"Die Luftlande-Aufklärer landen und pirschen sich unter dem Feuerschutz der Hubschrauber an das verdächtige Gelände heran", berichtet der Reporter. Dann ist Sprechfunkverkehr zu hören, kurze taktische Kommandos. "Aufgabe gelöst" heißt es schließlich. Eine illegale kleine Benzin-Raffinerie ist aufgespürt und gesprengt. Von Tschetschenen, geschweige denn tschetschenischen Kämpfern - weit und breit zunächst keine Spur. Dann aber doch irgendwelche verdächtige Bewegungen am Horizont ... die geballte Feuerkraft des Spähtrupps bricht los. Die russische Armee hat Flagge gezeigt. - Ende eines Tagesberichts vom Kriegsschauplatz, eine Routinemeldung...
Weit länger als ein Jahr ist es her, seit am 1.Oktober 1999 russische Streitkräfte die tschetschenische Grenze überschritten, um - wie es hieß - den tschetschenischen Terrorismus zu unterbinden, vor allem aber den Souveränitätsansprüchen dieser Nordkaukasusrepublik unter dem frei gewählten Präsidenten Aslan Maschadov ein Ende zu setzen. Sprachen russische Generalen vollmundig von Monats- und zunächst sogar Wochenfristen, in denen sie den tschetschenische Widerstand brechen wollten, sind die russischen Streitkräfte heute von diesem selbstgesetzten Ziel immer noch weit entfernt. Im Gebiet zwischen dem Fluss Terek und den Bergtälern des Nordkaukasus hält ein veritabler Partisanenkrieg weiterhin an. Auf diese Art des Krieges schien im Moskauer Generalstab niemand vorbereitet gewesen zu sein, selbst nach all den verlorenen Abenteuern wie dem Ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 90er Jahre oder nach den Erfahrungen aus der sowjetischen Afghanistan-Intervention während der 80er Jahre. Pawel Felgenhauer, Politologe, Militärexperte und Publizist in der angesehenen englischsprachigen "Moscow-Times", reagiert zunächst verblüfft auf die Frage, ob denn die russischen Landstreitkräfte jetzt wenigstens im Anti-Partisanen-Kampf ausgebildet werden:
"Nach unserer offiziellen Doktrin sind Partisanen nämlich unbesiegbar. Partisanen, so heißt es, sind die Guten, die um ihre nationale Befreiung gegen die Imperialisten kämpfen. Und deswegen gibt es nach offizieller Lesart in Tschetschenien keine Partisanen - sondern nur Banditen. Und das wiederum bedeutet: Wenn sie unbesiegbar sind, dann ist es sinnlos zu lernen, wie man mit ihnen kämpft. Populärer ist jetzt offenbar die Erinnerung an jene Strategie, wie sie Stalin, Berija und der Geheimdienst NKWD nach dem Krieg im Baltikum und in der West-Ukraine gegen die dortigen Nationalisten angewandt haben. Das hieß: Eine Kompanie in jedes Dorf. Das Kommando führte ein Geheimdienst-Mann, ein sogenannter "Operativer Bevollmächtigter" des KGB. Alles schön und gut. Aber: Wenn man nachzählt, kommt man in Tschetschenien auf gut über 200 Dörfer und Städte. Und das wiederum hieße, dass schon zehn Divisionen nur zum Garnisonsdienst eingesetzt werden müssten. Für die Hauptstadt Grosny allein wäre wohl schon eine eigene Division notwendig. Unter Stalin ist tatsächlich mit solch einem Aufwand gegen Aufständische gekämpft worden. - Und tatsächlich, nach zehn Jahren Kampf, bekam Moskau die Sache dann in den Griff..."
