Archiv


"Wir können gar nicht als Einzelwesen existieren"

Der Biochemiker Jürgen Neffe, Autor des Buches "Darwin – das Abenteuer des Lebens", widerspricht dem viel zitierten modernen Sozialdarwinismus. Nicht der Tüchtigste oder Stärkste setze sich durch. So funktioniere eine Gesellschaft nicht. Auch in der Tierwelt überlebten Arten nicht allein durch Ringen und Kampf gegen den Anderen, sondern auch durch Kooperation.

Jürgen Neffe im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Josef Hayden, "Die Schöpfung", aber von wegen Schöpfung: der Mensch stammt vom Affen ab, mehr oder weniger jedenfalls. Mit dieser biologischen Erkenntnis, mit seiner Theorie der Evolution hat Charles Darwin die Naturwissenschaften revolutioniert. Weltweit wird in dieser Woche an den 200. Geburtstag des britischen Forschers erinnert, trotz anhaltender Kritik an seiner Theorie. Evolution ist ein fortlaufender, nicht endender Prozess, der auch in der politischen Auseinandersetzung immer wieder eine gewichtige ideologische Rolle gespielt hat und immer noch spielt, oft zusammengefasst mit dem Begriff "Sozialdarwinismus". Das Recht und eben vor allem die Fähigkeit des Stärkeren, sich gegen Schwächere durchzusetzen, Ellbogen zu zeigen, egoistisch, unsozial, kalt, wie eben auch die neuen und die alten Kritiker des Kapitalismus argumentieren. Und wenn dann auch noch die ganze Welt unter der Finanz- und Wirtschaftskrise leidet? – Über "Sozialdarwinismus" wollen wir nun reden mit dem Biochemiker Jürgen Neffe, Autor des Buches "Darwin – das Abenteuer des Lebens". Guten Morgen!

    Jürgen Neffe: Guten Morgen!

    Müller: Herr Neffe, ist die Gesellschaft darwinistisch?

    Neffe: Mir ist sie manchmal noch zu darwinistisch, wenn man bedenkt, dass eben genau das Recht des Stärkeren, Ellbogenegoismus und diese Dinge unsere Gesellschaft prägen, denn das ist ja etwas, was Darwin eher für unsere Vergangenheit beschrieben hat. Die Menschheit oder die Zivilisation unserer Menschheit ist eigentlich ein Prozess, genau vieles von dem zu überwinden, denn wir sind ja nicht nur das, wie Darwin Tiere beschreibt, sondern wir haben uns weit darüber hinweggehoben. Das Interessante ist ja, dass uns Darwin – deshalb feiern wir ihn zu Recht – so was wie eine plausible Geschichte gegeben hat. Die eine der großen beiden Fragen, woher kommen wir, hat er relativ plausibel oder sehr plausibel beantwortet. Die andere große Frage, wo gehen wir hin, also das, wie wir unseren menschlichen Alltag gestalten, darauf hat er eigentlich keine guten Antworten gehabt.

    Müller: Das heißt, Herr Neffe, wir müssen immer, die Gesellschaft, der Staat, die Parteien, die Regierungen, die Gesellschaften immer wieder gegen Darwin vorgehen, um zivilisiert zu leben?

    Neffe: Nein, vielleicht gegen das, was man Darwinismus nennt. Darwin hat ja kein Gesellschaftsprogramm geschrieben. Aber das Recht des Stärkeren, was Darwin auf die Natur übertragen hat, hat er – und das ist sozusagen seine Beteiligung an der ganzen Geschichte, die heute unter "Sozialdarwinismus" läuft – aus einer Gesellschaftstheorie abgeleitet oder genauer gesagt aus mehreren. Ich bezeichne das auch als Geburtsfehler seiner Theorie und das Verrückte ist, ohne diesen Geburtsfehler hätte er die Theorie gar nicht entwerfen können.

    Müller: Warum ist das ein Geburtsfehler?

    Neffe: Ein Geburtsfehler, weil die Natur natürlich gar nicht so abläuft, wie er es jetzt aus der Nationalökonomie, nämlich genau gesagt von den Modellen von Thomas Malthus übertragen hat. Malthus hat sehr klug vorhergesagt, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht so schnell steigen kann wie die Bevölkerung ansteigt, klug aber nur in dem Sinne, dass dies unter Idealbedingungen gilt. Wir Menschen haben festgestellt, wir sind jetzt schon bald sieben Milliarden, wir haben sehr wohl die Nahrungsmittelproduktion über alles Denkbare hinaus steigern können. Malthus sagt Hungerkatastrophen, Kannibalismus, Kriege voraus und Darwin denkt sich ganz richtig, na ja, in der Natur kommen auch immer viel zu viele Nachkommen auf die Welt und irgendein Prinzip muss die aussortieren. Das ist seine große Entdeckung, die natürliche Auslese.

    Müller: Herr Neffe, ist Charles Darwin und der Darwinismus, dieser Ismus, den er ja auch geprägt hat durch seine Forschungsergebnisse, immer wieder ideologisch missbraucht worden und wenn ja dann auch zu Recht?

