheidungen auch gemeinsam treffen. Das ist keine Mentalitätsfrage, sondern eine Frage der Pragmatik.
Simon: Aber müssen wir denn noch so viel mehr in Europa angleichen? Brauchen wir wirklich in Europa zum Beispiel überall gleiche Rentensysteme, wo den meisten Menschen Europa schon zu weit geht?
Schulz: Da redet ja auch niemand drüber. Das brauchen wir auch nicht. Es redet niemand über gleiche Rentensysteme. Das ist gut, dass Sie die Frage stellen. Kein Mensch will ein europäisches Rentensystem. Aber es ist ganz klar, dass nationale Haushalte, die hoch verschuldet sind, weil sie unter anderem - nehmen wir das griechische Beispiel, nehmen wir das italienische Beispiel - Frühpensionierungen im Beamtenbereich mit 50 Jahren, sozusagen den 'goldenen Handschlag in Permanenz' ermöglichen, dass diese Staatsdefizite, die daraus resultieren, wenn sie abgebaut werden sollen, auch als Voraussetzung haben, dass man im Rentensystem etwas ändern muss.
Simon: Mehr europäische Integration, Wirtschaftsregierung ist so ein Wort, was da ganz oft gesagt wird, dass Europa sich um die Dinge kümmern soll und eben nicht die nationalen Staaten, wenn es zum Beispiel um gemeinsame Währung und gemeinsame Wirtschaft geht. Jeder versteht da was anderes darunter. Was verstehen Sie darunter?
Schulz: Dieser Begriff, der regt mich offen gestanden auf. Man muss die Leute auch nicht unterschätzen. Die Menschen wissen schon sehr wohl, worum es geht. Wenn wir Kompetenzen aus der nationalen Ebene auf die europäische Ebene übertragen, dann müssen wir genau anschauen, um welche Kompetenzen es sich handelt. Eine der zentralen identitätsstiftenden Kompetenzen eines Nationalstaats ist seine eigene Währung. Die haben wir längst aufgegeben. Deutschland hat eine Gemeinschaftswährung mit anderen Ländern. Dann muss man für diese Gemeinschaftswährung auch die Kompetenzen, nämlich eine Regierung, die die ökonomischen Bedingungen für diese Währung durchsetzen muss, nach Brüssel verlagern. Das ist eindeutig das, was mit Wirtschaftsregierung gemeint ist. Ich will es vereinfachter ausdrücken. Für alle Kompetenzen, die wir nach Brüssel übertragen haben, die nicht mehr nationalstaatliche Kompetenz, sondern EU-Kompetenz sind, brauchen wir eine EU-Regierung, die einem EU-Parlament gegenübersteht. Dieses EU-Parlament muss den EU-Regierungschef wählen und kann ihn übrigens auch wieder abwählen. Für alle anderen Dinge, die nicht nach Brüssel übertragen sind, sind die Nationalregierungen zuständig.
Simon: Die gehen aber in eine ganz andere Richtung.
Schulz: Ja, bedauerlicherweise. Und damit machen sie sich - da sind wir bei der Frage, die wir eben erörtert haben - abhängig von den letzten taktischen Wallungen irgendeiner Oppositionspartei in irgendeinem kleinen Mitgliedsland. Was wir machen, ist: Wir haben den großen ökonomischen Wurf und politisch das kleinste Karo. Und das müssen wir überwinden.
Simon: Das, was Sie gerade angesprochen haben, europäische Regierung demokratisch verantwortet, sollte das eigentlich für die 17 Länder der Eurozone sein oder für die 27 der Europäischen Union? Das ist ja auch immer eine Frage, die kam beim letzten Gipfel wieder auf, dass sich die Regierungschefs, die nicht die Währung Euro haben in ihren Ländern, dass die sich zum Teil inzwischen ausgeschlossen fühlen. Wie kann man da einen goldenen Weg finden?
Schulz: Die EU zerfällt in drei Teile. Sie haben ein deutsch-französisches Direktorium mit Frau Merkel und Herrn Sarkozy - das sagt schon genug. Sie haben den Rest der Eurozone und sie haben den Rest der EU mit einer Sonderstellung für Großbritannien. Das ist gefährlich. Die Realität sieht nämlich wie folgt aus: Der Artikel 3 des EU-Vertrages, Absatz vier oder fünf glaube ich, sagt, die Union gibt sich eine gemeinsame Währung, den Euro. Davon haben nur zwei Staaten von einem Opt-out Gebrauch gemacht, also erklärt, sie machen nicht den Protokoll 16 zum Vertrag, das ist das Vereinigte Königreich und Dänemark. Alle anderen Staaten haben sich verpflichtet, auf Dauer den Euro einzuführen. Jetzt nehme ich mal ein Beispiel. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft in Europa ist die polnische. Die hat einen Premierminister Donald Tusk gerade wiedergewählt, einen ausgewiesenen proeuropäischen Regierungschef, der sagt, ich will den Euro auf Dauer einführen und ich bin deshalb den Maastricht-Defizitkriterien - drei Prozent im Haushalt, 60 Prozent in der Staatsverschuldung - ich bin dem verpflichtet. Ich muss diese Regeln strikt einhalten. Ich muss an allen Regeln der Eurozone teilnehmen, aber an der Entscheidungsfindung darf ich nicht teilnehmen - das mache ich nicht mit. Das heißt, die Eurozone mit ihren merkwürdigen Alleingipfeln, wo die anderen vor die Türe gesetzt werden, und innerhalb dieser Alleingipfeln der Eurostaaten dann die permanente Ankündigung, dass Frau Merkel und Herr Sarkozy entscheiden und die anderen erst gar nicht mehr gefragt werden, das trägt den Kern der Spaltung in sich. Ich gebe Ihnen mal ein praktisches Beispiel, wozu das führt. Es war nicht Herr von Rompuy und auch nicht Herr Barroso, die der italienischen Regierung gesagt haben, liebe Leute, ihr könnt uns hier nicht länger hinhalten, ihr müsst auch an eurer Überschuldung arbeiten. Nein, es waren Frau Merkel und Herr Sarkozy. Mit welchem Ergebnis? Dass der eigentlich politisch sowieso erledigte Premierminister Berlusconi nicht etwa geredet hat über objektive Kriterien, die definiert worden sind und die er einhalten muss, sondern über die Beleidigungen, die Italien nicht von den Regierungschefs anderer Länder entgegennehmen muss. Das heißt, dieser Ansatz, die EU zu spalten und dieses deutsch-französische Direktorium, das sich anmaßt, über alles alleine zu entscheiden, das ist eine echte Gefahr, weil diese Zergliederung des Wirtschaftsraums genau das Gegenteil von dem ist, was wir brauchen. Deshalb bin ich da sehr besorgt.