Heute aber seien solche Methoden undenkbar, fährt Felgenhauer ironisch fort. Bei dem immensen Kostenaufwand sähe es doch nicht sonderlich gut aus, gleichzeitig vom Westen neue Kredite zu erbitten oder Alt-Schulden umbuchen zu lassen. indes reagiert Moskau immer noch verärgert, wenn seine Kriegsführung in Tschetschenien vom Westen gelegentlichkritisiert wird. Jüngstes Beispiel: Zwar vereinbarten NATO und Russland vor kurzem in Brüssel, dass ein NATO-Vertreter wieder in die russische Hauptstadt zurückkehren darf, nachdem zu Beginn des Kosovo-Krieges der für die NATO akkreditierte Offizier aus Russland abreißen musste. Als kurz nach der neuen Vereinbarung in Brüssel aber erneut westliche Kritik wegen Tschetschenien zu hören war, wurde die Wiedereröffnung des Büros in Moskau prompt verschoben. Fast janusköpfig präsentiert sich derzeit Moskaus Außen- und Sicherheitspolitik - vor allem im Dialog mit Washington. Verabredete man in Brüssel, sich künftig besser beim Abschuss von Test-Raketen zu informieren oder sich bei U-Boot-Unfällen gegenseitig zu helfen, sprach sich andererseits Präsident Putin bei seinen jüngsten Auslandsreisen - wie jüngst in Kuba, Indien oder China - mehrfach betont gegen eine weltweite Vormachtstellung der USA aus. Auch bei geplanten Waffenverkäufen - etwa an den Iran - will die russische Führung sich über amerikanische Bedenken und Warnungen offenbar notfalls hinwegsetzen. Zumindest nach außen hin lassen Russland bereits angedrohte US-Vergeltungsmaßnahmen demonstrativ unbeeindruckt. Selbst bei dem im Sommer noch so umstrittenen Thema "NMD", den Plänen für einen nationalen Raketenschild der USA geben sich russische Politiker neuerdings gelassener. So etwa der ehemalige Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Andrej Kokoschin. Der Zivilist Kokoschin gilt im übrigen als möglicher Nachfolger von Marschall Igor Sergejew im Amt des russischen Verteidigungsministers. NMD - so Kokoschin - sei eher gegen China oder Nordkorea gerichtet. An Russland hätten die USA dabei wohl erst in zweiter Linie gedacht.. Und in Washington wisse man, dass Russland noch sehr lange, mindestens bis Ende dieses Jahrzehnts eine große Menge Nuklearsprengköpfe für den interkontinentalen Einsatz bereit halte - selbst wenn so mancher Gefechtskopf wegen Überalterung oder aus anderen Sicherheitsgründen aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Aber:
Kokoschin: "Wenn jemand einen Warnschlag gegen uns ausführt, werden wir immer noch im Gegenschlag die größten Städte im Westen, in den NATO-Staaten und in den USA vernichten können. Vergessen Sie nicht, dass wir auch noch eine große Menge taktisch-operativer Nuklearwaffen besitzen, die unter bestimmten Bedingungen auch das Territorium der Vereinigten Staaten zu erreichen imstande sind."
Die hier fast auftrumpfende Selbstsicherheit hält Aleksandr Gol'c, militärpolitischer Kommentator des liberalen Wochenmagazins "Itogi" für übertrieben. Er verweist aber auf ein psychologisches Phänomen, das nicht nur in der russischen Führung sondern auch in breiten Teilen der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt:
"Es mag einem gefallen oder nicht - aber es ist eine Tatsache, dass das einzige Tribut einer Großmacht, das Russland geblieben ist, in seiner katastrophal auseinanderfallenden Atommacht besteht. - Im ABM-Vertrag haben sich zwei Großmächte verabredet, dass die eine die andere vernichten kann. Für Russland ist es außerordentlich wichtig, dass die USA sich darüber im klaren sind, dass Russland die Vereinigten Staaten zerstören kann. Wenn - zeitgleich mit der abnehmenden Atommacht Rulands - die USA ein System einführen, das theoretisch eine Anti-Raketen-Verteidigung ermöglicht, bedeutet das aus der Perspektive russischer Politiker, dass Russland gewaltig an internationaler Autorität verlieren würde."
Als ein ausgewiesenes Druckmittel der USA sahen breite Kreise des russischen Establishments die Sommer-Debatte um NMD - ungeachtet des später von US-Präsident Bill Clinton verkündeten Moratoriums. Der Kosovo-Krieg, NMD, eine weitere NATO-Ost-Erweiterung vielleicht sogar noch um die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen: Quer durch alle Alters- und Sozialschichten Russlands äußert sich Missmut, klingt der Ton gereizt. Eine Stimmung, die - übrigens keineswegs staatlich verordnet - antiwestliche, vor allem aber anti-amerikanische Züge angenommen hat. Die USA, so die gängige Meinung, wollen Russland in seiner gegenwärtigen Schwäche am Boden halten:
Portugalov: "Selbstverständlich! - Wäre ich ein Amerikaner, würde ich sagen: es gibt da sehr verschiedene Moden, wie man es macht. Man kann es zivilisiert machen, man kann blöde Ratschläge geben. Man kann das mit Krediten regulieren. Man kann aber auch uns ignorieren bei Gelegenheit. Man kann uns herausdrücken aus vielen Regionen... Unsere Einflusssphäre - das ist zwar ein veralteter Begriff - aber auf jeden Fall, Sphäre unseres nationalen Interesses, wie es die Balten gewesen waren. Aber schon der große de Gaulle sagte: es ändert sich sehr viel. Schon manchmal in zehn oder zwanzig Jahren. Aber die großen Kraftlinien der Geo-Politik, die bleiben tausendjährig bestehen, nicht?!"
