Christoph Heinemann: Frau Nahles, bald beginnen in mehreren Bundesländern die Sommerferien, davor gibt es Zeugnisse. Wenn Sie das Bild Ihrer Partei in der Öffentlichkeit gegenwärtig benoten sollten: Wäre die Versetzung gefährdet?
Andrea Nahles: Ja, das wäre sie schon. Ich glaube, man müsste jetzt ein paar Lehrer-Schüler-Gespräche führen und die Eltern wären auch nicht schlecht. Das müsste schon sein, weil wir keine allzu positive Entwicklung in den letzten Wochen hatten, und ich denke deswegen, dass wir in der Sommerpause das nutzen sollten, um ein bisschen nachzusitzen.
Christoph Heinemann: Gespräch - mit wem, worüber?
Andrea Nahles: Neulich hat mir mein Vater gesagt: "Also, weißt Du, bei uns im Kirchenchor" - der leitet den in meinem Dorf - "da proben wir immer nicht öffentlich, da kann man auch mal einen Misston haben, da kann man auch mal zweimal oder dreimal anfangen, aber wenn wir die Konzerte machen öffentlich, dann singen wir durch und dann ist das harmonisch". Und den Eindruck eines öffentlichen Konzerts macht die SPD im Moment nicht ausreichend, und da drüber sollten wir zum Beispiel reden in diesen Gesprächen in den Sommerferien.
Christoph Heinemann: Wird da auch zu viel "Moll" gesungen?
Andrea Nahles: Ja, ich finde schon, dass wir es an Selbstbewusstsein mangeln lassen. Also ich denke, es besteht Anlass zu reden auch darüber, dass man ein Stück weit eine schwierige Entscheidung getroffen hat im Zusammenhang mit der Hessenwahl, was die Linkspartei angeht. Aber ich denke, die SPD hätte allen Grund, selbstbewusster zu sein, auch was ihre Regierungsbilanz angeht. Und das kann wirklich nur besser werden.
Christoph Heinemann: Konkret mal gefragt: Die CDU ist kurz davor, die SPD als mitgliederstärkste Partei zu überholen. Es gibt jetzt eine Umfrage in dieser Woche, dass fast jedes dritte Parteimitglied überlegt, auszutreten, das Parteibuch zurückzugeben. Und dann sind da noch die Umfragen - 20 Prozent.
Andrea Nahles: Aber in diesem konkreten Falle muss ich dann schon nochmal sagen: Herr Güllner, der macht gerade eine Kampagne gegen die SPD ...
Christoph Heinemann: Das ist der Chef von forsa.
Andrea Nahles: ... von forsa - der die Zahlen rausgebracht hat. Es ist einfach so, dass er schlicht und ergreifend offensichtlich in die SPD- Interna hinein regieren will. Und ich kommentiere diese Zahlen einfach nicht mehr. Gleichwohl - das will ich nicht ableugnen - ist die SPD auch Umfragen auch bei anderen Instituten auf einem Niveau, das uns absolut nicht zufriedenstellen kann.
Christoph Heinemann: Trotzdem - ein bisschen den Überbringer der schlechten Nachricht zu prügeln, das ist der Klassiker.
Andrea Nahles: Na, das ist ein bisschen mehr. Es ist wirklich unseriös, was da passiert.
Christoph Heinemann: Von der SPD gehen seit Monaten ziemlich unklare Signale aus - "ja" und "nein" zu einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei vor der Hamburgwahl, das haben Sie selbst genannt, unklare Ansagen zum Steuer- und Abgabenkonzept, erst Zustimmung, dann Ablehnung einer Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten, deutliche Signale aus der SPD für eine Unterstützung Horst Köhlers, dann eine Gegenkandidatin. Wer trägt denn für dieses Hin und Her die Verantwortung?
Andrea Nahles: Also, diese Entscheidungen nun alle im einzelnen auseinanderzunehmen, dafür fehlt uns heute die Zeit. Ich glaube, dass man insgesamt die Teamleistungen der SPD-Spitze noch verbessern muss. Ich habe den Eindruck, dass zu viel auf Kurt Beck abgewälzt wird, auch an Verantwortung, und dass es eine Beruhigung braucht und auch ein stärkeres Zusammenarbeiten. Das Zentrum der SPD ist auch immer wieder nicht nur von einer Person zusammenzuhalten, sondern das muss eben auch von anderen kommen. Dazu zählt die Fraktion, und dazu zählen aber auch die Stellvertreter, also auch ich. Insoweit hatten wir uns auch zusammengerauft, und ich habe den Eindruck, auch wenn es vielleicht jetzt nicht so sichtbar gewesen ist, dass sich das in der Innensicht auf dem richtigen Weg befindet.
Christoph Heinemann: In der Spitze müsse es besser werden, sagen Sie. Wer tanzt denn da aus der Reihe?
Andrea Nahles: Ich glaube, wir sind da oft so, dass wir - nehmen wir mal politische Themen - dann sagen: Also Moment mal, wir haben doch eine andere Vereinbarung mit der Union. Und dann halten wir da die Linie. Es ist also zum Beispiel beim Kindergeld so, dann wird darüber bei uns diskutiert, und es gibt Abwägungen, die dann über Monate nicht zum richtigen Ende geführt worden sind. Das haben wir jetzt gemacht am Montag, aber ich finde, manchmal könnten wir da ein bisschen zügiger uns verständigen, um auch in der Kommunikation dann nach außen besser zu werden, weil: Oft ist es so, dass Frau von der Leyen einfach ein bisschen Kommunikation macht und dann eine Punktlandung in der Öffentlichkeit signalisiert, die in Wahrheit eigentlich sowohl finanziell als auch politisch von der SPD vorbereitet worden ist. Also ich finde, wir sind da manchmal nicht punktgenau, wir verschenken auch Sachen. Und das muss besser werden, und das geht eben nur im Team, das ist eine Koordinationssache.
Christoph Heinemann: Nochmal die Frage: Ross und Reiter, wer verschenkt?
Andrea Nahles: Viele, nicht nur einer. Und in der Öffentlichkeit wird momentan der Eindruck erweckt: Das ist alles Kurt Beck. Und das ist falsch.
Christoph Heinemann: Sind Sie denn auch dafür verantwortlich?
Andrea Nahles: Ja, mitverantwortlich auf jeden Fall.
Christoph Heinemann: Reden wir über den Bundespräsidenten. Wie bewerten Sie die Arbeit des amtierenden Bundespräsidenten Horst Köhler?
Andrea Nahles: Also, der hat seinen Job gut gemacht.
Christoph Heinemann: Was folgt daraus?
Andrea Nahles: Es gibt jemanden, der aus meiner Sicht noch besser ist und der auch noch Akzente setzen kann, die ich mir wünschen würde. Diese Frau - in dem Falle - heißt Gesine Schwan.
Christoph Heinemann: Aber eine Gegenkandidatur, das entspricht nicht der Tradition - einer Kampfkandidatur.
Andrea Nahles: Hat's auch schon gegeben, ist allerdings ein paar Jahrzehnte her. Und es ist richtig, es ist ungewöhnlich. Ich glaube, dass die SPD mit dieser Kandidatur auch ein bisschen was transportieren will. Zum einen halten wir es auch für geboten, dass eine Frau dieses höchste repräsentative Amt - in Wahrheit ist es ein repräsentative Amt - wahrnimmt. Und zum Zweiten ist gerade durch den europäischen Erweiterungsprozess meiner Meinung nach auch eine ganz aktive Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern erforderlich, und hier muss man wirklich sagen, hat Gesine Schwan auch als Vorsitzende und Leiterin der Viadrina-Universität an der deutsch-polnischen Grenze Hervorragendes anzubieten, auch an Erfahrungen. Ich denke, sie ist insoweit auch ein gutes Signal, auch für dieses zusammenwachsende Europa, und sie hat vor allem etwas, was ich toll finde: Sie schafft Begeisterungsfähigkeit für unsere Demokratie, für ihre Institution, die auch Fehler macht, aber die trotzdem ein demokratisches Miteinander überhaupt erst ermöglichen. Und diesen Akzent, den der jetzige Bundespräsident Horst Köhler nicht so gesetzt hat - er hat andere Akzente gesetzt, zum Beispiel hat er tolle Arbeit in Afrika gemacht -, aber diesen Akzent würde ich mir angesichts auch von einer NPD, die in jedem Kreistag von Sachsen mittlerweile sitzt, wünschen. Und deswegen glaube ich, dass sie die bessere Kandidatin wäre.