Simon: Aber ist es nicht auch ein Beispiel dafür, dass die Institution, die Sie für geeigneter halten, die europäischen Angelegenheiten da zu kontrollieren, dass die da versagt hat, nämlich die europäische Kommission, die ja seit Jahren Gelegenheit gehabt hätte, Italien massiv auf die Finger zu hauen?
Schulz: Da teile ich Ihre Auffassung nur zu Teilen. Die Italiener haben sich so überschuldet wie andere Länder auch. In den Jahren 2004 und 2005 hat die Kommission in Brüssel die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich aufgefordert, ihre Defizite zu begrenzen. Und das ist vom französischen und deutschen Finanzminister - der damalige deutsche Finanzminister war ein Parteifreund von mir, das muss ich dazu sagen - vom Tisch gefegt worden, Nach dem Prinzip, wir lassen uns da aus Brüssel nichts sagen. Wenn aber die Großen die Regeln nicht einhalten, dann machen es die anderen auch nicht. Übrigens, die Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Barroso, war derjenige, der die griechischen Zahlen schon im Jahre 2004 angezweifelt hat. Also, der Kommission nur Versagen vorzuwerfen, damit macht man es sich zu einfach. In einem Punkt hat die Kommission versagt: Sie hätte genau diese Umstände, genau dieses laxe Umgehen der Regierungschefs mit ihren eigenen Regeln viel stärker anprangern müssen. Ich habe Herrn Barroso mehr als einmal aufgefordert, den Fight mit den Regierungschefs zu suchen. Aber er ist selbst ein ehemaliger Regierungschef und hat meiner Meinung nach zu oft im Kopf: Was denken denn die früheren Kollegen über mich, wenn ich sie hart attackiere? Deshalb wäre es vielleicht gut, wenn der nächste Kommissionspräsident kein ehemaliger Regierungschef ist.
Simon: Sie sprachen das deutsch-französische Tandem, wie es oft genannt wird, an: Angela Merkel/Nikolas Sarkozy. Deutschland ist ja eigentlich immer damit gefahren, Frankreich den Vortritt zu lassen. Das hat natürlich vor allem geschichtliche Gründe, aber auch wegen des wirtschaftlichen Schwergewichts hat man das für angemessen gehalten. Das hat sich ja geändert, aber würden Sie sagen, dass Deutschland inzwischen die Führung übernommen hat in Europa?
Schulz: Wenn wir mal auf die letzten 18 Monate schauen, kann man ja nicht von Führung sprechen. Im Frühjahr 2010 sagt Frau Merkel: Keinen Pfennig für die Griechen. Drei Monate später sagt sie: Doch Geld für die Griechen, aber nur zeitlich begrenzt. Kurze Zeit danach heißt es, ja, aber doch permanent. Kurz danach heißt es, permanent, aber nur, wenn wir die Verträge ändern. Ich kann in dieser Echternacher Springprozession - drei vor, zwei zurück - keine Führung erkennen. Angela Merkel ist allerdings - das muss ich zugeben - eine sehr geschickte Frau im Verkünden der Lösungen der Probleme, die sie selbst mit verursacht hat. Ich glaube aber, dass der aufmerksame Beobachter und die aufmerksame Beobachterin feststellen werden, dass man Führung anders definiert als das, was Frau Merkel da macht.
Simon: Sie hat sich ja diese Woche indirekt hier in Brüssel ein bisschen verteidigt, indem sie sagte, es gibt so viele Experten, aber keiner kann genau sagen, welche Folgen welches Handeln hat und hat gesagt, deswegen sei es sinnvoll, erst mal kleine Schritte zu machen und jedes Mal zu gucken. Ist das nicht wirklich vernünftig?
Schulz: Ja, das ist vernünftig. Ich hätte mir gewünscht, sie hätte im Frühjahr 2010 nicht die große Führerin der deutschen Ansprüche gegeben, sondern hätte gesagt, das ist ein kleines Problem, das man in kleinen Schritten lösen kann. Wenn wir im Frühjahr des Jahres 2010 nicht uns auseinanderdividiert hätten nach dem Motto 'Sollen die Griechen doch schauen, wie sie klarkommen', sondern im Frühjahr 2010 die Regierungschefs das gemacht hätten, was sie jetzt tun, dann wäre es zu diesen Problemen nicht gekommen.
Simon: Wenn man damals schon einen Schuldenschnitt gemacht hätte für Griechenland, wäre nicht dieser ganze Prozess, der - vielleicht nicht bei den Demonstranten, die man immer auf den Fernsehbildern sieht, aber doch bei sehr vielen Griechen - inzwischen eingesetzt hat, dass sich Dinge grundlegend wandeln müssen, wäre der erst gar nicht in Bewegung gekommen?
