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"Wir haben etwas ganz, ganz Großes verloren"

Für den Tanzkritiker Jochen Schmidt zählt Pina Bausch zu den größten Choreografen des 20. Jahrhunderts und ist die bedeutendste Tänzerpersönlichkeit, die Deutschland hervorgebracht hat. Sie habe aus dem Sprechen eine Art von Bewegung gemacht.

Jochen Schmidt im Gespräch mit Karin Fischer | 30.06.2009
    Karin Fischer: Einer, der Pina Bausch sein Leben lang begleitet hat, ist der Tanzkritiker Jochen Schmidt. Herr Schmidt, zuerst an Sie die Frage: Was hat die Tanzwelt am heutigen traurigen Tag an Pina Bausch verloren?

    Jochen Schmidt: Ich glaube, das können wir noch gar nicht ermessen. Wir haben etwas ganz, ganz Großes verloren, eine der wichtigsten Choreografen des 20. Jahrhunderts, sicherlich die bedeutendste Tänzerpersönlichkeit, trotz Kurt Jooss, die Deutschland je hervorgebracht hat. Aber was das wirklich bedeutet, das werden wir vielleicht erst in Jahrzehnten wissen.

    Fischer: Wir müssen auf alle Fälle über eine Produktion sprechen, die früh Aufsehen erregte, nämlich in den 70er-Jahren Strawinskys "Sacre du Printemps". Was war, Jochen Schmidt, das Besondere, was war das Aufwühlende daran?

    Schmidt: Ich denke, das Aufwühlendste dran war das große Mitleid, das sie mit dem Opfer hatte. Wir haben eine ganze Menge nicht unwichtige Choreografien gesehen vorher, von Maurice Béjart beispielsweise, auch von Neumeier. Aber dann kam Pina Bausch, und das, was sie mit dem "Sacre" gemacht hat, das, denke ich, das kann man überhaupt nicht mehr verändern. Die "Sacre"-Musik ist mit Pina Bauschs Choreografie eine Einheit eingegangen, wie es sie nur ganz selten gibt, beispielsweise beim "Apollo" mit der Choreografie von Balanchine. Und es ist wirklich eine ungeheure Dramatik auf der Bühne, aber es ist eben vor allem die Liebe zu den Figuren, speziell zur Figur des Opfers, die da steckt und die dann immer wieder, wo immer man sie sieht und wo sie getanzt wird - sie wird ja mittlerweile auch an der Pariser Oper getanzt - es ist diese Liebe, die einen ungeheuer beeindruckt.

    Fischer: Jochen Schmidt, es ist immer sehr schwer, Tanz im Radio für die Hörer zu übersetzen. Wie würden Sie die Formensprache, die Bewegungssprache Pina Bauschs charakterisieren?

    Schmidt: Es ist vor allen Dingen der Verzicht auf eine bestimmte Form, glaube ich. Sie hat angefangen zweifellos in Wuppertal als eine, ja eine konventionelle, zwar wunderbare, ganz grandiose Modern Dancerin, Modern-Dance-Choreografin, aber dann hat sie plötzlich, ist sie auf den Trichter gekommen, dass das doch alles für sie, denke ich, wenig Sinn macht. Und dann mit ihrem, ich glaube, es war 73, nein, es war nicht 73, es war 76, mit dem Brecht-Weill-Abend, da hat etwas wirklich völlig Neues angefangen. Sie hat etwas gemacht, was keiner vorher riskiert hat, sie hat nämlich einfach sozusagen das große E weggestrichen.

    Sie hat also nicht mehr einfach nur seriöse Kunst gemacht, sondern sie hat sich hemmungslos, aber ohne irgendetwas von ihrem Engagement preiszugeben, in die Unterhaltung gestürzt. Ich habe, glaube ich, noch nie erlebt, dass etwas so unterhaltsam und gleichzeitig so ernsthaft war wie dieser Brecht-Weill-Abend von Pina Bausch damals.

    Fischer: Wir sprechen immer davon, dass Video, die neuen Medien die Theaterbühnen erobert haben, aber was Pina Bausch gemacht hat, war ja, sie hat das Sprechtheater sozusagen zum Tanz gebracht. Sie hat am laufenden Band Innovationen erfunden, sie war zum Beispiel die Erste, die den alten Tänzern auch Raum gegeben hat. Das hat eine Diskussion in Deutschland aufgebracht zum Thema: Was passiert eigentlich mit Tänzern, wenn sie nicht mehr ganz schlank und ganz schön sind?

    Schmidt: Ja, ich weiß nicht, ob das so wichtig ist, da, glaube ich, gibt es andere Beispiele, beispielsweise das Nederlands Dans Theater. Aber was sie wirklich ...