Christoph Heinemann: Frau Nahles, am 1. Juni hat mein Kollege Frank Capellan an dieser Stelle Ihren Parteifreund Peter Struck gefragt, warum Sie - Andrea Nahles - mit Gesine Schwans Kandidatur nicht abwarten konnten, bis sich der Bundespräsident entschieden hat. Peter Strucks Antwort: "Das müssen Sie Frau Nahles fragen." Bitteschön.
Andrea Nahles: Das habe ich Ihnen gerade begründet. Also, ich glaube einfach, dass sie die richtige ...
Christoph Heinemann: Den Zeitpunkt haben Sie nicht begründet.
Andrea Nahles: Nun, Peter Struck war noch eifriger als ich, denn er hatte sich ja vorher festgelegt öffentlich. Und er war übrigens auch der einzige, der das getan hat aus der SPD-Führungsriege. Und ich wollte eigentlich eine offene Debatte haben, ich wollte nicht, dass das, bevor wir uns überhaupt mit Gesine Schwan getroffen haben, entschieden wird, sondern ich wollte eine Offenheit, und das ist auch gelungen. Wir haben - man mag es altmodisch finden - aber wir haben zusammengehockt in Potsdam und haben uns beratschlagt, richtig das Für und Wider abgewogen, stundenlang. Und ich fand das richtig gut, das war überhaupt keine schlechte Sache, sondern man hat das abgewogen. Und dann hat es ein Ergebnis gegeben. Und diese Abwägung - da gibt es immer Pro und Kontra. Und deswegen fand ich es einfach notwendig, diese Möglichkeit zu eröffnen, dass es auch tatsächlich eine echte Abwägung wird.
Christoph Heinemann: Ist diese Nominierung auch eine Reaktion darauf, dass Angela Merkel Kurt Beck nicht gefragt hat, ob die SPD Horst Köhler unterstützen würde?
Andrea Nahles: Also, sie sind vorgeprescht. Horst Köhler wurde ja vorgeschlagen - übrigens in einer Kungelrunde in der Küche eines Vorsitzenden einer Partei, soweit ich mich recht entsinne, damals Westerwelle - Merkel, und er war ganz klar der schwarz-gelbe Kandidat. Dann kam es aber zu einer großen Koalition, aber Horst Köhler hat, so glaube ich, in der Zwischenzeit auch bei anderen Wählern punkten können. Was macht nun die Frau Merkel mit dem Herrn Westerwelle? Sie machen wieder die Nummer, dass sie sich, also ohne das vorher mit uns zu besprechen, sehr frühzeitig in diesem Jahr für Horst Köhler aussprechen und norden ihn sozusagen wieder für Schwarz-Gelb ein.
Christoph Heinemann: Also schon eine gewisse Trotzreaktion doch.
Andrea Nahles: Ich weiß nicht, was die Motive waren, aber ich habe mich, ehrlich gesagt, gewundert.
Christoph Heinemann: Sie saßen doch zusammen, sagten Sie, in Potsdam.
Andrea Nahles: Nein, also das war keine Trotzreaktion von uns, sondern wir haben das erst mal zur Kenntnis genommen, wie das wieder eingefädelt worden ist. Aber eine Trotzreaktion - nein. Dafür ist das Amt ein bisschen zu wichtig, als dass man jetzt Kleinkindertrotz daraus macht, sondern es wurde abgewogen: Was für Chancen und was für Risiken verbergen sich einmal für die Bundesrepublik - Sie haben ja schon gesagt, es ist kein übliches Verfahren zunächst mal gewesen - und aber auch für die SPD als Partei. Das haben wir miteinander abgewogen und das hat am Ende den Ausschlag gegeben.
Christoph Heinemann: Mit welchen Stimmen sollte denn Gesine Schwan gewählt werden?
Andrea Nahles: Nun, mit denen, die sie beim letzten Mal auch bekommen hat, und das bedeutet, dass sie sowohl von den Grünen als auch von der Linkspartei, damals PDS, aber auch aus dem Lager der FDP und der CDU Stimmen bekommen hat.
Christoph Heinemann: Nur werden die den Teufel tun so kurz vor der Bundestagswahl. Das war vor fünf Jahren anders.
Andrea Nahles: Das werden wir alles mal abwarten.
Christoph Heinemann: Sie rechnen mit Stimmen der CDU und der FDP?
Andrea Nahles: Ja, auf jeden Fall.
Christoph Heinemann: Und mit denen der Linkspartei auch?
Andrea Nahles: Ja, das hat auch Frau Gesine Schwan von Anfang an klar gemacht, anders geht es nicht. Es ist ja auch keine Koalitionsverhandlung, es wird keine Regierung gebildet, die Gesetze macht, sondern es ist eine Personenwahl. Und entscheiden tun die Wahlfrauen und Wahlmänner nur darüber, wen sie für den geeignetsten Kandidaten für dieses hohe repräsentative Amt halten, und nicht über Koalitionen für die Bundestagswahl wird entschieden. Und das halte ich auch für wichtig, das zu unterscheiden und trennen.
Christoph Heinemann: Wird die SPD darüber mit Oskar Lafontaine oder Gregor Gysi sprechen - über diese Wahl?
Andrea Nahles: Es wird überhaupt keine Vereinbarungen oder Deals geben.
Christoph Heinemann: Gespräche?
Andrea Nahles: Ich schließe das für mich aus.
Christoph Heinemann: Für alle anderen im Vorstand auch?
Andrea Nahles: Wenn Sie mich jetzt ganz ehrlich fragen - ich denke, es wird vielleicht mal Gespräche geben, ich weiß aber nicht, von wem und wie und wann. Ich weiß es nicht.
Christoph Heinemann: Sie schließen es nicht aus?
Andrea Nahles: Also, ich schließe aus, um das nochmal deutlich zu sagen, dass es da irgendwelche Geschäfte geben wird, ja.
Christoph Heinemann: Für Oskar Lafontaine wäre es ja keine Niederlage, wenn Gesine Schwan nicht gewählt würde. Er hat sich hier übrigens im Deutschlandfunk ganz positiv, so wie Sie eben auch, über Horst Köhler geäußert. Also im Prinzip ist doch die SPD jetzt in Zugzwang, sie muss durchkommen?
Andrea Nahles: Es ist kein Wahlkampf, wie man das normalerweise bei Bundestagswahlen hat.
Christoph Heinemann: Aber so kurz vor einer Bundestagswahl.
Andrea Nahles: Ja, aber Sie müssen ja sehen: Es wird hier so getan, als ob - das hat es noch nie gegeben - als ob jetzt auf einmal die Bundespräsidentenwahl wie eine Bundeskanzlerwahl daherkommt. Das ist aber nicht so, es wird keinen hochpolarisierten Wahlkampf geben.
Christoph Heinemann: Aber von der Wahl im Mai wird doch ein Signal für die Wahl im September ausgehen.
Andrea Nahles: Das bestreite ich, jedenfalls im Hinblick auf die Konstellationen, die dann im September möglich oder sinnvoll sind.
Christoph Heinemann: Und jede Stimme für die CSU in Bayern in diesem Jahr ist eine Stimme für Horst Köhler?
Andrea Nahles: Hat Erwin Huber gesagt. Finde ich schon armselig, dass er jetzt den armen Bundespräsidenten einspannen muss, um seine CSU doch noch über die 50 Prozent zu heben, oder was für Erwartungen hat er daran?
Christoph Heinemann: Ist doch ganz geschickt.
Andrea Nahles: Ich finde es eher peinlich, ehrlich gesagt.
