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"Wir konnten uns nicht mehr ernähren"

Nur acht sachliche Sätze benötigte die schon 64-Jährige Dichterin, um dem lebenslangen Freund in Görlitz mitzuteilen, dass sie ein neues Leben beginnen musste. Am selben Tag war sie über den Badischen Bahnhof in Basel in die Schweiz eingereist. Bei der Polizei meldete sie sich erst sieben Monate später. Dem Juristen und lebenslangen Freund Friedrich Andreas Meyer aber schrieb Else Lasker-Schüler noch an jenem 19. April 1933 nach der Weiterreise: "Ich bin in Zürich." Sie erkundigte sich nach Frau und Kindern, formulierte den Wunsch: "Ich will später nach Jerusalem" und gab als lapidaren Grund für Ihre Reise an: "Wir konnten uns nicht mehr ernähren." So einfach allerdings war die Sache nicht.

gelesen von Stephan Koldehoff | 13.08.2008
    In ihrer Lebensbeschreibung von 2004 berichtet Lasker-Schülers akribische Biografin Sigrid Bauschinger von tätlichen Übergriffen, derer sich die jüdische Dichterin in Berlin kurz zuvor hatte erwehren müssen. Eine Augenzeugin habe beobachtet, wie jugendliche Nazirowdys Lasker-Schüler vor ihrem Hotel aufgelauert und sie angegriffen hätten. Lasker-Schüler selbst schrieb später ihrem Freund Emil Raas, sie sei in Berlin überfallen worden, habe sich fast ein Stück der Zunge abgebissen und sei genäht worden. Ein gezeichnetes Selbstbildnis trägt die Unterschrift "gezeichnet im Hospital (1933) wegen Verletzung der Naci". Noch fünf Monate zuvor war der Dichterin für den "überzeitlichen Wert ihrer Verse, der den ewiggültigen Schöpfungen unserer größten deutschen Meister ebenbürtig ist”, so die Begründung, der Kleistpreis verliehen worden.

    Der 'Völkische Beobachter' kommentierte die Entscheidung allerdings schon unter der Überschrift "Die Tochter eines Beduinenscheichs erhielt den Kleistpreis”. Und Else Lasker-Schüler, die laut Gottfried Benn "größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte", ahnte, dass es Zeit war, dieses Deutschland zu verlassen. Sie kehrte nicht wieder zurück.

    Die sachliche Postkarte an Friedrich Andreas Mayer mit Poststempel vom ersten Tag des Exils ist Else Lasker-Schülers erstes Briefzeugnis nach dem Verlust der Heimat. Die wenigen Sätze bilden nun den Auftakt zu einem vorbildlich edierten Briefband, mit dem die seit 1996 erscheinende Lasker-Schüler-Werkausgabe in eine entscheidende neue Phase tritt: Aus der durchaus erfolgreichen Dichterin ist nun eine Exilantin geworden. Das Sein aber bestimmte gerade bei ihr nachhaltig das Bewusstsein. Die Briefe der Else Lasker-Schüler sind deshalb ein unverzichtbares Bindeglied zwischen ihrem Leben und ihrem Werk.

    In den vergangenen zwölf Jahren sind im Jüdischen Verlag bereits drei Doppel- und zwei Einzelbände mit den Gedichten, den Dramen und den Prosatexten von Else Lasker-Schüler sowie die ersten beiden Briefbände erschienen. Gemeinsam zählen sie zu den bedeutendsten Editionsprojekten, an die sich Literaturwissenschaftler und Verlage nach dem Krieg herangewagt haben. Abgesehen davon, dass vorher höchstens 60 Prozent aller Lasker-Schüler-Texte überhaupt veröffentlicht waren, haderten die Germanisten mit der philologischen Qualität der verfügbaren Editionen seit langem.

    Diese Ausgaben waren vor allem vom verdienstvollen Bemühen des Kösel-Verlags geprägt, nach dem Krieg die Texte der damals weitgehend Unbekannten überhaupt wieder einem größeren Lesepublikum zugänglich zu machen. Dabei unterlief eine Reihe gravierender Fehler: Texte wurden teils nach der spätesten, teils nach der frühesten Fassung abgedruckt. Varianten blieben unberücksichtigt. Die Reihenfolge war weder eine streng chronologische, noch bot sie das nach den Widmungen Zusammengehörige auch aufeinanderfolgend dar.