Schulz: Giorgos Papandreou hatte die größte Zustimmungsrate im Land für Reformen, als die Griechen geglaubt haben, der Rest Europas sei mit ihnen solidarisch. Im Frühjahr 2010 hat Giorgos Papandreou eine Rede an die Nation gehalten. Die Bilder sind Ihnen sicher so in Erinnerung wie mir, als er an diesem kleinen Hafen gestanden hat mit den weißen Häusern im Hintergrund - ein für Griechenland für einen Regierungschef typisches Bild - in dieser Rede hat er seinen Leuten gesagt, es muss sich alles in diesem Lande ändern. Können Sie sich noch daran erinnern, wie das in Deutschland kommentiert wurde? Kann ich Ihnen sagen: Da steht dieser Kerl vor so einer Urlaubsatmosphäre. Das, was dieser Mann den Griechen in dieser Ansprache gesagt hat, war eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede, die von uns kommentiert wurde mit hämischsten Bemerkungen - nicht von mir, nicht von Ihnen, aber von einem Teil doch der in Deutschland führenden Medien und Politikern und Politikerinnen von in Deutschland führenden Parteien. Wenn wir all das uns erspart hätten, übrigens auch manche deutschfeindliche Kommentierung in Griechenland als Reaktion darauf, die genauso geistig flach war, dann, glaube ich, wären wir besser beraten gewesen.
Simon: Sie sagten es eben selber, Griechenland ist eigentlich klein. Italien ist sehr groß und vor allem ist der Schuldenberg von Italien sehr groß und die Reformunfähigkeit bislang auch sehr groß gewesen. Macht Ihnen Italien Angst?
Schulz: Italien ist ein G8-Staat mit enormen ökonomischen Potenzialen. Das ist ein Unterschied zwischen Italien und Griechenland. Italien kann aus eigener Kraft Wachstum generieren. Italien ist ein Land, das ewig mit einer Überschuldung gelebt hat, und hat das immer einigermaßen im Griff halten können. Wenn Sie auf Italien schauen, ist mir nicht bange. Italien ist ein Land mit einer großen und starken Industrie, es ist ein Land in einem großen und starken technologischen Fortschritt. Gut, das Land hat ein Nord-Süd-Gefälle, aber dieses Land hat große ökonomische Ressourcen. Ich will einmal die Präsidentin des italienischen Unternehmerverbandes zitieren, die ja jetzt bestimmt nicht im Verdacht steht, meiner politischen Richtung anzugehören. Das größte Wachstumshindernis, das größte ökonomische Hindernis dieses Landes ist der Regierungschef. Ich glaube, Silvio Berlusconi lastet wie Blei auf diesem Land und er täte Italien einen Gefallen, wenn er diese lähmende Schwere, die sich über dem Land ausgebreitet hat, weil die Regierung und eine zu Teilen zusammengekaufte Parlamentsmehrheit ja nichts anderes tut seit zwei Jahren, als den Premierminister vor der Strafverfolgung zu schützen, wenn diese Bleilast verschwinden würde, glaube ich, würde Italien enormen Schub bekommen. Dessen bin ich mir ganz sicher, dass es dann folgt, dass Italien in der Lage ist, sein Problem zu lösen.
Simon: Das Europaparlament, Herr Schulz, gilt ja in Deutschland immer noch als eine relativ machtlose Einrichtung. Selbst das Bundesverfassungsgericht scheint ja dem Bundestag in puncto demokratischer Kontrolle manchmal mehr zuzutrauen. Sie haben gute Aussichten, nächstes Jahr Präsident des Europaparlaments zu werden. Was wollen Sie tun, um die Autorität, das Ansehen des Parlaments zu stärken?
Schulz: Die Rolle des Europäischen Parlaments sichtbar zu machen als der Ort der offenen und transparenten Diskussion. In Europa geschieht alles hinter verschlossenen Türen. Der Rat tagt da hinter verschlossenen Türen. Ich bezeichne ihn immer gerne als einen permanenten Wiener Kongress, wo die Mächtigen Europas zusammenkommen, hinter verschlossenen Türen beraten und ihren erstaunten Untertanen anschließend mitteilen, worüber sie sich mal wieder nicht geeinigt haben. Die Kommission tagt hinter verschlossenen Türen mit Entscheidungen, wo der normal denkende Mensch wirklich auch fragt, ob diese Herrschaften gut beraten sind mit dem, was sie da tun. Und der Ort, an dem die Auseinandersetzung um die Zukunft Europas sichtbar wird, ist das Europäische Parlament. Der Ort, an dem sich die Großen verantworten müssen für das, was sie auf der europäischen Ebene tun, das muss das Europäische Parlament sein. Der Ort, an dem es richtig - ich sage das Mal ganz salopp - kracht, wo gestritten wird um den gemeinsamen Weg, das muss das Europäische Parlament sein. Das ist mein Ziel, das sichtbar zu machen. Und zum Bundesverfassungsgericht eine Bemerkung: Ich habe das Urteil zum Lissabon-Vertrag auch sehr aufmerksam gelesen. Mir kam manches Urteil zu Europa der Roten-Roben-Richter in Karlsruhe in den letzten Jahren mehr vor als der politische Ausdruck national gesinnter Richter als das objektive Urteil vom Verfassungshüter. Das hat sich mit Herrn Vosskuhle [Anm. der Redaktion: Präsident des Bundesverfassungsgerichts], finde ich, verbessert. In einem Punkt - ich versuche, das Mal praktisch klar zu machen - hat das Bundesverfassungsgericht schlicht und ergreifend etwas Falsches gesagt: Der Grundrechteschutz sei nur national zu gewährleisten, wenn sie das Bankdatenübertragungsabkommen der EU mit den Vereinigten Staaten von Amerika - SWIFT hieß das mal - nehmen, wo es darum ging, dass die Amerikaner die Bankdaten von Europäern ungeschützt verwenden können, dem übrigens alle Regierungen bereits zugestimmt hatten und das der Deutsche Bundestag nicht hätte aufhalten können, weil es nämlich in Straßburg ratifiziert werden muss. Wir haben im Europaparlament dieses Abkommen abgelehnt und damit den Datenschutz der Bundesbürger gewährleistet. Das konnte nicht der Bundestag, sondern nur das Europäische Parlament tun. Solche Dinge mehr sichtbar zu machen und ihnen mehr Gehör zu verschaffen - ich weiß, das ist ja eine meiner Schwächen, dass ich manchmal etwas zu laut bin und zu vorlaut bin, aber ich glaube, das kann man im Amt des Parlamentspräsidenten zugunsten der Institution in eine Tugend verwandeln.