Nikolaj Portugalov, ehemals Deutschland-Experte im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und heute - wie er ein wenig kokettiert - "bloß einfacher Rentner", drückt aus, was viele denken, und zwar auch jüngere Russen. Allerdings will weder Portugalov noch die Mehrzahl seiner Landsleute zurück zu den Zeiten des Kalten Kriegs. Russland brauche zwar eine Armee, die imstande sei, die Landesverteidigung zu gewährleisten, aber auch eine Armee, die sich an die Bedingungen der Gegenwart anpassen müsse. Ansprüche also, die sich in der in diesem Jahr verabschiedeten neuen russischen Militärdoktrin wiederfinden müssten. Noch einmal der Militärexperte Pawel Felgenhauer:
"Schritte nach vorn sind dort durchaus zu erkennen, zum Beispiel in strategischer Hinsicht. Dort ist zum Beispiel von der Möglichkeit eines regional begrenzten Atomkrieges die Rede. Und das ist nur logisch: Denn seit China und Indien zu Atommächten geworden sind, wäre es schwierig, weiterhin zu behaupten, dass regionale Atomkriege unmöglich seien. Das heißt: Heute wird - zu Recht -die Führung eines begrenzten atomaren Schlagabtausches ins Kalkül gezogen. Denn so ist die internationale Lage. Und erneut taucht in der Doktrin auf, dass Russland auch als Erster Atomwaffen einsetzen kann. - Auch ein Schritt in die richtige Richtung, weil er den Realitäten Rechnung trägt."
Längst überfällig und seit langem in der Diskussion ist eine echte - und damit einschneidende - innere Reform der russischen Armee, die derzeit rund 1,2 Millionen Mann zählt. Der wichtigste Posten dabei: Insgesamt sollen die Streitkräfte bis 2003 um 350 000 Mann verringert werden. Weit weniger als eine Million Mann - so könnte der Personalbestand bis Ende des Jahrzehnts aussehen. Militärisch knapp gab Ende November Wladimir Putin die Richtung öffentlich vor. Der Präsident Russlands und zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte vor seinen Generalen und Admiralen bei deren Jahrestagung im Verteidigungsministerium:
"Eine übermäßig große militärische Organisation zu unterhalten, ist nicht nur unzulässig sondern - dumm!"
Eine Erkenntnis des Präsidenten, die es jetzt "nur" noch umzusetzen gilt. Zäher Widerstand des Apparates am Arbat-Platz in Moskau, dem Sitz des Verteidigungsministeriums, ist keineswegs auszuschließen, eher sogar zu erwarten. Der militärpolitische Kommentator Aleksandr Go'lc verweist in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt:
"Putin geht instinktiv in die richtige Richtung. Er will die Streitkräfte verringern. Aber er unterlässt einige wichtige Schritte, um das russische Militärsystem auf einen zivilen Weg zu bringen: Zum Beispiel - erstens: Auf die Wehrpflicht will er nicht verzichten. Zweitens: Er will weder eine entschiedene Verringerung noch eine grundlegende Demilitarisierung der insgesamt zwölf verschiedenen bewaffneten Ministerien, Organisationen und Institutionen, die in erster Linie für den Einsatz im Inneren Russlands gedacht sind. Die aber haben eine lange sowjetische Tradition, die sogar in den Absolutismus der Zarenzeit zurückreicht."
Grenztruppen, Innere Truppen, Eisenbahntruppen, Truppen der Zivilverteidigung, bewaffnete Formationen der Geheimdienste - sie standen und stehen in Konkurrenz zur Armee, die - wie zuletzt in Tschetschenien - nach vorne geschickt wird, während das Hinterland von Gendarmerie-Truppen des Innenministeriums MWD besetzt wird. Entsprechend schlecht ist meist die Stimmung zwischen Armee-Einheiten und MWD-Truppen. Eine Beobachtung, die Nikolaj Portugalow bestätigt:
"Was die Armee fertig bringen kann, hat sie in Tschetschenien gezeigt. Bei diesen Umständen, wo die Soldaten halb verhungert, halb zersetzt, ihre Waffen verkaufen und dergleichen mehr. Und außerdem, auch im Falle des Falles würden sie kaum auf ihre Brüder schießen. - Da sind ganz andere bewaffnete Streitkräfte, die in Frage kommen. Und die werden gepflegt, und die werden gehätschelt, nicht?!"
