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"Wir haben Probleme"

Abgesehen von einer kleinen Gemeinde in Teheran ist das jüdische Leben im Nahen und Mittleren Osten nahezu verschwunden. Nur in der muslimischen Türkei leben die Juden noch weitgehend unbehelligt und frei von staatlichem Antisemitismus. Doch das Verhältnis kippt.

Von Gunnar Köhne |
    Die Türkei war bislang ein enger Verbündeter Israels. Doch das Verhältnis zwischen den beiden Staaten ist gestört – was die jüdische Gemeinde des Landes zunehmend zu spüren bekommt.

    "Ihr wisst sehr gut, wie man tötet! Und ich weiß sehr wohl, wie ihr die Kinder am Strand von Gaza getötet habt! Heißt es nicht im fünften Gebot: Du sollst nicht töten?"
    Dieser Wutausbruch von Tayyip Erdogan war heilsam für uns, sagt Rifat Bali und lächelt. Zunächst war der jüdische Publizist schockiert, als im Januar dieses Jahres bei sich zuhause vor dem Fernsehapparat den türkischen Ministerpräsidenten auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos toben sah. Bei einer Podiumsdiskussion hatte Erdogan den israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres wegen der Militäroffensive im Gaza-Streifen angebrüllt und dann wutschnaubend vom Podium gestürmt. In der Türkei, vor allem aber in der arabischen Welt war Erdogan fortan der "Held von Davos", weil er gegen Israel so deutlich Stellung bezogen hatte, wie es kaum ein arabischer Führer gewagt hätte. Rifat Bali meint, die Juden in der Türkei sähen seit diesem Tag im Januar ihre Lage in der Türkei wieder realistischer:

    "Die Sprecher der jüdischen Gemeinde haben danach ihre Strategie geändert und reden nun endlich auch in der Öffentlichkeit über den Antisemitismus. Die Gemeinde hat erst kürzlich eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die ergab, dass die Juden sehr schlecht angesehen sind in der türkischen Gesellschaft. Die große Mehrheit der moslemischen Türken möchte keinen Juden zum Nachbarn haben. Dazu kamen die anti-israelischen Ausfälle des Premierministers. Bis zum Anfang dieses Jahres behaupteten die meisten von uns noch: Wir sind in der Türkei sehr glücklich. Doch nun geben wir öffentlich zu: Wir haben Probleme."

    1492, auf dem Höhepunkt der spanischen Inquisition, verließen fast alle Juden Spanien - die Flüchtlinge fanden großzügige Aufnahme im Osmanischen Reich. Heute, mehr als 500 Jahre nach ihrer Flucht, hat die jüdische Gemeinde Istanbuls noch rund 25.000 Mitglieder. Sie besitzt eine eigene Wochenzeitung - "Shalom" -, ein Krankenhaus, ein Altenheim und ein Dutzend Synagogen. Jüdische Geschäftsleute bilden das Rückgrat des Istanbuler Wirtschaftslebens, Mitglieder der Gemeinde sind auch in den Medien Nach der Vernichtung der Juden von Thessaloniki durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ist Istanbul das letzte Zentrum der judäo-spanischen Kultur. Die Sprache der türkischen Juden ist Ladino, jenes alte Sprachgemisch aus Spanisch und Hebräisch. Mit den jeweils Herrschenden am Bosporus kamen die Juden bislang immer gut zurecht, etwas zu gut, findet Rifat Bali:

    "1974, in dem Jahr, in dem die Türkei in Zypern einmarschierte, erklärten sich viele hochrangige Mitglieder unserer Gemeinde bereit, Im Namen der Türkei Lobbyarbeit zu betreiben. Vor allem in den USA. Sie sollten helfen, das Image eines undemokratischen Staates zu korrigieren, der die Menschenrechte vor allem seiner Minderheiten verletze. Sie ließen sich immer wieder für die Ziele des Außenministeriums einspannen."
    Jahrzehntelang waren Israel und die Türkei enge Verbündete, vor allem die militärische Zusammenarbeit war eng. Erst vor zwei Jahren hielt Israels Staatspräsident Peres in der türkischen Nationalversammlung eine historische Rede auf Hebräisch. Doch Erdogan fühlte sich persönlich von der israelischen Regierung düpiert, denn Ankara hatte sich monatelang bemüht, Gespräche zwischen Israel und Syrien zu vermitteln. Diese Bemühungen waren mit dem Gaza-Krieg hinfällig geworden. Im Sommer wurde Israel von einem lange geplanten gemeinsamen Militärmanöver in Anatolien ausgeladen. Der türkische Staats-Sender TRT zeigte kürzlich eine antisemitische TV-Serie, in der israelische Soldaten als Kindermörder dargestellt wurden. Rifat Bali erwartet, dass die antisemitische Stimmung im Land wieder abebben wird – schließlich hätten die Türken zu viele innenpolitische Probleme, als das sie ständig nach Palästina schauen könnten. Einen Exodus türkischer Juden nach Israel erwartet er nicht:

    "Wenn Juden aus der Türkei auswandern, dann eher in die USA, wo auch viele ihre Ausbildung erhalten haben. Nur sehr, sehr wenige Idealisten wandern nach Israel aus. Die Mehrzahl der jungen türkischen Juden kann kein Hebräisch und die zionistische Kultur ist ihr fremd."