Christoph Heinemann: Taktisch gesehen ist es doch von der SPD nicht besonders klug. Erst liefert sie sich der Linkspartei in gewisser Hinsicht doch aus, und dann liefert sie noch Wahlkampfmunition für die CSU.
Andrea Nahles: Nun, was soll denn das überhaupt? Beim letzten Mal hatte Gesine Schwan auch schon die Stimmen bekommen. Es ist nun mal in der Bundesversammlung eine andere Situation. Es geht auch nicht um Koalitionen. Wir liefern uns nicht aus, wir machen mit denen keine Geschäfte. Die NPD hat sich jetzt schon positiv über Horst Köhler geäußert. Soll ich jetzt Horst Köhler irgend etwas unterstellen dabei? Das tun wir doch auch nicht umgekehrt. Und insoweit bitte ich doch einfach mal zu beachten, dass es hier einen Unterschied gibt zwischen Bundestag und Bundesversammlung, und es ist aus meiner Sicht auch keine Präjedizierung für Koalitionen in der Bundesebene dann im Jahre 2009 im September. Und dazu haben wir uns auch klar öffentlich geäußert, und dazu stehen wir auch.
Christoph Heinemann: Sollte die SPD per Beschluss, wie Franz Müntefering das jetzt nochmal gefordert hat, eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausschließen?
Andrea Nahles: Das habe ich auch schon bereits öffentlich kommentiert, das können wir bei Gelegenheit, sprich wenn es einen Parteitag gibt, noch einmal bekräftigen.
Christoph Heinemann: Sie sprachen von den Koalitionsmöglichkeiten dann im Herbst des nächsten Jahres. Nehmen wir mal die Ampel: Was verbindet eigentlich FDP und SPD?
Andrea Nahles: Nun, ich denke, dass es schon im innenpolitischen Bereich, auch im bildungspolitischen Bereich doch sehr gute Verknüpfungslinien gibt. Es gibt große Unterschiede zum Beispiel bei der Frage Mindestlohn. Das wird nicht ganz einfach werden. Es ist allerdings auch in der großen Koalition nicht einfach. Koalitionen sind immer mit Kompromissen verbunden. Insoweit liegt da ein Stück Arbeit vor uns, aber es gibt tatsächlich Verknüpfungslinien auch zwischen allen demokratischen Parteien. Die kann man nun noch weiter vielleicht auch ein Stück weit suchen, man kann vielleicht auch gucken, dass man miteinander da auch in Gespräche eintritt, bevor jetzt die Wahlentscheidung gefallen ist. Einige meiner Kollegen tun das auch, gerade bei den jüngeren gibt es da einen regen Austausch. Also ich halte das auch aus rheinland-pfälzischer Perspektive - ich komme aus diesem Bundesland - wo wir viele, viele Jahre mit denen zusammen regiert haben, absolut für möglich.
Christoph Heinemann: Im Augenblick ist das aber unwahrscheinlich, vorsichtig ausgedrückt. Für Rot-Grün - nach Adam Riese - wird es nicht reichen. Wo sollen die fehlenden 30 oder 25 oder 20 Prozent herkommen?
Andrea Nahles: Na, das Niveau, über das wir jetzt reden und das, was wir dann im nächsten Jahr haben, das wird nochmal anders sein. Die kleinen gewinnen, die großen Parteien verlieren, das ist momentan der Trend. Man kann daran sehen, dass die große Koalition für beide großen Parteien Schwierigkeiten aufwirft. Die Union ist jetzt bei 34 Prozent. Sie liegt damit wieder auf dem Niveau, was sie auch erreicht hatte bei der letzten Bundestagswahl und was ja nun mehr als knapp gewesen ist. Also, die Frage stellt sich nicht nur an die SPD, sondern auch an die Union. Es wird für sie auch nicht reichen für Schwarz-Gelb. Wir müssen beide noch zulegen, wenn wir eine Regierungsoption haben wollen jenseits der großen Koalition.
Christoph Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Andrea Nahles, der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden. Arbeiten Sie daran, das Wort "stellvertretend" eines Tages loszuwerden?
Andrea Nahles: Nein, das ist erst mal für mich ein sehr neues Amt, ein sehr herausforderndes, auch ein sehr ehrenvolles. Und da habe ich noch einiges vor in diesem Amt und nicht in irgendwelchen anderen.
Christoph Heinemann: Wie erklären Sie sich die Häme gegen Kurt Beck - nicht nur, aber auch innerhalb der Partei?
Andrea Nahles: Also, innerhalb der Partei beobachte ich das eigentlich wenig. Ich sehe das also schon auch als eine Stimmung, die teilweise auch angeheizt wird, auch künstlich hochgeschrien wird. Er hat von Anfang an diesen Ton auch in Kommentaren über seine Person gehabt. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Ich kann nur sagen: Ich schätze ihn außerordentlich, ich schätze ihn als meinen Landesvorsitzenden und als Ministerpräsidenten. Er ist absolut einer der besten, die auch in bürgerliche Bereiche reingewirkt haben bei uns im Land. Also ich kann nur sagen, das Image, das hier erweckt wird, stimmt mit meinem ganz konkreten und ganz persönlichen, über Jahrzehnte gewachsenen Erfahrungen von Kurt Beck überhaupt nicht überein.
Christoph Heinemann: Das klingt nach einem tollen Kanzlerkandidaten.
Andrea Nahles: Ja, warum nicht? Das wird aber nicht entschieden dieser Tage, sondern es wird entschieden, genau wie wir es verabredet haben, im Herbst.
Christoph Heinemann: Haben sich Kurt Beck und seine Stellvertreter nicht längst festgelegt?
Andrea Nahles: Nein.
Christoph Heinemann: Wird Frank Walter Steinmeier Ihrer Meinung nach die SPD in den Bundestagswahlkampf führen?
Andrea Nahles: Sie können das jetzt auch noch in mehreren Varianten versuchen.
Christoph Heinemann: Die kommen noch.
Andrea Nahles: Na gut, aber dann - bedauerlich - wird es ein ganz langweiliges Interview, weil ich dann immer sagen werde: Das entscheiden wir im Herbst.
Christoph Heinemann: Und so lange Sie dies tun, öffnen Sie ja Spekulationen Tür und Tor. Daniel Cohn-Bendit von den Grünen hat jetzt vorgeschlagen, Franz Müntefering sollte Kanzlerkandidat der SPD werden.
Andrea Nahles: Na, der soll mal bei seinen Leisten bleiben.
Christoph Heinemann: Müntefering hat Stallgeruch und der ist beliebt, beides ist nicht unbedingt bei Steinmeier und Beck der Fall.
Andrea Nahles: Also ich kann nur sagen, Schlaumeiereien von außen werden unsere Entscheidungsfindung weder beschleunigen noch beeinflussen.
Christoph Heinemann: Geht es eigentlich bei der SPD nur noch darum, wer sich 2009 verbrennen lässt?
Andrea Nahles: Also ich weiß genau - da sollten Sie mal ins Archiv gehen - 2002. Da wurde die SPD runter geschrien, dass wir nicht mehr regieren können. Das war vollkommen klar. Dann 2005 genau dasselbe Spiel - übrigens desaströseste Umfragewerte um die 25 Prozent, also nicht viel anders als heut. Und was ist das Ergebnis gewesen? Also, wir haben eine Aufholjagd hingelegt, und wir haben auch jetzt wieder eine Schwäche, auch die Union. Nein, im Gegenteil: Wir haben allen Grund, unser Kämpferherz zu aktivieren und uns hier nicht in Grund und Boden rammen zu lassen von öffentlichen Kommentaren und Meinungen - und auch von eigenen. Ich kann nur sagen, ich hoffe einfach, dass wir zur Form finden. Wir sind nämlich im Moment nicht in der Form, in der wir sein könnten. Und man findet zur Form eben nur über Training und Anstrengung und Kampf.
Christoph Heinemann: Die Trainingsleistung oder der Erfolg der Trainingsleistung ist nicht recht in Sicht. Je linker die Partei rückt, desto schlechter die Umfrageergebnisse.
Andrea Nahles: Wo wäre die SPD jetzt nach links gerückt?