Die Armee steckt seit langem in ernsten Problemen. Allen Beschwörungsformeln des neuen Präsidenten zum Trotz, das russischen Militär werde wieder die ihm gebührende Anerkennung erfahren, lief erst in diesen Tagen mehrfach dieser Fernseh-Spot:
"Nach offiziellen Angaben gibt es in Russland über 100 000 wohnungslose Militärangehörige. In Wirklichkeit sind es aber viel mehr. Wir wenden uns an Offiziere und Fähnriche, die keine Unterkunft haben. Mit Eurer Hilfe werden wir uns bemühen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken. Die Sendung "Das vergessene Regiment" wartet auf Nachricht von Euch, auf Briefe, auf Eure Telefonanrufe"
Selbst eine kleinere Berufsarmee, die beitragen könnte, solch drängende soziale Probleme wie die verbreitete Wohnungsnot unter Berufssoldaten zu lindern oder gar zu beseitigen, macht für Alksandr Gol'c im Augenblick keinen Sinn. Der mögliche künftige Verteidigungsminister Andrej Kokoschin sieht dies ähnlich:
"Dem Aufbau einer Berufsarmee müsste der Aufbau eines Unteroffiziers-Korps vorausgehen, etwa den US-Master-Sergeant vergleichbar. Bei uns gab es einmal den Kompanie-Starschyna, den "Spieß" - so wie in Deutschland den Feldwebel. Diese Männer bilden so eine Art Rückgrat der Armee. Ohne deren Hilfe dürfte ein junger Leutnant oder frisch gebackener Kompaniechef mit seinen Untergebenen, den vielleicht viel älteren Mannschafts- und Unteroffiziers-Dienstgraden nicht immer problemlos zurechtkommen. Genau dafür aber braucht man den starschyna mit seiner Faust. (lacht)"
Die hohen Einnahmen für den russischen Staatshaushalt aus den kräftig gestiegenen Erdöl-Exporten der vergangenen Monate waren sicher ein zunächst unvorhergesehener Glücksfall. Ein Glücksfall, der sich aber - bezogen auf die Armee - im Nachhinein, so Gol'c, noch als verhängnisvoll erweisen könnte:
"Zum ersten Mal ist Russland jetzt in der Lage, ziemlich viel Geld für den Militärsektor auszugeben. Paradox ist dabei, dass diese Finanzmittel entweder dazu eingesetzt werden können, um das heutige, auseinanderfallende Militärsystem noch für zwei, drei Jahre am Leben zu erhalten - so lange die Erdöl-Preise noch hoch sind. Aber dieses Geld ließe sich auch für außerordentlich schmerzhafte Reformen ausgeben, die allerdings - so ist die Realität - keinerlei politischen Effekt hervorrufen und die auf gar keinen Fall Putins Autorität in diesem Land heben würden. Doch nur solche schmerzhaften Maßnahmen versprechen in der Perspektive für das russische Streitkräfte-System eine Umwandlung in zivilisiertere Strukturen als dies jetzt der Fall ist."
Einstweilen aber prägen das Bild der russischen Streitkräfte eher Aussagen wie diese, aufgenommen bei einer Fernsehreportage aus einem Militär-Hospital in Nishnyj-Nowgorod. Opfer eines hypertrophen Apparates, der die eigenen Kinder zu verschlingen droht, und zwar nicht nur physisch sondern auch seelisch - vor zehn, fünfzehn Jahren schon nannte man es "Afghanistan-Syndrom", heute leiden die Opfer am "Tschetschenien-Syndrom"... Oder in den Worten des Militärarztes Musatov:
"Stellen Sie sich vor: da sitzen bei uns ungefähr dreißig junge Burschen in einer Halle. Der Fernseher ist tot. - Polstersessel, ein Sofa, gedämpftes Licht - und diese Jungs? Sie schweigen, sind still, sind wie stumm. Verstehen Sie? Wie ist das zu begreifen? - Überall, wo sich sonst 30 junge Leute treffen ist doch fröhlicher Lärm, Lachen ... das sind doch Jungs, 18, 19 Jahre alt... aber alle schweigen, verstehen Sie? Alle schweigen..."
Freunde, heißt es in dem Lied des populären Sängers Trofim, Vorgesetzte, ich hab' einfach kein Glück. Das wievielte Jahr streune ich hier mit meinem Gewehr schon herum... Aber da lässt sich nichts machen, so ist eben unser unerbittliches Handwerk. Im Gleichschritt - Marsch: aty-baty, aty-baty... Afghanistan, Moldawien und jetzt Tschetschenien. Meine Frau ist weg. Nicht ihre Schuld. Kein Wunder, denn ein Familienleben hatten wir nie. Aty-baty, aty-baty... Karriere, Orden? Schultersterne auf die linke Tour? Nicht dafür war ich in der Armee. Meinen Hauptmannsrang hab ich mir ehrlich erdient. Aty-baty, Aty-baty... Russland hat für uns nichts übrig, weder Ruhm noch Geld - wir aber sind ihre letzten Soldaten und müssen deshalb durchhalten bis wir halt sterben. - Im Gleichschritt - marsch, aty-baty, aty-baty...