Simon: Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
Schulz: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Schulz: Sie haben in Ihrer Frage ein optimistisches Bild gezeichnet. Wenn das alles so wäre, wie Sie es beschrieben haben, dann sind wir sicher einen Schritt nach vorne gekommen. Objektiverweise sind wir einen Schritt nach vorne gekommen. Aber es gibt ein paar offene Fragen. Sie haben Italien genannt. Ich glaube, Italien ist nach wie vor in einer schweren Krise. Kein Problem in Italien ist gelöst. Und die Dinge, die beschlossen worden sind, die sind in der Nacht beschlossen worden. Es empfiehlt sich auf europäischer Ebene, die Dinge dann sehr sorgfältig bei Tag und bei Licht zu betrachten. Und wenn man das macht, stellt man fest, dass doch das eine oder andere Ankündigungen sind, die noch der Umsetzung harren.
Simon: Sind Sie zuversichtlich, dass es trotzdem gut ausgehen könnte?
Schulz: Wir haben es mit einem Schub von Europäisierungen zu tun, wie wir in den letzten Jahren so nie erlebt haben - von den gleichen Leuten nebenbei bemerkt, die das Gegenteil behaupten oder behauptet haben. Wenn Sie mal sehen, wie im Zeitraffer die Ankündigungen und die Auffassungen von Angela Merkel von ihr selbst unter dem Druck der tatsächlichen Ereignisse in ihr Gegenteil verdreht wurden - übrigens von Sarkozy ja auch -, dann sehen Sie, wir sind auf dem Weg zu mehr europäischer Integration. Das finde ich richtig. Zugleich muss ich als Abgeordneter aber auch sagen, dass viele meiner Wählerinnen und Wähler das in dieser Schnelligkeit nicht mitmachen können und wollen. Und deshalb ist es gut, dass wir Schritte nach vorne machen. Aber es wäre noch wesentlich besser, wir würden sie viel stärker begründen, erklären und den Versuch unternehmen, die Menschen mitzunehmen. Das kann nicht die Aufgabe der Europaparlamentarier alleine sein. Das muss vor allen Dingen von den Regierungschefs, die diese Entscheidungen treffen, gemacht werden.
Simon: Sie sagen, es geht zu schnell für die Menschen. Was müsste denn da passieren, damit die Menschen besser mitgehen können?
Schulz: Dass man begründet, warum wir diese enormen Risiken auf uns nehmen, die wir auf uns nehmen. Es reicht nicht, dass man den Deutschen Bundestag zusammenruft - wenn ich mal unser deutsches Beispiel nehmen darf - und dort sagt, also das muss jetzt so sein, weil es alternativlos ist. Das stimmt nämlich nicht. Nichts im Leben ist alternativlos. Es gibt zu allem eine Alternative. Es gibt auch zu dem Rettungsschirm eine Alternative. Aber genau diese Alternative muss man beschreiben, und zwar so, wie sie ist: Dass das Auseinanderbrechen der Eurozone Deutschlands Ökonomie, die soziale Stabilität, die Arbeitsplätze in unserem Land massiv gefährden würde und dass wir deshalb diese Risiken auf uns nehmen. Mir fehlt der Mut und die Bereitschaft auch, sich die Mühsal aufzuladen, den Menschen die Notwendigkeit dieser sehr komplizierten Entscheidungsprozesse und der komplizierten Entscheidungen selbst zu erläutern.
Simon: Fehlt Ihnen da nicht - was ich so raushöre - ein klareres Bekenntnis vonseiten der Regierungschefs zu Europa?
Schulz: Die gleichen Leute, die hinter verschlossenen Türen immer mehr Europa beschließen, weil sie unter den tatsächlichen Verhältnissen sehen, dass nur der Zusammenschluss und die Europäische Gemeinschaft und das gemeinschaftliche Handeln uns weiterbringen. Die gleichen Leute erzählen teilweise, wenn die Türen wieder offen sind, vor den Kameras das Gegenteil von dem, was sie gerade tun. Die gleichen Regierungen, die den Leuten erzählen, dass der Nationalstaat eigentlich alles so schön regeln kann, sind die, die in Brüssel erkennen, dass der Nationalstaat an seine Grenzen gekommen ist und dort das Gegenteil von dem beschließen, was sie erzählen. Das ist eines der größten Probleme hier in Europa.
Simon: Tatsache ist, dass mit nationalen Reflexen immer noch mehr Zustimmung zu bekommen ist als mit Europapolitik. Ist das nicht ein Grundproblem, das man zwar beklagen kann, was sich aber nicht ändert?
