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"Wir müssen mehr dafür tun, dass unser Bildungssystem gerechter wird"

"Bildung in der Demokratie" - so lautet das Motto eines Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften in Mainz. Einer der Redner, der Direktor des Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Eckhard Klieme, sind darin eine Grundvoraussetzung für die Gesellschaft.

Eckhard Klieme im Gespräch mit Jörg Biesler | 16.03.2010
    Jörg Biesler: Die größte deutschsprachige Bildungskonferenz tagt gerade in Mainz. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hat eingeladen unter dem Motto: Bildung in der Demokratie. Einer der Redner ist der Chef des deutschen PISA-Konsortiums, Eckhard Klieme, Professor für Erziehungswissenschaften in Frankfurt und Direktor des Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. Guten Tag, Herr Klieme!

    Eckhard Klieme: Guten Tag!

    Biesler: Sie haben ja nun einen internationalen Überblick - was ist denn das Besondere an der Bildung in der Demokratie? Da entsteht ja der Eindruck, mit diesem Titel werde von der Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft eine These formuliert. Bildung in der Demokratie - was kann die Schule dafür tun?

    Klieme: Das bedeutet, dass Bildung die Voraussetzung dafür schaffen muss, dass Menschen überhaupt in der Lage sind, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Das heißt, die Bildung schafft die Kompetenzen, aber auch die Einstellungen, die Wertvorstellungen, die wichtig sind, um sich im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft zu engagieren. Schule selbst oder Bildungseinrichtungen selbst müssen aber auch demokratisch verfasst sein, das heißt, sie müssen die Erfahrung einerseits von Achtung und Toleranz - das ist ja im Moment ein sehr aktuelles Thema -, aber auch die Erfahrung von Partizipation ermöglichen.

    Biesler: Wenn man jetzt mal ganz konkret in die Schulen guckt, dann hat man ja eher das Gefühl - jedenfalls wird die Diskussion darüber geführt -, dass es eigentlich immer stärkere Konkurrenzsituationen gibt, dass solche hehren Dinge wie Gemeinwesen, Gemeinnutz im Bildungssystem mehr und mehr dem Kommerz, der Karriere des Einzelnen und der Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden. Manche würden vielleicht nicht mal von einem Opfer reden, weil sie denken, das ist das, worauf es auch ankommt, um wettbewerbsfähig zu sein. Lässt sich das irgendwie in der Schule übereinbringen, dass wir auf der einen Seite natürlich qualifizierte Absolventen brauchen, die dann auch mit einem Studium sich weiterbilden und auch international konkurrenzfähig sind, aber dass wir auf der anderen Seite ja natürlich auch eine Gesellschaft sind, die darauf basiert, dass wir alle füreinander arbeiten?

    Klieme: Das ist richtig. Die Spannung, die Sie formulieren in Ihrer Frage, die ist grundlegend für alle pädagogischen Prozesse, dass man einerseits das Individuum in seiner Entfaltung fördern will - das ist ja letztendlich der Bildungsprozess - und dass man andererseits auch die Schule hat, um sozusagen einen Standardsatz von Wissensinhalten, von Kompetenzen zu vermitteln, die alle brauchen, um sich bewähren zu können im Beruf und in der Gesellschaft. Ich denke, wir haben in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine Menge Nachholbedarf gehabt, was die öffentliche Kontrolle der Ergebnisse und der Prozesse anbelangt und auch das Sicherstellen von Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit in dem, was vermittelt wird und auch wie es bewertet wird. Und mit anderen Worten: Das, was wir jetzt haben an Vergleichsarbeiten etwa in Schulen, an Einführung von Zentralabitur, Schulinspektionen et cetera, ist für mich erst mal ein Beitrag zur demokratischen Schule, weil es mehr Transparenz herstellt und eine öffentliche Diskussion darüber, was Schule macht, auch was sie vielleicht an Problemen bewirkt, was sie an Erfolgen bewirkt, ermöglicht. Das dürfen wir nicht aufgeben, diese Modernisierung, aber die Kritik, dass vielleicht zu viel geprüft, zu viel standardisiert wird, muss man auch ernst nehmen. Wir haben hier auf dem Kongress einige Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, dass der befürchtete negative Effekt der neuen Steuerung, wie man so sagt, das heißt, dass Unterricht eingeengt wird, dass nur noch gepaukt wird, dass nicht mehr individuell auf Schüler eingegangen wird, dass der sich nicht einstellt. Im Gegenteil: In Ländern, die Zentralabitur eingeführt haben, gibt es sogar Hinweise, dass der Unterricht dort ein bisschen interessanter wird für die Schüler.

    Biesler: Vielfach ist ja auch die Kritik, dass eine erfolgreiche Bildungskarriere in ganz geringem Umfang sozusagen nur von der Qualität der Schule abhängt, aber doch in sehr großem Umfang vom sozialen Umfeld, also von der Herkunft der Eltern, von dem, was die Eltern den Kindern schon vermitteln können, das ist ja auch eine Gefahr für die Demokratie. Muss denn da in Deutschland noch viel passieren, um das auszugleichen, um es gerechter zu machen für alle?

    Klieme: Da muss in der Tat viel passieren. Wir wissen ja, dass nach wie vor Deutschland eines der Länder ist, die die engste Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen haben. Das wird erzeugt durch die vielen Nahtstellen, an denen Eltern Entscheidungen fällen müssen über den Bildungsgang ihrer Kinder. Und da tun sich Eltern aus sogenannten bildungsfernen Schichten weniger leicht, anspruchsvollere und vielleicht auch schwierigere Bildungsgänge zu wählen. Wir müssen in Deutschland mehr dafür tun, dass unser Bildungssystem gerechter wird durch individuelle Förderung, durch eine gerechte Verteilung von Chancen gerade an diesen Übergängen, wenn es sie denn schon gibt, und durch Flexibilisierung der Bildung. Dass jemand, der nicht zum Beispiel nach der Grundschule unmittelbar auf ein Gymnasium geht, trotzdem viele Möglichkeiten erhält, und zwar dann auch realistische Möglichkeiten. Und davon sind wir weit entfernt noch, zu einem Abitur und zu einem Studium zu kommen. Wir müssen als Wissenschaftler sagen, die wir hier in Mainz zusammensitzen, dass wir keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber haben, was die optimale Schulstruktur ist. Dazu fehlen einfach Vergleichsdaten. Eine solche Frage ist sagen wir ein Großexperiment, das immer viel Unsicherheiten mit sich bringt. Das ist ein gesellschaftlicher Prozess, den die Politik verantworten muss. Wir als Wissenschaftler können nur sagen, wir haben ein Problem mit der Gerechtigkeit von Bildungschancen in Deutschland, und wir müssen vielleicht strukturell, vor allem aber in den pädagogischen Prozessen in den Schulen dafür sorgen, dass Schule offener wird für alle Schichten.

    Biesler: Eckhard Klieme, Professor für Erziehungswissenschaften in Frankfurt, Direktor des Instituts für Internationale Pädagogische Forschung und Chef des deutschen PISA-Konsortiums über Bildung in der Demokratie. Vielen Dank!

    Klieme: Ja, vielen Dank auch!