    Neffe: Missbraucht und gebraucht worden. Das ist ja gerade die Crux und das ist das Dilemma des Darwins, weil er auch bei der Entwicklung seiner Theorie durchaus blinde Flecken hatte und unbedingt möglichst viel des menschlichen, des gesellschaftlichen Bereiches unter das Dach seiner Theorie vereinen wollte. Ich sagte gerade, ein Geburtsfehler Vorbild Nationalökonomie. Der zweite kommt dann dazu, den kennen wir alle, dass er diese natürliche Auslese gleichsetzt mit einem Begriff aus der Soziologie. Das ist nämlich von Herbert Spencer "Survival of the Fittest". Das Problem lässt sich ganz einfach schildern. Wenn wir das als Status quo-Analyse eines Zustandes ansehen, dann sagen wir, na gut, das hat sich alles evolutionär entwickelt, das muss wohl so sein. Das heißt also, so gesehen kann man auch sagen, Reichtum, Gier, Egoismus und so weiter sind so entstanden, weil sie sich evolutionär gebildet haben. Nur eine Gesellschaft und kulturelle Evolution laufen natürlich nach ganz anderen Regeln ab als biologische Evolutionen.

    Müller: Aber es gibt ja auch das menschliche Naturgesetz, zumindest von vielen Philosophen ja entsprechend definiert und auch beschrieben. Wenn wir darauf zurückkommen, wenn wir also sagen, dass die Menschen nach ihrer Natur ähnlich funktionieren, ähnlich agieren wie die Tierwelt, dann muss der Staat ein ganz starker sein.

    Neffe: Das ist richtig. Nur gucken wir doch mal, wie die Tierwelt sich verhält. Der Kampf ums Dasein, der da immer beschrieben wird, den sehen wir ja nicht überall in der Tierwelt. Die meisten Arten kämpfen nicht ständig miteinander, sondern da geht es darum, dass jeder einzelne durchkommt und übrigens nicht durchkommt immer im Ringen und Kampf gegen den anderen, sondern auch in der Kooperation. Wenn Sie sagen "Staat", dann sind das natürlich wir alle. Die Kooperation, die Zusammenarbeit sollte sich eben von oben nach unten und von unten nach oben erstrecken. Das ist, glaube ich, die Lehre, die wir aus der modernen Evolutionsforschung ziehen können.

    Müller: Wie stark, Herr Neffe, ist denn dieses Darwin’sche biologische Grundgesetz in unserer Gesellschaft verankert?

    Neffe: Es gibt Wissenschaftler, die machen sich einen Namen damit zu behaupten, wir seien praktisch noch auf dem Niveau der Steinzeit. Es gibt nirgendwo einen Beleg dafür. Man kann natürlich sagen, wenn es so was gibt, übrigens auch so furchtbare Sachen wie Vergewaltigung, Kindersex und solche Sachen, die können ja nur existieren, weil sie biologisch sinnvoll sind, sonst hätten sie sich nicht durchgesetzt. Da habe ich größere Bedenken, das wird man verstehen. Die Gesellschaften prägen sich natürlich, wenn sie sagen, das gilt, so ist unsere Natur, der Mensch ist gierig, der Mensch ist böse. Dann prägen sie sich selber in der Richtung, die gerade in eine ganz große Krise geraten ist, denn für mich ist diese Finanzkrise oder Weltwirtschaftskrise auch eine Krise des darwinistisch geprägten Egoismus, der sagt, jeder muss sich durchsetzen. Und hier kommt wieder das Problem des Status quo. Wenn wir sagen, die Welt ist so, wie sie ist, weil sie sinnvollerweise aufgrund von Naturgesetzen so entstanden ist, dann müssen wir sie so hinnehmen, aber wir wissen natürlich alle zum Beispiel gerade in diesen Tagen, wenn es eine große Krise ist, dann rücken wir zusammen, dann muss der Staat einspringen. Wir können gar nicht als Einzelwesen existieren. Das ist so eine Schimäre, ist so eine Idee, die gerne auch von neoliberalen Kreisen angeführt wird, der Tüchtigste setzt sich durch. So funktioniert eine Gesellschaft nicht und hat übrigens auch nie so funktioniert.

    Müller: Könnte man denn sagen, Herr Neffe, je mehr Zivilisierung der Gesellschaft, desto weniger Darwin, desto weniger Darwinismus?

    Neffe: Das ist so ein bisschen eine Formel, die ich auch versucht habe, so aufzuschreiben, denn ich verstehe Zivilisation auch als einen Prozess der Überwindung des Darwinismus. Wir wissen, woher wir kommen, wir können sehen, wo auch unsere tierische Natur ist. Die will ja niemand in Abrede stellen. Wenn Sie sich im Dunkeln fürchten, dann haben das Ihre Vorfahren auch schon gemacht. Das ist natürlich eine angeborene Verhaltensweise. Aber vieles von dem, was unsere ethnische Natur vielleicht mal ausgezeichnet hat, können wir überwinden und haben wir ja auch schon überwunden.

    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk der Biochemiker Jürgen Neffe, Autor des Buches "Darwin – das Abenteuer des Lebens". Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neffe: Ich danke.