Christoph Heinemann: ALG I und so weiter.
Andrea Nahles: Ja, daran machen es immer alle fest, das halte ich wirklich für Unsinn.
Christoph Heinemann: Aber die Partei hat doch bis heute ihren Frieden mit Hartz nicht gemacht, mit den Hartz-Reformen, mit den Arbeitsmarktreformen.
Andrea Nahles: Also nochmal: Die SPD ist nicht, wie das behauptet wird, nach links gerückt. Sie hat stattdessen auch ein Stück weit diese Phase Agenda 2010 vorläufig auch abgeschlossen, weil die Zeit weitergegangen ist. Wir haben 2003 die Agenda gehabt. Mindestlöhne waren zum Beispiel damals weder bei Gewerkschaften noch bei der SPD oder den Grünen ein Thema. Mittlerweile hat sich die Lage verändert, es haben sich auch die Themen verändert. Die SPD hat sich neu aufgestellt und hat, wie ich finde, in Hamburg eine gute Plattform geschaffen. Und es ist insoweit aus meiner Sicht wichtig, dass wir nicht nur eine Debatte nach hinten führen über die letzten zehn Jahre, sondern wir wollen die nächsten zehn Jahre, die vor uns liegen, gestalten. Und das ist oft noch ein Stück weit in der SPD, dass man zu viel in den letzten Monaten noch nach hinten geguckt hat und nicht nach vorne.
Christoph Heinemann: Nach hinten gucken insofern, als Sie irgendwie auch bewerkstelligen müssen, dass Hartz IV-Empfänger SPD wählen, und das ist nun nicht mehr sicher.
Andrea Nahles: Das ist richtig. Ich denke, dass wir Arbeitslosengeld-II-Empfänger in den letzten Jahren nicht gewinnen konnten. Das lässt sich bei den Wahlen zeigen.
Christoph Heinemann: So, und was macht man jetzt? An ALG II herumschrauben oder die Leute überzeugen?
Andrea Nahles: Nein, also man kann meiner Meinung nach an einem Gesetz, was im Kern aus meiner Sicht richtig war, nicht rumschrauben. Wir sind allerdings jetzt dabei, unsere Förderung für Langzeitarbeitslose, und das ist ja auch ein wichtiger Teil dieser Arbeitslosengeld-II-Empfänger, dafür auch deutlich zu verbessern. Wir haben ein Programm "Job-Perspektive" auf den Weg gebracht oder "Kommunalkombi". Das sind alles Projekte, die ganz gezielt bei den Langzeitarbeitslosen ansetzen, und auch jetzt in der letzten Sitzungswoche den Ausbildungsbonus, der sich mit sogenannten 20-jährigen Altbewerbern befasst und hunderttausend dieser jungen Leute eine Chance gibt. Also, wir müssen, glaube ich, Chancen geben und auch denen, die in den letzten Jahren, weil die Arbeitslosenzahlen so hoch waren, nicht zum Zuge gekommen sind. Das sind für mich die Altbewerber und die jungen, und das sind für mich die Langzeitarbeitslosen, insbesondere die älteren Arbeitslosen. Und das sind Frauen, die immer noch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und wenn man Positives für die tut, kann man die Leute gewinnen - nicht indem man Schlachten schlägt über Hartz IV von gestern. Da wird die SPD das Image, das dort teilweise auch künstlich herbeigeführt wurde, und auch den Wettlauf um den Satz "Hartz IV muss weg", den ich für völlig falsch halte, den werden wir nicht gewinnen können. Wir können nur überzeugen, wenn wir gute Angebote für die Arbeitslosen selber machen.
Christoph Heinemann: Wir müssen dieses und jenes noch tun, sagen Sie. Was wird die große Koalition bis zum Wahltag im September 2009 noch auf den Weg bringen können?
Andrea Nahles: Mindestlöhne für 1,6 Millionen Menschen, branchenbezogen, also zum Beispiel in der Zeitarbeit, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, bei den Entsorgern. Ich hoffe, auch bei der Pflege. Da hängt es noch so ein bisschen an den kirchlichen Trägern, dass die auch mitmachen. Ich bin da aber auch zuversichtlich, dass das gelingen kann. Also - 1,6 Millionen Menschen. Ich glaube, wir müssen auch noch weiter unsere Anstrengungen in Richtung Unabhängigkeit von Öl und Gas verstärken, also in der Energiepolitik. Die Leute leiden unter diesen hohen Energie- und Heizkosten. Und wir müssen natürlich auch flexiblen Ausstieg aus der Rente beziehungsweise in die Rente organisieren - ab dem 60. Lebensjahr bis zum 67. Lebensjahr. Da stelle ich mir auch einen Korridor vor, wo die Leute eben in eine Teilrente gehen können, wo auch Leute, die körperlich kaputt sind, über leichtere Zugänge zur Erwerbsminderungsrente auch eine Chance bekommen, dass sie nicht wirklich ihre Gesundheit auf's Spiel setzen.
Christoph Heinemann: Soll die Rente mit 67 in Frage gestellt oder ausgehöhlt werden?
Andrea Nahles: Nein, in keiner Weise. Dazu stehen wir, auch wenn es unpopulär ist. In vielen Bereichen, gerade in meiner Region, wo wir vier, fünf, sechs Prozent Arbeitslosigkeit haben, merken wir es jetzt schon, dass wir Leute länger auch im Erwerbsleben brauchen. Aber sie müssen gesund sein, das heißt, sie müssen bei der Prävention, also dass die Leute in der Arbeit auch gesund bleiben können, viel mehr tun als bisher. Wir müssen für Weiterbildung mehr tun, aber wir müssen auch sagen: Sie können auch den Leistungsdruck ab 60 nicht mehr durchstehen wie ein 35-jähriger. Also sagen wir: Geht in Teilrente, aber arbeitet teilweise auch noch weiter. Diese Modelle sind möglich, sie werden auch von den Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen noch weiter ausgestaltet werden können. Momentan ist die Union doch noch sehr zögerlich, aber die SPD wird das sich auf's Schild heben für die kommenden Monate. Ich hoffe, wir schaffen sogar noch was in dieser Legislaturperiode.
Christoph Heinemann: Sozialtarife für Gas und Strom für Einkommensschwache?
Andrea Nahles: Darüber wird bei uns sehr intensiv geredet. Das ist nicht ganz unkompliziert in der Ausgestaltung, aber dass Energie auch zu der Grundversorgung der Menschen gehört und dass wir da wenigstens, wo wir über die Leitung auch bestimmen können, auch sagen können: Jeder muss ein Grundquantum an Energie zu vernünftigen Preisen haben können - ich glaube, das ist eine richtige Idee. Und die werden wir weiter verfolgen.
Christoph Heinemann: Und die Erbschaftssteuer?
Andrea Nahles: Darüber wird jetzt sehr trefflich gestritten. Die muss kommen. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, dass wir die Erbschaftssteuer gänzlich auslaufen lassen. Wir haben gerade bei der Erbschaftssteuer - das ist eine Ländersteuer, die kommt mir auf der Bundesebene jetzt als Bundestagsabgeordnete auch gar nicht in den Haushalt, sondern sie geht in direkter Form in die Länder. Und die Länder sind für Bildung und Schulen verantwortlich. Das ist so eine zentrale Zukunftsinvestition, dass ich es richtig finde, dass wir bei hohen Erbschaften - ich möchte betonen bei "hohen Erbschaften" - einen Teil nehmen, um es in die Zukunft zu investieren.
Christoph Heinemann: Andrea Nahles - Ihre Vision: Wo sehen Sie die SPD im Winter 2009?
Andrea Nahles: In der Regierungsverantwortung.
Christoph Heinemann: Unter welchem Kanzler?
Andrea Nahles: Am liebsten wäre mir Kurt Beck.
Christoph Heinemann: Das heißt, dafür müsste er dann Kanzlerkandidat auch werden.
Andrea Nahles: Jetzt versuchen Sie es wieder.
Christoph Heinemann: Ja.
Andrea Nahles: Und dann muss ich leider sagen: Das entscheiden wir im Herbst 2008.