Schulz: Wenn es sich nicht ändert, dann gehen wir gefährlichen Zeiten entgegen. Es muss sich ändern. Das Bekenntnis dazu, dass wir für die wirtschaftlichen, die umweltpolitischen, die wanderungspolitischen, bevölkerungspolitischen Probleme, die währungspolitischen Probleme staatenübergreifende Lösungen brauchen und dafür staatenübergreifende Institutionen, die für die Lösungen zuständig sind. Das muss man erklären. Europa bildet sich ein, der Nabel der Welt zu sein. Das war es mal. Die Zeiten sind vorbei. Bei den G20-Finanzministern haben die sogenannten Schwellenländer Brasilien, Südafrika den Europäern die Frage gestellt, ob sie Geld brauchen. China soll jetzt in die europäische Finanzstabilisierungsfazilität investieren. Man muss einfach mal sehen, dass sich die Gewichte in dieser Welt verschieben. Und wenn Europa glaubt, es könne mit so mächtigen Weltregionen wie China, Indien, Lateinamerika, den USA und Südostasien auf Dauer auf gleicher Augenhöhe rangieren, indem es sich in die Größenordnung 'Deutschland als größtes und Malta als kleinstes Land' zerlegt, dann unterliegen wir einem dramatischen Irrtum.
Simon: Aber viele Menschen, gerade in den Ländern des Nordens, haben das Gefühl - in Deutschland ist das ja weit verbreitet -, dass sie die einzigen sind, die im Zweifel etwas aufbringen müssen, garantieren müssen, zahlen müssen. Und sie sehen natürlich auch Bilder, sie erfahren auch Dinge, die zeigen, dass es in anderen Ländern teilweise sehr große Verantwortungslosigkeit gibt, auch auf der politischen Ebene. Schauen wir nach Griechenland zum Beispiel, wo die Oppositionspartei die Lage nutzt, um Wahlkampf zu machen, bei entscheidenden Abstimmungen nicht dabei ist. In der Slowakei zum Beispiel haben die Sozialdemokraten erst mal die Regierung kaputt gehen lassen, bevor sie zugestimmt haben beim Rettungsschirm. Italien ist auch ein Beispiel von Verantwortungslosigkeit. Was nützen in einer solchen Situation denn dann überhaupt Rettungspakete, Rettungsschirme, Schuldenschnitte?
Schulz: Ihre Frage ist berechtigt. Frage umgekehrt: Was machen wir, wenn wir die Rettungspakete, die Schuldenschnitte nicht machen? Wir sind ja in der schwierigen Situation, dass alle diejenigen, die so argumentieren "Ach, was sollen wir denn für die Griechen zahlen? Ach, was haben wir denn mit den Spaniern zu tun?" uns ja nie sagen, was sie denn anders machen würden. Das ist zwar eine ganz bequeme Vorgehensweise - ach, wir machen wieder die D-Mark. Alle diese Leute, die diese Stammtischparolen erzählen, sagen ja nicht, was die Alternative wäre, die Wiedereinführung der D-Mark. Das kann man zurzeit in der Schweiz sehen, was passieren würde, wenn wir in Deutschland die D-Mark wieder einführen würden: ein Aufwertungsdruck, der in Deutschland Hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde, weil deutsche Produkte im Ausland durch diese D-Mark Höhenflüge sofort extrem teuer würden, worüber sich die Vereinigten Staaten von Amerika und übrigens auch die Chinesen sehr freuen. Wir handeln in unseren ureigenen Interessen, wenn wir Europa stabilisieren. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie recht haben. Es gibt verantwortungslose Politik, und zwar immer dann wird sie ganz verantwortungslose, wenn gesamteuropäische Interessen der nationalen Taktik unterworfen werden. Sie haben ein paar Beispiele genannt. Ein anderes Beispiel gibt es in Deutschland. Ist es eigentlich angemessen, dass eine Mehrheit von 60.000 Mitgliedern der Freien Demokratischen Partei in Deutschland, eine Partei, die ja auch politisch fast insolvent ist, darüber mit Mehrheit entscheiden, ob es einen europäischen Stabilisierungsmechanismus gibt oder nicht.
Simon: Aber Sie als Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament mit Gruppenparlamentariern aus vielen Ländern der Europäischen Union, Sie wissen ja selber mit am besten, wie groß die Unterschiede sind zwischen den einzelnen Euromitgliedsstaaten: kulturelle Unterschiede, wirtschaftliche Unterschiede, mentale - allein schon bei der Frage: Was erwartet man vom Staat? Wie viele Unterschiede verträgt so eine gemeinsame Währung wie unser Euro?
Schulz: Es gibt Mentalitätsunterschiede, das ist richtig. Aber man muss auch die Kirche im Dorf lassen. Wenn der Wille zum gemeinsamen ökonomischen Handeln da ist, dann kann man diesen Willen auch in die Tat umsetzen. Dann kann man gemeinschaftliche ökonomische, fiskalische und arbeitsmarktpolitische, umweltpolitische, infrastrukturpolitische Entscheidungen auch gemeinsam treffen. Das ist keine Mentalitätsfrage, sondern eine Frage der Pragmatik.
Simon: Aber müssen wir denn noch so viel mehr in Europa angleichen? Brauchen wir wirklich in Europa zum Beispiel überall gleiche Rentensysteme, wo den meisten Menschen Europa schon zu weit geht?
Schulz: Da redet ja auch niemand drüber. Das brauchen wir auch nicht. Es redet niemand über gleiche Rentensysteme. Das ist gut, dass Sie die Frage stellen. Kein Mensch will ein europäisches Rentensystem. Aber es ist ganz klar, dass nationale Haushalte, die hoch verschuldet sind, weil sie unter anderem - nehmen wir das griechische Beispiel, nehmen wir das italienische Beispiel - Frühpensionierungen im Beamtenbereich mit 50 Jahren, sozusagen den 'goldenen Handschlag in Permanenz' ermöglichen, dass diese Staatsdefizite, die daraus resultieren, wenn sie abgebaut werden sollen, auch als Voraussetzung haben, dass man im Rentensystem etwas ändern muss.