Weit länger als ein Jahr ist es her, seit am 1.Oktober 1999 russische Streitkräfte die tschetschenische Grenze überschritten, um - wie es hieß - den tschetschenischen Terrorismus zu unterbinden, vor allem aber den Souveränitätsansprüchen dieser Nordkaukasusrepublik unter dem frei gewählten Präsidenten Aslan Maschadov ein Ende zu setzen. Sprachen russische Generalen vollmundig von Monats- und zunächst sogar Wochenfristen, in denen sie den tschetschenische Widerstand brechen wollten, sind die russischen Streitkräfte heute von diesem selbstgesetzten Ziel immer noch weit entfernt. Im Gebiet zwischen dem Fluss Terek und den Bergtälern des Nordkaukasus hält ein veritabler Partisanenkrieg weiterhin an. Auf diese Art des Krieges schien im Moskauer Generalstab niemand vorbereitet gewesen zu sein, selbst nach all den verlorenen Abenteuern wie dem Ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 90er Jahre oder nach den Erfahrungen aus der sowjetischen Afghanistan-Intervention während der 80er Jahre. Pawel Felgenhauer, Politologe, Militärexperte und Publizist in der angesehenen englischsprachigen "Moscow-Times", reagiert zunächst verblüfft auf die Frage, ob denn die russischen Landstreitkräfte jetzt wenigstens im Anti-Partisanen-Kampf ausgebildet werden:
"Nach unserer offiziellen Doktrin sind Partisanen nämlich unbesiegbar. Partisanen, so heißt es, sind die Guten, die um ihre nationale Befreiung gegen die Imperialisten kämpfen. Und deswegen gibt es nach offizieller Lesart in Tschetschenien keine Partisanen - sondern nur Banditen. Und das wiederum bedeutet: Wenn sie unbesiegbar sind, dann ist es sinnlos zu lernen, wie man mit ihnen kämpft. Populärer ist jetzt offenbar die Erinnerung an jene Strategie, wie sie Stalin, Berija und der Geheimdienst NKWD nach dem Krieg im Baltikum und in der West-Ukraine gegen die dortigen Nationalisten angewandt haben. Das hieß: Eine Kompanie in jedes Dorf. Das Kommando führte ein Geheimdienst-Mann, ein sogenannter "Operativer Bevollmächtigter" des KGB. Alles schön und gut. Aber: Wenn man nachzählt, kommt man in Tschetschenien auf gut über 200 Dörfer und Städte. Und das wiederum hieße, dass schon zehn Divisionen nur zum Garnisonsdienst eingesetzt werden müssten. Für die Hauptstadt Grosny allein wäre wohl schon eine eigene Division notwendig. Unter Stalin ist tatsächlich mit solch einem Aufwand gegen Aufständische gekämpft worden. - Und tatsächlich, nach zehn Jahren Kampf, bekam Moskau die Sache dann in den Griff..."