Christoph Heinemann: Dankeschön für das Gespräch.
Andrea Nahles: Danke.
Andrea Nahles: Ja, das wäre sie schon. Ich glaube, man müsste jetzt ein paar Lehrer-Schüler-Gespräche führen und die Eltern wären auch nicht schlecht. Das müsste schon sein, weil wir keine allzu positive Entwicklung in den letzten Wochen hatten, und ich denke deswegen, dass wir in der Sommerpause das nutzen sollten, um ein bisschen nachzusitzen.
Christoph Heinemann: Gespräch - mit wem, worüber?
Andrea Nahles: Neulich hat mir mein Vater gesagt: "Also, weißt Du, bei uns im Kirchenchor" - der leitet den in meinem Dorf - "da proben wir immer nicht öffentlich, da kann man auch mal einen Misston haben, da kann man auch mal zweimal oder dreimal anfangen, aber wenn wir die Konzerte machen öffentlich, dann singen wir durch und dann ist das harmonisch". Und den Eindruck eines öffentlichen Konzerts macht die SPD im Moment nicht ausreichend, und da drüber sollten wir zum Beispiel reden in diesen Gesprächen in den Sommerferien.
Christoph Heinemann: Wird da auch zu viel "Moll" gesungen?
Andrea Nahles: Ja, ich finde schon, dass wir es an Selbstbewusstsein mangeln lassen. Also ich denke, es besteht Anlass zu reden auch darüber, dass man ein Stück weit eine schwierige Entscheidung getroffen hat im Zusammenhang mit der Hessenwahl, was die Linkspartei angeht. Aber ich denke, die SPD hätte allen Grund, selbstbewusster zu sein, auch was ihre Regierungsbilanz angeht. Und das kann wirklich nur besser werden.
Christoph Heinemann: Konkret mal gefragt: Die CDU ist kurz davor, die SPD als mitgliederstärkste Partei zu überholen. Es gibt jetzt eine Umfrage in dieser Woche, dass fast jedes dritte Parteimitglied überlegt, auszutreten, das Parteibuch zurückzugeben. Und dann sind da noch die Umfragen - 20 Prozent.
Andrea Nahles: Aber in diesem konkreten Falle muss ich dann schon nochmal sagen: Herr Güllner, der macht gerade eine Kampagne gegen die SPD ...
Christoph Heinemann: Das ist der Chef von forsa.
Andrea Nahles: ... von forsa - der die Zahlen rausgebracht hat. Es ist einfach so, dass er schlicht und ergreifend offensichtlich in die SPD- Interna hinein regieren will. Und ich kommentiere diese Zahlen einfach nicht mehr. Gleichwohl - das will ich nicht ableugnen - ist die SPD auch Umfragen auch bei anderen Instituten auf einem Niveau, das uns absolut nicht zufriedenstellen kann.
Christoph Heinemann: Trotzdem - ein bisschen den Überbringer der schlechten Nachricht zu prügeln, das ist der Klassiker.
Andrea Nahles: Na, das ist ein bisschen mehr. Es ist wirklich unseriös, was da passiert.
Christoph Heinemann: Von der SPD gehen seit Monaten ziemlich unklare Signale aus - "ja" und "nein" zu einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei vor der Hamburgwahl, das haben Sie selbst genannt, unklare Ansagen zum Steuer- und Abgabenkonzept, erst Zustimmung, dann Ablehnung einer Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten, deutliche Signale aus der SPD für eine Unterstützung Horst Köhlers, dann eine Gegenkandidatin. Wer trägt denn für dieses Hin und Her die Verantwortung?
Andrea Nahles: Also, diese Entscheidungen nun alle im einzelnen auseinanderzunehmen, dafür fehlt uns heute die Zeit. Ich glaube, dass man insgesamt die Teamleistungen der SPD-Spitze noch verbessern muss. Ich habe den Eindruck, dass zu viel auf Kurt Beck abgewälzt wird, auch an Verantwortung, und dass es eine Beruhigung braucht und auch ein stärkeres Zusammenarbeiten. Das Zentrum der SPD ist auch immer wieder nicht nur von einer Person zusammenzuhalten, sondern das muss eben auch von anderen kommen. Dazu zählt die Fraktion, und dazu zählen aber auch die Stellvertreter, also auch ich. Insoweit hatten wir uns auch zusammengerauft, und ich habe den Eindruck, auch wenn es vielleicht jetzt nicht so sichtbar gewesen ist, dass sich das in der Innensicht auf dem richtigen Weg befindet.
Christoph Heinemann: In der Spitze müsse es besser werden, sagen Sie. Wer tanzt denn da aus der Reihe?
Andrea Nahles: Ich glaube, wir sind da oft so, dass wir - nehmen wir mal politische Themen - dann sagen: Also Moment mal, wir haben doch eine andere Vereinbarung mit der Union. Und dann halten wir da die Linie. Es ist also zum Beispiel beim Kindergeld so, dann wird darüber bei uns diskutiert, und es gibt Abwägungen, die dann über Monate nicht zum richtigen Ende geführt worden sind. Das haben wir jetzt gemacht am Montag, aber ich finde, manchmal könnten wir da ein bisschen zügiger uns verständigen, um auch in der Kommunikation dann nach außen besser zu werden, weil: Oft ist es so, dass Frau von der Leyen einfach ein bisschen Kommunikation macht und dann eine Punktlandung in der Öffentlichkeit signalisiert, die in Wahrheit eigentlich sowohl finanziell als auch politisch von der SPD vorbereitet worden ist. Also ich finde, wir sind da manchmal nicht punktgenau, wir verschenken auch Sachen. Und das muss besser werden, und das geht eben nur im Team, das ist eine Koordinationssache.
Christoph Heinemann: Nochmal die Frage: Ross und Reiter, wer verschenkt?
Andrea Nahles: Viele, nicht nur einer. Und in der Öffentlichkeit wird momentan der Eindruck erweckt: Das ist alles Kurt Beck. Und das ist falsch.
Christoph Heinemann: Sind Sie denn auch dafür verantwortlich?
Andrea Nahles: Ja, mitverantwortlich auf jeden Fall.
Christoph Heinemann: Reden wir über den Bundespräsidenten. Wie bewerten Sie die Arbeit des amtierenden Bundespräsidenten Horst Köhler?
Andrea Nahles: Also, der hat seinen Job gut gemacht.
Christoph Heinemann: Was folgt daraus?
Andrea Nahles: Es gibt jemanden, der aus meiner Sicht noch besser ist und der auch noch Akzente setzen kann, die ich mir wünschen würde. Diese Frau - in dem Falle - heißt Gesine Schwan.
Christoph Heinemann: Aber eine Gegenkandidatur, das entspricht nicht der Tradition - einer Kampfkandidatur.
Andrea Nahles: Hat's auch schon gegeben, ist allerdings ein paar Jahrzehnte her. Und es ist richtig, es ist ungewöhnlich. Ich glaube, dass die SPD mit dieser Kandidatur auch ein bisschen was transportieren will. Zum einen halten wir es auch für geboten, dass eine Frau dieses höchste repräsentative Amt - in Wahrheit ist es ein repräsentative Amt - wahrnimmt. Und zum Zweiten ist gerade durch den europäischen Erweiterungsprozess meiner Meinung nach auch eine ganz aktive Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern erforderlich, und hier muss man wirklich sagen, hat Gesine Schwan auch als Vorsitzende und Leiterin der Viadrina-Universität an der deutsch-polnischen Grenze Hervorragendes anzubieten, auch an Erfahrungen. Ich denke, sie ist insoweit auch ein gutes Signal, auch für dieses zusammenwachsende Europa, und sie hat vor allem etwas, was ich toll finde: Sie schafft Begeisterungsfähigkeit für unsere Demokratie, für ihre Institution, die auch Fehler macht, aber die trotzdem ein demokratisches Miteinander überhaupt erst ermöglichen. Und diesen Akzent, den der jetzige Bundespräsident Horst Köhler nicht so gesetzt hat - er hat andere Akzente gesetzt, zum Beispiel hat er tolle Arbeit in Afrika gemacht -, aber diesen Akzent würde ich mir angesichts auch von einer NPD, die in jedem Kreistag von Sachsen mittlerweile sitzt, wünschen. Und deswegen glaube ich, dass sie die bessere Kandidatin wäre.