Simon: Mehr europäische Integration, Wirtschaftsregierung ist so ein Wort, was da ganz oft gesagt wird, dass Europa sich um die Dinge kümmern soll und eben nicht die nationalen Staaten, wenn es zum Beispiel um gemeinsame Währung und gemeinsame Wirtschaft geht. Jeder versteht da was anderes darunter. Was verstehen Sie darunter?
Schulz: Dieser Begriff, der regt mich offen gestanden auf. Man muss die Leute auch nicht unterschätzen. Die Menschen wissen schon sehr wohl, worum es geht. Wenn wir Kompetenzen aus der nationalen Ebene auf die europäische Ebene übertragen, dann müssen wir genau anschauen, um welche Kompetenzen es sich handelt. Eine der zentralen identitätsstiftenden Kompetenzen eines Nationalstaats ist seine eigene Währung. Die haben wir längst aufgegeben. Deutschland hat eine Gemeinschaftswährung mit anderen Ländern. Dann muss man für diese Gemeinschaftswährung auch die Kompetenzen, nämlich eine Regierung, die die ökonomischen Bedingungen für diese Währung durchsetzen muss, nach Brüssel verlagern. Das ist eindeutig das, was mit Wirtschaftsregierung gemeint ist. Ich will es vereinfachter ausdrücken. Für alle Kompetenzen, die wir nach Brüssel übertragen haben, die nicht mehr nationalstaatliche Kompetenz, sondern EU-Kompetenz sind, brauchen wir eine EU-Regierung, die einem EU-Parlament gegenübersteht. Dieses EU-Parlament muss den EU-Regierungschef wählen und kann ihn übrigens auch wieder abwählen. Für alle anderen Dinge, die nicht nach Brüssel übertragen sind, sind die Nationalregierungen zuständig.
Simon: Die gehen aber in eine ganz andere Richtung.
Schulz: Ja, bedauerlicherweise. Und damit machen sie sich - da sind wir bei der Frage, die wir eben erörtert haben - abhängig von den letzten taktischen Wallungen irgendeiner Oppositionspartei in irgendeinem kleinen Mitgliedsland. Was wir machen, ist: Wir haben den großen ökonomischen Wurf und politisch das kleinste Karo. Und das müssen wir überwinden.
Simon: Das, was Sie gerade angesprochen haben, europäische Regierung demokratisch verantwortet, sollte das eigentlich für die 17 Länder der Eurozone sein oder für die 27 der Europäischen Union? Das ist ja auch immer eine Frage, die kam beim letzten Gipfel wieder auf, dass sich die Regierungschefs, die nicht die Währung Euro haben in ihren Ländern, dass die sich zum Teil inzwischen ausgeschlossen fühlen. Wie kann man da einen goldenen Weg finden?
Schulz: Die EU zerfällt in drei Teile. Sie haben ein deutsch-französisches Direktorium mit Frau Merkel und Herrn Sarkozy - das sagt schon genug. Sie haben den Rest der Eurozone und sie haben den Rest der EU mit einer Sonderstellung für Großbritannien. Das ist gefährlich. Die Realität sieht nämlich wie folgt aus: Der Artikel 3 des EU-Vertrages, Absatz vier oder fünf glaube ich, sagt, die Union gibt sich eine gemeinsame Währung, den Euro. Davon haben nur zwei Staaten von einem Opt-out Gebrauch gemacht, also erklärt, sie machen nicht den Protokoll 16 zum Vertrag, das ist das Vereinigte Königreich und Dänemark. Alle anderen Staaten haben sich verpflichtet, auf Dauer den Euro einzuführen. Jetzt nehme ich mal ein Beispiel. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft in Europa ist die polnische. Die hat einen Premierminister Donald Tusk gerade wiedergewählt, einen ausgewiesenen proeuropäischen Regierungschef, der sagt, ich will den Euro auf Dauer einführen und ich bin deshalb den Maastricht-Defizitkriterien - drei Prozent im Haushalt, 60 Prozent in der Staatsverschuldung - ich bin dem verpflichtet. Ich muss diese Regeln strikt einhalten. Ich muss an allen Regeln der Eurozone teilnehmen, aber an der Entscheidungsfindung darf ich nicht teilnehmen - das mache ich nicht mit. Das heißt, die Eurozone mit ihren merkwürdigen Alleingipfeln, wo die anderen vor die Türe gesetzt werden, und innerhalb dieser Alleingipfeln der Eurostaaten dann die permanente Ankündigung, dass Frau Merkel und Herr Sarkozy entscheiden und die anderen erst gar nicht mehr gefragt werden, das trägt den Kern der Spaltung in sich. Ich gebe Ihnen mal ein praktisches Beispiel, wozu das führt. Es war nicht Herr von Rompuy und auch nicht Herr Barroso, die der italienischen Regierung gesagt haben, liebe Leute, ihr könnt uns hier nicht länger hinhalten, ihr müsst auch an eurer Überschuldung arbeiten. Nein, es waren Frau Merkel und Herr Sarkozy. Mit welchem Ergebnis? Dass der eigentlich politisch sowieso erledigte Premierminister Berlusconi nicht etwa geredet hat über objektive Kriterien, die definiert worden sind und die er einhalten muss, sondern über die Beleidigungen, die Italien nicht von den Regierungschefs anderer Länder entgegennehmen muss. Das heißt, dieser Ansatz, die EU zu spalten und dieses deutsch-französische Direktorium, das sich anmaßt, über alles alleine zu entscheiden, das ist eine echte Gefahr, weil diese Zergliederung des Wirtschaftsraums genau das Gegenteil von dem ist, was wir brauchen. Deshalb bin ich da sehr besorgt.