Heute aber seien solche Methoden undenkbar, fährt Felgenhauer ironisch fort. Bei dem immensen Kostenaufwand sähe es doch nicht sonderlich gut aus, gleichzeitig vom Westen neue Kredite zu erbitten oder Alt-Schulden umbuchen zu lassen. indes reagiert Moskau immer noch verärgert, wenn seine Kriegsführung in Tschetschenien vom Westen gelegentlichkritisiert wird. Jüngstes Beispiel: Zwar vereinbarten NATO und Russland vor kurzem in Brüssel, dass ein NATO-Vertreter wieder in die russische Hauptstadt zurückkehren darf, nachdem zu Beginn des Kosovo-Krieges der für die NATO akkreditierte Offizier aus Russland abreißen musste. Als kurz nach der neuen Vereinbarung in Brüssel aber erneut westliche Kritik wegen Tschetschenien zu hören war, wurde die Wiedereröffnung des Büros in Moskau prompt verschoben. Fast janusköpfig präsentiert sich derzeit Moskaus Außen- und Sicherheitspolitik - vor allem im Dialog mit Washington. Verabredete man in Brüssel, sich künftig besser beim Abschuss von Test-Raketen zu informieren oder sich bei U-Boot-Unfällen gegenseitig zu helfen, sprach sich andererseits Präsident Putin bei seinen jüngsten Auslandsreisen - wie jüngst in Kuba, Indien oder China - mehrfach betont gegen eine weltweite Vormachtstellung der USA aus. Auch bei geplanten Waffenverkäufen - etwa an den Iran - will die russische Führung sich über amerikanische Bedenken und Warnungen offenbar notfalls hinwegsetzen. Zumindest nach außen hin lassen Russland bereits angedrohte US-Vergeltungsmaßnahmen demonstrativ unbeeindruckt. Selbst bei dem im Sommer noch so umstrittenen Thema "NMD", den Plänen für einen nationalen Raketenschild der USA geben sich russische Politiker neuerdings gelassener. So etwa der ehemalige Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Andrej Kokoschin. Der Zivilist Kokoschin gilt im übrigen als möglicher Nachfolger von Marschall Igor Sergejew im Amt des russischen Verteidigungsministers. NMD - so Kokoschin - sei eher gegen China oder Nordkorea gerichtet. An Russland hätten die USA dabei wohl erst in zweiter Linie gedacht.. Und in Washington wisse man, dass Russland noch sehr lange, mindestens bis Ende dieses Jahrzehnts eine große Menge Nuklearsprengköpfe für den interkontinentalen Einsatz bereit halte - selbst wenn so mancher Gefechtskopf wegen Überalterung oder aus anderen Sicherheitsgründen aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Aber:
Kokoschin: "Wenn jemand einen Warnschlag gegen uns ausführt, werden wir immer noch im Gegenschlag die größten Städte im Westen, in den NATO-Staaten und in den USA vernichten können. Vergessen Sie nicht, dass wir auch noch eine große Menge taktisch-operativer Nuklearwaffen besitzen, die unter bestimmten Bedingungen auch das Territorium der Vereinigten Staaten zu erreichen imstande sind."
Die hier fast auftrumpfende Selbstsicherheit hält Aleksandr Gol'c, militärpolitischer Kommentator des liberalen Wochenmagazins "Itogi" für übertrieben. Er verweist aber auf ein psychologisches Phänomen, das nicht nur in der russischen Führung sondern auch in breiten Teilen der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt:
"Es mag einem gefallen oder nicht - aber es ist eine Tatsache, dass das einzige Tribut einer Großmacht, das Russland geblieben ist, in seiner katastrophal auseinanderfallenden Atommacht besteht. - Im ABM-Vertrag haben sich zwei Großmächte verabredet, dass die eine die andere vernichten kann. Für Russland ist es außerordentlich wichtig, dass die USA sich darüber im klaren sind, dass Russland die Vereinigten Staaten zerstören kann. Wenn - zeitgleich mit der abnehmenden Atommacht Rulands - die USA ein System einführen, das theoretisch eine Anti-Raketen-Verteidigung ermöglicht, bedeutet das aus der Perspektive russischer Politiker, dass Russland gewaltig an internationaler Autorität verlieren würde."
Als ein ausgewiesenes Druckmittel der USA sahen breite Kreise des russischen Establishments die Sommer-Debatte um NMD - ungeachtet des später von US-Präsident Bill Clinton verkündeten Moratoriums. Der Kosovo-Krieg, NMD, eine weitere NATO-Ost-Erweiterung vielleicht sogar noch um die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen: Quer durch alle Alters- und Sozialschichten Russlands äußert sich Missmut, klingt der Ton gereizt. Eine Stimmung, die - übrigens keineswegs staatlich verordnet - antiwestliche, vor allem aber anti-amerikanische Züge angenommen hat. Die USA, so die gängige Meinung, wollen Russland in seiner gegenwärtigen Schwäche am Boden halten:
Portugalov: "Selbstverständlich! - Wäre ich ein Amerikaner, würde ich sagen: es gibt da sehr verschiedene Moden, wie man es macht. Man kann es zivilisiert machen, man kann blöde Ratschläge geben. Man kann das mit Krediten regulieren. Man kann aber auch uns ignorieren bei Gelegenheit. Man kann uns herausdrücken aus vielen Regionen... Unsere Einflusssphäre - das ist zwar ein veralteter Begriff - aber auf jeden Fall, Sphäre unseres nationalen Interesses, wie es die Balten gewesen waren. Aber schon der große de Gaulle sagte: es ändert sich sehr viel. Schon manchmal in zehn oder zwanzig Jahren. Aber die großen Kraftlinien der Geo-Politik, die bleiben tausendjährig bestehen, nicht?!"