Christoph Heinemann: Frau Nahles, am 1. Juni hat mein Kollege Frank Capellan an dieser Stelle Ihren Parteifreund Peter Struck gefragt, warum Sie - Andrea Nahles - mit Gesine Schwans Kandidatur nicht abwarten konnten, bis sich der Bundespräsident entschieden hat. Peter Strucks Antwort: "Das müssen Sie Frau Nahles fragen." Bitteschön.
Andrea Nahles: Das habe ich Ihnen gerade begründet. Also, ich glaube einfach, dass sie die richtige ...
Christoph Heinemann: Den Zeitpunkt haben Sie nicht begründet.
Andrea Nahles: Nun, Peter Struck war noch eifriger als ich, denn er hatte sich ja vorher festgelegt öffentlich. Und er war übrigens auch der einzige, der das getan hat aus der SPD-Führungsriege. Und ich wollte eigentlich eine offene Debatte haben, ich wollte nicht, dass das, bevor wir uns überhaupt mit Gesine Schwan getroffen haben, entschieden wird, sondern ich wollte eine Offenheit, und das ist auch gelungen. Wir haben - man mag es altmodisch finden - aber wir haben zusammengehockt in Potsdam und haben uns beratschlagt, richtig das Für und Wider abgewogen, stundenlang. Und ich fand das richtig gut, das war überhaupt keine schlechte Sache, sondern man hat das abgewogen. Und dann hat es ein Ergebnis gegeben. Und diese Abwägung - da gibt es immer Pro und Kontra. Und deswegen fand ich es einfach notwendig, diese Möglichkeit zu eröffnen, dass es auch tatsächlich eine echte Abwägung wird.
Christoph Heinemann: Ist diese Nominierung auch eine Reaktion darauf, dass Angela Merkel Kurt Beck nicht gefragt hat, ob die SPD Horst Köhler unterstützen würde?
Andrea Nahles: Also, sie sind vorgeprescht. Horst Köhler wurde ja vorgeschlagen - übrigens in einer Kungelrunde in der Küche eines Vorsitzenden einer Partei, soweit ich mich recht entsinne, damals Westerwelle - Merkel, und er war ganz klar der schwarz-gelbe Kandidat. Dann kam es aber zu einer großen Koalition, aber Horst Köhler hat, so glaube ich, in der Zwischenzeit auch bei anderen Wählern punkten können. Was macht nun die Frau Merkel mit dem Herrn Westerwelle? Sie machen wieder die Nummer, dass sie sich, also ohne das vorher mit uns zu besprechen, sehr frühzeitig in diesem Jahr für Horst Köhler aussprechen und norden ihn sozusagen wieder für Schwarz-Gelb ein.
Christoph Heinemann: Also schon eine gewisse Trotzreaktion doch.
Andrea Nahles: Ich weiß nicht, was die Motive waren, aber ich habe mich, ehrlich gesagt, gewundert.
Christoph Heinemann: Sie saßen doch zusammen, sagten Sie, in Potsdam.
Andrea Nahles: Nein, also das war keine Trotzreaktion von uns, sondern wir haben das erst mal zur Kenntnis genommen, wie das wieder eingefädelt worden ist. Aber eine Trotzreaktion - nein. Dafür ist das Amt ein bisschen zu wichtig, als dass man jetzt Kleinkindertrotz daraus macht, sondern es wurde abgewogen: Was für Chancen und was für Risiken verbergen sich einmal für die Bundesrepublik - Sie haben ja schon gesagt, es ist kein übliches Verfahren zunächst mal gewesen - und aber auch für die SPD als Partei. Das haben wir miteinander abgewogen und das hat am Ende den Ausschlag gegeben.
Christoph Heinemann: Mit welchen Stimmen sollte denn Gesine Schwan gewählt werden?
Andrea Nahles: Nun, mit denen, die sie beim letzten Mal auch bekommen hat, und das bedeutet, dass sie sowohl von den Grünen als auch von der Linkspartei, damals PDS, aber auch aus dem Lager der FDP und der CDU Stimmen bekommen hat.
Christoph Heinemann: Nur werden die den Teufel tun so kurz vor der Bundestagswahl. Das war vor fünf Jahren anders.
Andrea Nahles: Das werden wir alles mal abwarten.
Christoph Heinemann: Sie rechnen mit Stimmen der CDU und der FDP?
Andrea Nahles: Ja, auf jeden Fall.
Christoph Heinemann: Und mit denen der Linkspartei auch?
Andrea Nahles: Ja, das hat auch Frau Gesine Schwan von Anfang an klar gemacht, anders geht es nicht. Es ist ja auch keine Koalitionsverhandlung, es wird keine Regierung gebildet, die Gesetze macht, sondern es ist eine Personenwahl. Und entscheiden tun die Wahlfrauen und Wahlmänner nur darüber, wen sie für den geeignetsten Kandidaten für dieses hohe repräsentative Amt halten, und nicht über Koalitionen für die Bundestagswahl wird entschieden. Und das halte ich auch für wichtig, das zu unterscheiden und trennen.
Christoph Heinemann: Wird die SPD darüber mit Oskar Lafontaine oder Gregor Gysi sprechen - über diese Wahl?
Andrea Nahles: Es wird überhaupt keine Vereinbarungen oder Deals geben.
Christoph Heinemann: Gespräche?
Andrea Nahles: Ich schließe das für mich aus.
Christoph Heinemann: Für alle anderen im Vorstand auch?
Andrea Nahles: Wenn Sie mich jetzt ganz ehrlich fragen - ich denke, es wird vielleicht mal Gespräche geben, ich weiß aber nicht, von wem und wie und wann. Ich weiß es nicht.
Christoph Heinemann: Sie schließen es nicht aus?
Andrea Nahles: Also, ich schließe aus, um das nochmal deutlich zu sagen, dass es da irgendwelche Geschäfte geben wird, ja.
Christoph Heinemann: Für Oskar Lafontaine wäre es ja keine Niederlage, wenn Gesine Schwan nicht gewählt würde. Er hat sich hier übrigens im Deutschlandfunk ganz positiv, so wie Sie eben auch, über Horst Köhler geäußert. Also im Prinzip ist doch die SPD jetzt in Zugzwang, sie muss durchkommen?
Andrea Nahles: Es ist kein Wahlkampf, wie man das normalerweise bei Bundestagswahlen hat.
Christoph Heinemann: Aber so kurz vor einer Bundestagswahl.
Andrea Nahles: Ja, aber Sie müssen ja sehen: Es wird hier so getan, als ob - das hat es noch nie gegeben - als ob jetzt auf einmal die Bundespräsidentenwahl wie eine Bundeskanzlerwahl daherkommt. Das ist aber nicht so, es wird keinen hochpolarisierten Wahlkampf geben.
Christoph Heinemann: Aber von der Wahl im Mai wird doch ein Signal für die Wahl im September ausgehen.
Andrea Nahles: Das bestreite ich, jedenfalls im Hinblick auf die Konstellationen, die dann im September möglich oder sinnvoll sind.
Christoph Heinemann: Und jede Stimme für die CSU in Bayern in diesem Jahr ist eine Stimme für Horst Köhler?
Andrea Nahles: Hat Erwin Huber gesagt. Finde ich schon armselig, dass er jetzt den armen Bundespräsidenten einspannen muss, um seine CSU doch noch über die 50 Prozent zu heben, oder was für Erwartungen hat er daran?
Christoph Heinemann: Ist doch ganz geschickt.
Andrea Nahles: Ich finde es eher peinlich, ehrlich gesagt.
Christoph Heinemann: Taktisch gesehen ist es doch von der SPD nicht besonders klug. Erst liefert sie sich der Linkspartei in gewisser Hinsicht doch aus, und dann liefert sie noch Wahlkampfmunition für die CSU.