Simon: Aber ist es nicht auch ein Beispiel dafür, dass die Institution, die Sie für geeigneter halten, die europäischen Angelegenheiten da zu kontrollieren, dass die da versagt hat, nämlich die europäische Kommission, die ja seit Jahren Gelegenheit gehabt hätte, Italien massiv auf die Finger zu hauen?
Schulz: Da teile ich Ihre Auffassung nur zu Teilen. Die Italiener haben sich so überschuldet wie andere Länder auch. In den Jahren 2004 und 2005 hat die Kommission in Brüssel die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich aufgefordert, ihre Defizite zu begrenzen. Und das ist vom französischen und deutschen Finanzminister - der damalige deutsche Finanzminister war ein Parteifreund von mir, das muss ich dazu sagen - vom Tisch gefegt worden, Nach dem Prinzip, wir lassen uns da aus Brüssel nichts sagen. Wenn aber die Großen die Regeln nicht einhalten, dann machen es die anderen auch nicht. Übrigens, die Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Barroso, war derjenige, der die griechischen Zahlen schon im Jahre 2004 angezweifelt hat. Also, der Kommission nur Versagen vorzuwerfen, damit macht man es sich zu einfach. In einem Punkt hat die Kommission versagt: Sie hätte genau diese Umstände, genau dieses laxe Umgehen der Regierungschefs mit ihren eigenen Regeln viel stärker anprangern müssen. Ich habe Herrn Barroso mehr als einmal aufgefordert, den Fight mit den Regierungschefs zu suchen. Aber er ist selbst ein ehemaliger Regierungschef und hat meiner Meinung nach zu oft im Kopf: Was denken denn die früheren Kollegen über mich, wenn ich sie hart attackiere? Deshalb wäre es vielleicht gut, wenn der nächste Kommissionspräsident kein ehemaliger Regierungschef ist.
Simon: Sie sprachen das deutsch-französische Tandem, wie es oft genannt wird, an: Angela Merkel/Nikolas Sarkozy. Deutschland ist ja eigentlich immer damit gefahren, Frankreich den Vortritt zu lassen. Das hat natürlich vor allem geschichtliche Gründe, aber auch wegen des wirtschaftlichen Schwergewichts hat man das für angemessen gehalten. Das hat sich ja geändert, aber würden Sie sagen, dass Deutschland inzwischen die Führung übernommen hat in Europa?
Schulz: Wenn wir mal auf die letzten 18 Monate schauen, kann man ja nicht von Führung sprechen. Im Frühjahr 2010 sagt Frau Merkel: Keinen Pfennig für die Griechen. Drei Monate später sagt sie: Doch Geld für die Griechen, aber nur zeitlich begrenzt. Kurze Zeit danach heißt es, ja, aber doch permanent. Kurz danach heißt es, permanent, aber nur, wenn wir die Verträge ändern. Ich kann in dieser Echternacher Springprozession - drei vor, zwei zurück - keine Führung erkennen. Angela Merkel ist allerdings - das muss ich zugeben - eine sehr geschickte Frau im Verkünden der Lösungen der Probleme, die sie selbst mit verursacht hat. Ich glaube aber, dass der aufmerksame Beobachter und die aufmerksame Beobachterin feststellen werden, dass man Führung anders definiert als das, was Frau Merkel da macht.
Simon: Sie hat sich ja diese Woche indirekt hier in Brüssel ein bisschen verteidigt, indem sie sagte, es gibt so viele Experten, aber keiner kann genau sagen, welche Folgen welches Handeln hat und hat gesagt, deswegen sei es sinnvoll, erst mal kleine Schritte zu machen und jedes Mal zu gucken. Ist das nicht wirklich vernünftig?
Schulz: Ja, das ist vernünftig. Ich hätte mir gewünscht, sie hätte im Frühjahr 2010 nicht die große Führerin der deutschen Ansprüche gegeben, sondern hätte gesagt, das ist ein kleines Problem, das man in kleinen Schritten lösen kann. Wenn wir im Frühjahr des Jahres 2010 nicht uns auseinanderdividiert hätten nach dem Motto 'Sollen die Griechen doch schauen, wie sie klarkommen', sondern im Frühjahr 2010 die Regierungschefs das gemacht hätten, was sie jetzt tun, dann wäre es zu diesen Problemen nicht gekommen.
Simon: Wenn man damals schon einen Schuldenschnitt gemacht hätte für Griechenland, wäre nicht dieser ganze Prozess, der - vielleicht nicht bei den Demonstranten, die man immer auf den Fernsehbildern sieht, aber doch bei sehr vielen Griechen - inzwischen eingesetzt hat, dass sich Dinge grundlegend wandeln müssen, wäre der erst gar nicht in Bewegung gekommen?
Schulz: Giorgos Papandreou hatte die größte Zustimmungsrate im Land für Reformen, als die Griechen geglaubt haben, der Rest Europas sei mit ihnen solidarisch. Im Frühjahr 2010 hat Giorgos Papandreou eine Rede an die Nation gehalten. Die Bilder sind Ihnen sicher so in Erinnerung wie mir, als er an diesem kleinen Hafen gestanden hat mit den weißen Häusern im Hintergrund - ein für Griechenland für einen Regierungschef typisches Bild - in dieser Rede hat er seinen Leuten gesagt, es muss sich alles in diesem Lande ändern. Können Sie sich noch daran erinnern, wie das in Deutschland kommentiert wurde? Kann ich Ihnen sagen: Da steht dieser Kerl vor so einer Urlaubsatmosphäre. Das, was dieser Mann den Griechen in dieser Ansprache gesagt hat, war eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede, die von uns kommentiert wurde mit hämischsten Bemerkungen - nicht von mir, nicht von Ihnen, aber von einem Teil doch der in Deutschland führenden Medien und Politikern und Politikerinnen von in Deutschland führenden Parteien. Wenn wir all das uns erspart hätten, übrigens auch manche deutschfeindliche Kommentierung in Griechenland als Reaktion darauf, die genauso geistig flach war, dann, glaube ich, wären wir besser beraten gewesen.