Nikolaj Portugalov, ehemals Deutschland-Experte im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und heute - wie er ein wenig kokettiert - "bloß einfacher Rentner", drückt aus, was viele denken, und zwar auch jüngere Russen. Allerdings will weder Portugalov noch die Mehrzahl seiner Landsleute zurück zu den Zeiten des Kalten Kriegs. Russland brauche zwar eine Armee, die imstande sei, die Landesverteidigung zu gewährleisten, aber auch eine Armee, die sich an die Bedingungen der Gegenwart anpassen müsse. Ansprüche also, die sich in der in diesem Jahr verabschiedeten neuen russischen Militärdoktrin wiederfinden müssten. Noch einmal der Militärexperte Pawel Felgenhauer:
"Schritte nach vorn sind dort durchaus zu erkennen, zum Beispiel in strategischer Hinsicht. Dort ist zum Beispiel von der Möglichkeit eines regional begrenzten Atomkrieges die Rede. Und das ist nur logisch: Denn seit China und Indien zu Atommächten geworden sind, wäre es schwierig, weiterhin zu behaupten, dass regionale Atomkriege unmöglich seien. Das heißt: Heute wird - zu Recht -die Führung eines begrenzten atomaren Schlagabtausches ins Kalkül gezogen. Denn so ist die internationale Lage. Und erneut taucht in der Doktrin auf, dass Russland auch als Erster Atomwaffen einsetzen kann. - Auch ein Schritt in die richtige Richtung, weil er den Realitäten Rechnung trägt."
Längst überfällig und seit langem in der Diskussion ist eine echte - und damit einschneidende - innere Reform der russischen Armee, die derzeit rund 1,2 Millionen Mann zählt. Der wichtigste Posten dabei: Insgesamt sollen die Streitkräfte bis 2003 um 350 000 Mann verringert werden. Weit weniger als eine Million Mann - so könnte der Personalbestand bis Ende des Jahrzehnts aussehen. Militärisch knapp gab Ende November Wladimir Putin die Richtung öffentlich vor. Der Präsident Russlands und zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte vor seinen Generalen und Admiralen bei deren Jahrestagung im Verteidigungsministerium:
"Eine übermäßig große militärische Organisation zu unterhalten, ist nicht nur unzulässig sondern - dumm!"
Eine Erkenntnis des Präsidenten, die es jetzt "nur" noch umzusetzen gilt. Zäher Widerstand des Apparates am Arbat-Platz in Moskau, dem Sitz des Verteidigungsministeriums, ist keineswegs auszuschließen, eher sogar zu erwarten. Der militärpolitische Kommentator Aleksandr Go'lc verweist in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt:
"Putin geht instinktiv in die richtige Richtung. Er will die Streitkräfte verringern. Aber er unterlässt einige wichtige Schritte, um das russische Militärsystem auf einen zivilen Weg zu bringen: Zum Beispiel - erstens: Auf die Wehrpflicht will er nicht verzichten. Zweitens: Er will weder eine entschiedene Verringerung noch eine grundlegende Demilitarisierung der insgesamt zwölf verschiedenen bewaffneten Ministerien, Organisationen und Institutionen, die in erster Linie für den Einsatz im Inneren Russlands gedacht sind. Die aber haben eine lange sowjetische Tradition, die sogar in den Absolutismus der Zarenzeit zurückreicht."
Grenztruppen, Innere Truppen, Eisenbahntruppen, Truppen der Zivilverteidigung, bewaffnete Formationen der Geheimdienste - sie standen und stehen in Konkurrenz zur Armee, die - wie zuletzt in Tschetschenien - nach vorne geschickt wird, während das Hinterland von Gendarmerie-Truppen des Innenministeriums MWD besetzt wird. Entsprechend schlecht ist meist die Stimmung zwischen Armee-Einheiten und MWD-Truppen. Eine Beobachtung, die Nikolaj Portugalow bestätigt:
"Was die Armee fertig bringen kann, hat sie in Tschetschenien gezeigt. Bei diesen Umständen, wo die Soldaten halb verhungert, halb zersetzt, ihre Waffen verkaufen und dergleichen mehr. Und außerdem, auch im Falle des Falles würden sie kaum auf ihre Brüder schießen. - Da sind ganz andere bewaffnete Streitkräfte, die in Frage kommen. Und die werden gepflegt, und die werden gehätschelt, nicht?!"