Andrea Nahles: Nun, was soll denn das überhaupt? Beim letzten Mal hatte Gesine Schwan auch schon die Stimmen bekommen. Es ist nun mal in der Bundesversammlung eine andere Situation. Es geht auch nicht um Koalitionen. Wir liefern uns nicht aus, wir machen mit denen keine Geschäfte. Die NPD hat sich jetzt schon positiv über Horst Köhler geäußert. Soll ich jetzt Horst Köhler irgend etwas unterstellen dabei? Das tun wir doch auch nicht umgekehrt. Und insoweit bitte ich doch einfach mal zu beachten, dass es hier einen Unterschied gibt zwischen Bundestag und Bundesversammlung, und es ist aus meiner Sicht auch keine Präjedizierung für Koalitionen in der Bundesebene dann im Jahre 2009 im September. Und dazu haben wir uns auch klar öffentlich geäußert, und dazu stehen wir auch.
Christoph Heinemann: Sollte die SPD per Beschluss, wie Franz Müntefering das jetzt nochmal gefordert hat, eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausschließen?
Andrea Nahles: Das habe ich auch schon bereits öffentlich kommentiert, das können wir bei Gelegenheit, sprich wenn es einen Parteitag gibt, noch einmal bekräftigen.
Christoph Heinemann: Sie sprachen von den Koalitionsmöglichkeiten dann im Herbst des nächsten Jahres. Nehmen wir mal die Ampel: Was verbindet eigentlich FDP und SPD?
Andrea Nahles: Nun, ich denke, dass es schon im innenpolitischen Bereich, auch im bildungspolitischen Bereich doch sehr gute Verknüpfungslinien gibt. Es gibt große Unterschiede zum Beispiel bei der Frage Mindestlohn. Das wird nicht ganz einfach werden. Es ist allerdings auch in der großen Koalition nicht einfach. Koalitionen sind immer mit Kompromissen verbunden. Insoweit liegt da ein Stück Arbeit vor uns, aber es gibt tatsächlich Verknüpfungslinien auch zwischen allen demokratischen Parteien. Die kann man nun noch weiter vielleicht auch ein Stück weit suchen, man kann vielleicht auch gucken, dass man miteinander da auch in Gespräche eintritt, bevor jetzt die Wahlentscheidung gefallen ist. Einige meiner Kollegen tun das auch, gerade bei den jüngeren gibt es da einen regen Austausch. Also ich halte das auch aus rheinland-pfälzischer Perspektive - ich komme aus diesem Bundesland - wo wir viele, viele Jahre mit denen zusammen regiert haben, absolut für möglich.
Christoph Heinemann: Im Augenblick ist das aber unwahrscheinlich, vorsichtig ausgedrückt. Für Rot-Grün - nach Adam Riese - wird es nicht reichen. Wo sollen die fehlenden 30 oder 25 oder 20 Prozent herkommen?
Andrea Nahles: Na, das Niveau, über das wir jetzt reden und das, was wir dann im nächsten Jahr haben, das wird nochmal anders sein. Die kleinen gewinnen, die großen Parteien verlieren, das ist momentan der Trend. Man kann daran sehen, dass die große Koalition für beide großen Parteien Schwierigkeiten aufwirft. Die Union ist jetzt bei 34 Prozent. Sie liegt damit wieder auf dem Niveau, was sie auch erreicht hatte bei der letzten Bundestagswahl und was ja nun mehr als knapp gewesen ist. Also, die Frage stellt sich nicht nur an die SPD, sondern auch an die Union. Es wird für sie auch nicht reichen für Schwarz-Gelb. Wir müssen beide noch zulegen, wenn wir eine Regierungsoption haben wollen jenseits der großen Koalition.
Christoph Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Andrea Nahles, der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden. Arbeiten Sie daran, das Wort "stellvertretend" eines Tages loszuwerden?
Andrea Nahles: Nein, das ist erst mal für mich ein sehr neues Amt, ein sehr herausforderndes, auch ein sehr ehrenvolles. Und da habe ich noch einiges vor in diesem Amt und nicht in irgendwelchen anderen.
Christoph Heinemann: Wie erklären Sie sich die Häme gegen Kurt Beck - nicht nur, aber auch innerhalb der Partei?
Andrea Nahles: Also, innerhalb der Partei beobachte ich das eigentlich wenig. Ich sehe das also schon auch als eine Stimmung, die teilweise auch angeheizt wird, auch künstlich hochgeschrien wird. Er hat von Anfang an diesen Ton auch in Kommentaren über seine Person gehabt. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Ich kann nur sagen: Ich schätze ihn außerordentlich, ich schätze ihn als meinen Landesvorsitzenden und als Ministerpräsidenten. Er ist absolut einer der besten, die auch in bürgerliche Bereiche reingewirkt haben bei uns im Land. Also ich kann nur sagen, das Image, das hier erweckt wird, stimmt mit meinem ganz konkreten und ganz persönlichen, über Jahrzehnte gewachsenen Erfahrungen von Kurt Beck überhaupt nicht überein.
Christoph Heinemann: Das klingt nach einem tollen Kanzlerkandidaten.
Andrea Nahles: Ja, warum nicht? Das wird aber nicht entschieden dieser Tage, sondern es wird entschieden, genau wie wir es verabredet haben, im Herbst.
Christoph Heinemann: Haben sich Kurt Beck und seine Stellvertreter nicht längst festgelegt?
Andrea Nahles: Nein.
Christoph Heinemann: Wird Frank Walter Steinmeier Ihrer Meinung nach die SPD in den Bundestagswahlkampf führen?
Andrea Nahles: Sie können das jetzt auch noch in mehreren Varianten versuchen.
Christoph Heinemann: Die kommen noch.
Andrea Nahles: Na gut, aber dann - bedauerlich - wird es ein ganz langweiliges Interview, weil ich dann immer sagen werde: Das entscheiden wir im Herbst.
Christoph Heinemann: Und so lange Sie dies tun, öffnen Sie ja Spekulationen Tür und Tor. Daniel Cohn-Bendit von den Grünen hat jetzt vorgeschlagen, Franz Müntefering sollte Kanzlerkandidat der SPD werden.
Andrea Nahles: Na, der soll mal bei seinen Leisten bleiben.
Christoph Heinemann: Müntefering hat Stallgeruch und der ist beliebt, beides ist nicht unbedingt bei Steinmeier und Beck der Fall.
Andrea Nahles: Also ich kann nur sagen, Schlaumeiereien von außen werden unsere Entscheidungsfindung weder beschleunigen noch beeinflussen.
Christoph Heinemann: Geht es eigentlich bei der SPD nur noch darum, wer sich 2009 verbrennen lässt?
Andrea Nahles: Also ich weiß genau - da sollten Sie mal ins Archiv gehen - 2002. Da wurde die SPD runter geschrien, dass wir nicht mehr regieren können. Das war vollkommen klar. Dann 2005 genau dasselbe Spiel - übrigens desaströseste Umfragewerte um die 25 Prozent, also nicht viel anders als heut. Und was ist das Ergebnis gewesen? Also, wir haben eine Aufholjagd hingelegt, und wir haben auch jetzt wieder eine Schwäche, auch die Union. Nein, im Gegenteil: Wir haben allen Grund, unser Kämpferherz zu aktivieren und uns hier nicht in Grund und Boden rammen zu lassen von öffentlichen Kommentaren und Meinungen - und auch von eigenen. Ich kann nur sagen, ich hoffe einfach, dass wir zur Form finden. Wir sind nämlich im Moment nicht in der Form, in der wir sein könnten. Und man findet zur Form eben nur über Training und Anstrengung und Kampf.
Christoph Heinemann: Die Trainingsleistung oder der Erfolg der Trainingsleistung ist nicht recht in Sicht. Je linker die Partei rückt, desto schlechter die Umfrageergebnisse.
Andrea Nahles: Wo wäre die SPD jetzt nach links gerückt?
Christoph Heinemann: ALG I und so weiter.
Andrea Nahles: Ja, daran machen es immer alle fest, das halte ich wirklich für Unsinn.