Simon: Sie sagten es eben selber, Griechenland ist eigentlich klein. Italien ist sehr groß und vor allem ist der Schuldenberg von Italien sehr groß und die Reformunfähigkeit bislang auch sehr groß gewesen. Macht Ihnen Italien Angst?
Schulz: Italien ist ein G8-Staat mit enormen ökonomischen Potenzialen. Das ist ein Unterschied zwischen Italien und Griechenland. Italien kann aus eigener Kraft Wachstum generieren. Italien ist ein Land, das ewig mit einer Überschuldung gelebt hat, und hat das immer einigermaßen im Griff halten können. Wenn Sie auf Italien schauen, ist mir nicht bange. Italien ist ein Land mit einer großen und starken Industrie, es ist ein Land in einem großen und starken technologischen Fortschritt. Gut, das Land hat ein Nord-Süd-Gefälle, aber dieses Land hat große ökonomische Ressourcen. Ich will einmal die Präsidentin des italienischen Unternehmerverbandes zitieren, die ja jetzt bestimmt nicht im Verdacht steht, meiner politischen Richtung anzugehören. Das größte Wachstumshindernis, das größte ökonomische Hindernis dieses Landes ist der Regierungschef. Ich glaube, Silvio Berlusconi lastet wie Blei auf diesem Land und er täte Italien einen Gefallen, wenn er diese lähmende Schwere, die sich über dem Land ausgebreitet hat, weil die Regierung und eine zu Teilen zusammengekaufte Parlamentsmehrheit ja nichts anderes tut seit zwei Jahren, als den Premierminister vor der Strafverfolgung zu schützen, wenn diese Bleilast verschwinden würde, glaube ich, würde Italien enormen Schub bekommen. Dessen bin ich mir ganz sicher, dass es dann folgt, dass Italien in der Lage ist, sein Problem zu lösen.
Simon: Das Europaparlament, Herr Schulz, gilt ja in Deutschland immer noch als eine relativ machtlose Einrichtung. Selbst das Bundesverfassungsgericht scheint ja dem Bundestag in puncto demokratischer Kontrolle manchmal mehr zuzutrauen. Sie haben gute Aussichten, nächstes Jahr Präsident des Europaparlaments zu werden. Was wollen Sie tun, um die Autorität, das Ansehen des Parlaments zu stärken?
Schulz: Die Rolle des Europäischen Parlaments sichtbar zu machen als der Ort der offenen und transparenten Diskussion. In Europa geschieht alles hinter verschlossenen Türen. Der Rat tagt da hinter verschlossenen Türen. Ich bezeichne ihn immer gerne als einen permanenten Wiener Kongress, wo die Mächtigen Europas zusammenkommen, hinter verschlossenen Türen beraten und ihren erstaunten Untertanen anschließend mitteilen, worüber sie sich mal wieder nicht geeinigt haben. Die Kommission tagt hinter verschlossenen Türen mit Entscheidungen, wo der normal denkende Mensch wirklich auch fragt, ob diese Herrschaften gut beraten sind mit dem, was sie da tun. Und der Ort, an dem die Auseinandersetzung um die Zukunft Europas sichtbar wird, ist das Europäische Parlament. Der Ort, an dem sich die Großen verantworten müssen für das, was sie auf der europäischen Ebene tun, das muss das Europäische Parlament sein. Der Ort, an dem es richtig - ich sage das Mal ganz salopp - kracht, wo gestritten wird um den gemeinsamen Weg, das muss das Europäische Parlament sein. Das ist mein Ziel, das sichtbar zu machen. Und zum Bundesverfassungsgericht eine Bemerkung: Ich habe das Urteil zum Lissabon-Vertrag auch sehr aufmerksam gelesen. Mir kam manches Urteil zu Europa der Roten-Roben-Richter in Karlsruhe in den letzten Jahren mehr vor als der politische Ausdruck national gesinnter Richter als das objektive Urteil vom Verfassungshüter. Das hat sich mit Herrn Vosskuhle [Anm. der Redaktion: Präsident des Bundesverfassungsgerichts], finde ich, verbessert. In einem Punkt - ich versuche, das Mal praktisch klar zu machen - hat das Bundesverfassungsgericht schlicht und ergreifend etwas Falsches gesagt: Der Grundrechteschutz sei nur national zu gewährleisten, wenn sie das Bankdatenübertragungsabkommen der EU mit den Vereinigten Staaten von Amerika - SWIFT hieß das mal - nehmen, wo es darum ging, dass die Amerikaner die Bankdaten von Europäern ungeschützt verwenden können, dem übrigens alle Regierungen bereits zugestimmt hatten und das der Deutsche Bundestag nicht hätte aufhalten können, weil es nämlich in Straßburg ratifiziert werden muss. Wir haben im Europaparlament dieses Abkommen abgelehnt und damit den Datenschutz der Bundesbürger gewährleistet. Das konnte nicht der Bundestag, sondern nur das Europäische Parlament tun. Solche Dinge mehr sichtbar zu machen und ihnen mehr Gehör zu verschaffen - ich weiß, das ist ja eine meiner Schwächen, dass ich manchmal etwas zu laut bin und zu vorlaut bin, aber ich glaube, das kann man im Amt des Parlamentspräsidenten zugunsten der Institution in eine Tugend verwandeln.
Simon: Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
Schulz: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.