    Das galt auch für die vorher nur zweibändige Briefausgabe. Sie beinhaltete Fehllesungen und ließ erhebliche Flüchtigkeiten bei der Übertragung von der Handschrift zur Druckschrift erkennen. Viele Briefe oder Briefpassagen fehlten ganz. Die Herausgeberin, Margarethe Kupper, hatte offensichtlich nach eigenem Ermessen gekürzt, und längst nicht alles war zugänglich. Die Arbeit, die Ulrike Marquardt, Sigrid Bauschinger und Karl Jürgen Skrodzki als Herausgeber der neuen Briefe-Bände bisher geleistet haben, ist vor diesem Hintergrund kaum hoch genug zu bewerten. Else Lasker-Schüler schrieb nicht selten mehrere Briefe und Poskarten an einem Tag: Ihre Nichte in Deutschland informierte sie fast täglich über ihr Bemühen, Geld für sich selbst, aber auch für die Verwandten in Berlin aufzutreiben. Dichterkollegen wie Thomas Mann, Anwälte, Verleger und Theaterintendanten bat sie um Unterstützung durch Abdrucke ihrer Lyrik und Aufführungen ihrer Dramen. Sie versuchte damit, jene poetische Welt mühsam aufrechtzuerhalten, in der sie als "Prinz Jussuf" oder als "Tino von Bagdad" über ein Märchenreich herrschte.

    Nur engen Freunden und Verwandten berichtete sie auch über ihre wahren Gefühle. Diese Briefe nicht nur zu lokalisieren, sondern in ihrer palimpsestartigen Handschrift auch zu entziffern, war sicher allein schon eine Herkulesaufgabe.

    Der dritte Briefband, der erste aus dem Exil, eröffnet ein Universum. Er beschreibt in deren eigenen Worten, wie eine Dichterin ihre Heimat und sich selbst verliert, weil ihre Dichtkunst nicht mehr anerkannt wird und sie davon nicht mehr leben darf. Und wie sie es trotzdem schafft, ihre Würde zu behalten. "Bin heute wieder überall gewesen", "Ich bin nur sehr traurig und kann mich nicht auch nur etwas freuen", "Besitze keinen Groschen mehr", "Schon ganz ermüdet, auch war ich krank gewesen. Nur nicht den Mut verlieren", "Habe schweren Winter in jeder Beziehung" - es sind unzählige Analogien zu Lasker-Schülers berühmtem Exil-Gedicht "Die Verscheuchte", die sich in ihren Postkarten und Briefen finden. Viele von ihnen schrieb die Dichterin auf dem Postamt Fraumünster - weil es dort wärmer war als im evangelischen Hospiz Augustiner-Hof, in dem die Jüdin die ersten Nächte nach ihrer Flucht verbrachte. Gelegentlich scheint sie auch von dort geflohen zu sein, um auf Parkbänken am See zu übernachten. Später übernahm die jüdische Gemeinde ihre Miete, während Else Lasker-Schüler ihr weniges Geld an Verwandte in Berlin schicket, um deren Wohnung zu bezahlen. Den Literaturkritiker Marcel Brion bittet sie um Vortragsmöglichkeiten: "Das kleinste Honorar dafür einverstanden!".

    Am 15. November 1933, sieben Monate nach ihrer Ankunft in der Schweiz, muss Else Lasker-Schüler die "Fremdenpolizeiliche Weisung" der Stadt Zürich unterschreiben: "Ich nehme davon Kenntnis, dass mir, trotz Einreichung eines Gesuches um Bewilligung der Erwerbstätigkeit als Dichterin diese Erwerbstätigkeit wie überhaupt jeder Stellenantritt und jede Erwerbstätigkeit bis auf weiteres verboten bleiben." Detektive der Fremdenpolizei überwachen die alte Frau fortan. Sie darf nichtr mehr schreiben.

    Die Exil-Briefe Else Lasker-Schülers sind, über die ihnen eigene poetische Kraft hinaus, durch den ausführlichen Anmerkungssapparat auch ein unvergleichliches und unmittelbares Zeitdokument. Sie beschreiben auch die ersten Reisen nach Palästina. "Dass ich solche Abenteuer bestehe, wundert mich selbst", schreibt Else Lasker-Schüler im April 1934 an ihre Nichte, "War 2 Tage 2 Nächte in einer Steinwüste." Von ihrer dritten Palästina-Reise kann sie 1939 durch den Kriegsausbruch in Europa nicht in die Schweiz zurückkehren. Völlig verarmt stirbt Else Lasker-Schüler am Morgen des 22. Januar 1945 im Jerusalemer Hadassa-Krankenhaus. Ihr Grabstein wurde 1967 auf der arabischen Seite des Ölbergs wiedergefunden. Über den ehemaligen Friedhof wurde nach der Teilung Jerusalems eine Schnellstraße gebaut.