Christoph Heinemann: Aber die Partei hat doch bis heute ihren Frieden mit Hartz nicht gemacht, mit den Hartz-Reformen, mit den Arbeitsmarktreformen.
Andrea Nahles: Also nochmal: Die SPD ist nicht, wie das behauptet wird, nach links gerückt. Sie hat stattdessen auch ein Stück weit diese Phase Agenda 2010 vorläufig auch abgeschlossen, weil die Zeit weitergegangen ist. Wir haben 2003 die Agenda gehabt. Mindestlöhne waren zum Beispiel damals weder bei Gewerkschaften noch bei der SPD oder den Grünen ein Thema. Mittlerweile hat sich die Lage verändert, es haben sich auch die Themen verändert. Die SPD hat sich neu aufgestellt und hat, wie ich finde, in Hamburg eine gute Plattform geschaffen. Und es ist insoweit aus meiner Sicht wichtig, dass wir nicht nur eine Debatte nach hinten führen über die letzten zehn Jahre, sondern wir wollen die nächsten zehn Jahre, die vor uns liegen, gestalten. Und das ist oft noch ein Stück weit in der SPD, dass man zu viel in den letzten Monaten noch nach hinten geguckt hat und nicht nach vorne.
Christoph Heinemann: Nach hinten gucken insofern, als Sie irgendwie auch bewerkstelligen müssen, dass Hartz IV-Empfänger SPD wählen, und das ist nun nicht mehr sicher.
Andrea Nahles: Das ist richtig. Ich denke, dass wir Arbeitslosengeld-II-Empfänger in den letzten Jahren nicht gewinnen konnten. Das lässt sich bei den Wahlen zeigen.
Christoph Heinemann: So, und was macht man jetzt? An ALG II herumschrauben oder die Leute überzeugen?
Andrea Nahles: Nein, also man kann meiner Meinung nach an einem Gesetz, was im Kern aus meiner Sicht richtig war, nicht rumschrauben. Wir sind allerdings jetzt dabei, unsere Förderung für Langzeitarbeitslose, und das ist ja auch ein wichtiger Teil dieser Arbeitslosengeld-II-Empfänger, dafür auch deutlich zu verbessern. Wir haben ein Programm "Job-Perspektive" auf den Weg gebracht oder "Kommunalkombi". Das sind alles Projekte, die ganz gezielt bei den Langzeitarbeitslosen ansetzen, und auch jetzt in der letzten Sitzungswoche den Ausbildungsbonus, der sich mit sogenannten 20-jährigen Altbewerbern befasst und hunderttausend dieser jungen Leute eine Chance gibt. Also, wir müssen, glaube ich, Chancen geben und auch denen, die in den letzten Jahren, weil die Arbeitslosenzahlen so hoch waren, nicht zum Zuge gekommen sind. Das sind für mich die Altbewerber und die jungen, und das sind für mich die Langzeitarbeitslosen, insbesondere die älteren Arbeitslosen. Und das sind Frauen, die immer noch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und wenn man Positives für die tut, kann man die Leute gewinnen - nicht indem man Schlachten schlägt über Hartz IV von gestern. Da wird die SPD das Image, das dort teilweise auch künstlich herbeigeführt wurde, und auch den Wettlauf um den Satz "Hartz IV muss weg", den ich für völlig falsch halte, den werden wir nicht gewinnen können. Wir können nur überzeugen, wenn wir gute Angebote für die Arbeitslosen selber machen.
Christoph Heinemann: Wir müssen dieses und jenes noch tun, sagen Sie. Was wird die große Koalition bis zum Wahltag im September 2009 noch auf den Weg bringen können?
Andrea Nahles: Mindestlöhne für 1,6 Millionen Menschen, branchenbezogen, also zum Beispiel in der Zeitarbeit, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, bei den Entsorgern. Ich hoffe, auch bei der Pflege. Da hängt es noch so ein bisschen an den kirchlichen Trägern, dass die auch mitmachen. Ich bin da aber auch zuversichtlich, dass das gelingen kann. Also - 1,6 Millionen Menschen. Ich glaube, wir müssen auch noch weiter unsere Anstrengungen in Richtung Unabhängigkeit von Öl und Gas verstärken, also in der Energiepolitik. Die Leute leiden unter diesen hohen Energie- und Heizkosten. Und wir müssen natürlich auch flexiblen Ausstieg aus der Rente beziehungsweise in die Rente organisieren - ab dem 60. Lebensjahr bis zum 67. Lebensjahr. Da stelle ich mir auch einen Korridor vor, wo die Leute eben in eine Teilrente gehen können, wo auch Leute, die körperlich kaputt sind, über leichtere Zugänge zur Erwerbsminderungsrente auch eine Chance bekommen, dass sie nicht wirklich ihre Gesundheit auf's Spiel setzen.
Christoph Heinemann: Soll die Rente mit 67 in Frage gestellt oder ausgehöhlt werden?
Andrea Nahles: Nein, in keiner Weise. Dazu stehen wir, auch wenn es unpopulär ist. In vielen Bereichen, gerade in meiner Region, wo wir vier, fünf, sechs Prozent Arbeitslosigkeit haben, merken wir es jetzt schon, dass wir Leute länger auch im Erwerbsleben brauchen. Aber sie müssen gesund sein, das heißt, sie müssen bei der Prävention, also dass die Leute in der Arbeit auch gesund bleiben können, viel mehr tun als bisher. Wir müssen für Weiterbildung mehr tun, aber wir müssen auch sagen: Sie können auch den Leistungsdruck ab 60 nicht mehr durchstehen wie ein 35-jähriger. Also sagen wir: Geht in Teilrente, aber arbeitet teilweise auch noch weiter. Diese Modelle sind möglich, sie werden auch von den Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen noch weiter ausgestaltet werden können. Momentan ist die Union doch noch sehr zögerlich, aber die SPD wird das sich auf's Schild heben für die kommenden Monate. Ich hoffe, wir schaffen sogar noch was in dieser Legislaturperiode.
Christoph Heinemann: Sozialtarife für Gas und Strom für Einkommensschwache?
Andrea Nahles: Darüber wird bei uns sehr intensiv geredet. Das ist nicht ganz unkompliziert in der Ausgestaltung, aber dass Energie auch zu der Grundversorgung der Menschen gehört und dass wir da wenigstens, wo wir über die Leitung auch bestimmen können, auch sagen können: Jeder muss ein Grundquantum an Energie zu vernünftigen Preisen haben können - ich glaube, das ist eine richtige Idee. Und die werden wir weiter verfolgen.
Christoph Heinemann: Und die Erbschaftssteuer?
Andrea Nahles: Darüber wird jetzt sehr trefflich gestritten. Die muss kommen. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, dass wir die Erbschaftssteuer gänzlich auslaufen lassen. Wir haben gerade bei der Erbschaftssteuer - das ist eine Ländersteuer, die kommt mir auf der Bundesebene jetzt als Bundestagsabgeordnete auch gar nicht in den Haushalt, sondern sie geht in direkter Form in die Länder. Und die Länder sind für Bildung und Schulen verantwortlich. Das ist so eine zentrale Zukunftsinvestition, dass ich es richtig finde, dass wir bei hohen Erbschaften - ich möchte betonen bei "hohen Erbschaften" - einen Teil nehmen, um es in die Zukunft zu investieren.
Christoph Heinemann: Andrea Nahles - Ihre Vision: Wo sehen Sie die SPD im Winter 2009?
Andrea Nahles: In der Regierungsverantwortung.
Christoph Heinemann: Unter welchem Kanzler?
Andrea Nahles: Am liebsten wäre mir Kurt Beck.
Christoph Heinemann: Das heißt, dafür müsste er dann Kanzlerkandidat auch werden.
Andrea Nahles: Jetzt versuchen Sie es wieder.
Christoph Heinemann: Ja.
Andrea Nahles: Und dann muss ich leider sagen: Das entscheiden wir im Herbst 2008.
Christoph Heinemann: Dankeschön für das Gespräch.
Andrea Nahles: Danke.