    Fischer: Lassen Sie uns bei den wichtigen Dingen bleiben.

    Schmidt: Ja, beispielsweise, sie hat, glaube ich, nicht das Tanztheater auf die Bühne gebracht, sondern sie hat den Bewegungen - es waren ja nie die Schritte, die bei ihr wichtig waren -, und irgendwann hat sie wohl herausgefunden, dass man alles mischen kann, auch eben das Sprechen eingeführt, sie hat das Singen eingeführt, aber nicht à la Sprechtheater. Das, was sie gemacht hat, war wirklich, dass sie sozusagen das Sprechen verfugt hat. Sie hat aus dem Sprechen eine Art von Bewegung gemacht. Das war etwas, das ist wohl, glaube ich, das wirklich Neue, was sie eingeführt hat, sie hat also aus allem, was auf Ihrer Bühne passierte, hat sie Tanz gemacht.

    Fischer: Sie ist in den letzten Jahren sehr stark in die Welt gegangen, sie hatte internationale Einladungen, sie ist mit dem Goethe-Institut in allen Kontinenten dieser Erde gewesen, sie hat von dort auch Inspirationen mitgebracht. War das eine Öffnung oder wurde das im Kosmos Pina Bauschs sozusagen einfach vermengt? Wie haben Sie das empfunden?

    Schmidt: Es war sicherlich eine Öffnung, und es war sicherlich, eine große Neugier, glaube ich, steckte dahinter. In einem Land ... Die Kompanie ist ja wirklich durch die ganze Welt gereist, aber das Neue war dann, dass sie nicht einfach nur noch nur Gäste sein wollten, sondern dass sie wirklich in die neue Umgebung eintauchen wollten, dass sie die neue Umgebung sich einverleibt haben und dann in ihren Stücken wieder ein Stück dieser neuen Umgebung an andere weitergegeben haben. Und das ist fast immer großartig geglückt. Im Anfang vielleicht besser als am Ende, als das dann ein bisschen schon Routine wurde, aber Gott, was wird nicht Routine?

    Fischer: Wir haben Mitte Juni erst das neue Stück von Pina Bausch in Wuppertal gesehen, und da Sie das Stichwort Routine ansprechen, das schien mir nun wiederum eine energetische Aufladung zu haben, wie das schon lange nicht mehr passiert ist bei Pina Bausch. Was ist da passiert?

    Schmidt: Ich glaube, das hat sehr viel zu tun mit den jungen Tänzern, die sie da gehabt hat, und ja vielleicht, wenn ich das jetzt also von heute her betrachte, vielleicht hat sie ja auch gewusst, dass sie gar nicht mehr so lange zu leben und so ganz viel Zeit hatte, noch etwas zu sagen. Und vielleicht ist das, ohne dass Sie es gemerkt haben, in das Stück eingeflossen.

    Fischer: Jochen Schmidt, Sie haben am Anfang gesagt, wir können ihre Bedeutung heute noch nicht ermessen, trotzdem noch mal an Sie die Frage, auch weil es so schwierig ist, Choreografien aufzubewahren, Tanz zu bewahren: Was wird bleiben von Pina Bausch in dieser Welt?

    Schmidt: Sicherlich die Methode, mit Tanz umzugehen, die wird bleiben. Ihre Stücke vielleicht auch, obwohl das sehr, sehr schwierig werden wird, wenn Pina selbst nicht mehr da ist. Man hat das gesehen bei Martha Graham, deren Werk beinah völlig verschwunden wäre, sogar weitgehend verschwunden ist. Man kann nur hoffen, dass das mit Pinas Werk selbst nicht passiert.

    Fischer: Es gibt viele Filme über ihr Werk, Merce Cunningham hat neulich erklärt, wie er versucht, sein Werk durch die Zeit zu bringen. Wissen Sie, ob es da Regelungen gibt?

    Schmidt: Nein, ich habe keine Ahnung, aber ich fürchte, da gibt es nichts außer den paar Sachen, die es schon gibt. Und um die war sie ja immer sehr besorgt, sie hat sie auch kaum je aus der Hand gegeben, was so in der Welt grassierte, was also herumgeisterte an Aufführungsaufzeichnungen, das waren fast alles Raubkopien und Raubaufzeichnungen. Gott sei Dank hat es davon einige gegeben, Gott sei Dank hat es auch ein paar Fernsehaufzeichnungen gegeben. Und ja, vielleicht werden wir uns auf die Dauer damit begnügen müssen.

    Fischer: Herzlichen Dank an den Tanzkritiker Jochen Schmidt für dieses Gespräch zum Tod von Pina Bausch.