Die Armee steckt seit langem in ernsten Problemen. Allen Beschwörungsformeln des neuen Präsidenten zum Trotz, das russischen Militär werde wieder die ihm gebührende Anerkennung erfahren, lief erst in diesen Tagen mehrfach dieser Fernseh-Spot:
"Nach offiziellen Angaben gibt es in Russland über 100 000 wohnungslose Militärangehörige. In Wirklichkeit sind es aber viel mehr. Wir wenden uns an Offiziere und Fähnriche, die keine Unterkunft haben. Mit Eurer Hilfe werden wir uns bemühen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken. Die Sendung "Das vergessene Regiment" wartet auf Nachricht von Euch, auf Briefe, auf Eure Telefonanrufe"
Selbst eine kleinere Berufsarmee, die beitragen könnte, solch drängende soziale Probleme wie die verbreitete Wohnungsnot unter Berufssoldaten zu lindern oder gar zu beseitigen, macht für Alksandr Gol'c im Augenblick keinen Sinn. Der mögliche künftige Verteidigungsminister Andrej Kokoschin sieht dies ähnlich:
"Dem Aufbau einer Berufsarmee müsste der Aufbau eines Unteroffiziers-Korps vorausgehen, etwa den US-Master-Sergeant vergleichbar. Bei uns gab es einmal den Kompanie-Starschyna, den "Spieß" - so wie in Deutschland den Feldwebel. Diese Männer bilden so eine Art Rückgrat der Armee. Ohne deren Hilfe dürfte ein junger Leutnant oder frisch gebackener Kompaniechef mit seinen Untergebenen, den vielleicht viel älteren Mannschafts- und Unteroffiziers-Dienstgraden nicht immer problemlos zurechtkommen. Genau dafür aber braucht man den starschyna mit seiner Faust. (lacht)"
Die hohen Einnahmen für den russischen Staatshaushalt aus den kräftig gestiegenen Erdöl-Exporten der vergangenen Monate waren sicher ein zunächst unvorhergesehener Glücksfall. Ein Glücksfall, der sich aber - bezogen auf die Armee - im Nachhinein, so Gol'c, noch als verhängnisvoll erweisen könnte:
"Zum ersten Mal ist Russland jetzt in der Lage, ziemlich viel Geld für den Militärsektor auszugeben. Paradox ist dabei, dass diese Finanzmittel entweder dazu eingesetzt werden können, um das heutige, auseinanderfallende Militärsystem noch für zwei, drei Jahre am Leben zu erhalten - so lange die Erdöl-Preise noch hoch sind. Aber dieses Geld ließe sich auch für außerordentlich schmerzhafte Reformen ausgeben, die allerdings - so ist die Realität - keinerlei politischen Effekt hervorrufen und die auf gar keinen Fall Putins Autorität in diesem Land heben würden. Doch nur solche schmerzhaften Maßnahmen versprechen in der Perspektive für das russische Streitkräfte-System eine Umwandlung in zivilisiertere Strukturen als dies jetzt der Fall ist."
Einstweilen aber prägen das Bild der russischen Streitkräfte eher Aussagen wie diese, aufgenommen bei einer Fernsehreportage aus einem Militär-Hospital in Nishnyj-Nowgorod. Opfer eines hypertrophen Apparates, der die eigenen Kinder zu verschlingen droht, und zwar nicht nur physisch sondern auch seelisch - vor zehn, fünfzehn Jahren schon nannte man es "Afghanistan-Syndrom", heute leiden die Opfer am "Tschetschenien-Syndrom"... Oder in den Worten des Militärarztes Musatov:
"Stellen Sie sich vor: da sitzen bei uns ungefähr dreißig junge Burschen in einer Halle. Der Fernseher ist tot. - Polstersessel, ein Sofa, gedämpftes Licht - und diese Jungs? Sie schweigen, sind still, sind wie stumm. Verstehen Sie? Wie ist das zu begreifen? - Überall, wo sich sonst 30 junge Leute treffen ist doch fröhlicher Lärm, Lachen ... das sind doch Jungs, 18, 19 Jahre alt... aber alle schweigen, verstehen Sie? Alle schweigen..."
Freunde, heißt es in dem Lied des populären Sängers Trofim, Vorgesetzte, ich hab' einfach kein Glück. Das wievielte Jahr streune ich hier mit meinem Gewehr schon herum... Aber da lässt sich nichts machen, so ist eben unser unerbittliches Handwerk. Im Gleichschritt - Marsch: aty-baty, aty-baty... Afghanistan, Moldawien und jetzt Tschetschenien. Meine Frau ist weg. Nicht ihre Schuld. Kein Wunder, denn ein Familienleben hatten wir nie. Aty-baty, aty-baty... Karriere, Orden? Schultersterne auf die linke Tour? Nicht dafür war ich in der Armee. Meinen Hauptmannsrang hab ich mir ehrlich erdient. Aty-baty, Aty-baty... Russland hat für uns nichts übrig, weder Ruhm noch Geld - wir aber sind ihre letzten Soldaten und müssen deshalb durchhalten bis wir halt sterben. - Im Gleichschritt - marsch, aty-baty, aty-baty...