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"Wir sind ein Team, aber ich bin der Boss"

Johan Söderholm ist Kapitän der "Viscaria". Der 6000 PS starke Eisbrecher sorgt dafür, dass Luleå im Winter von Schiffen erreicht werden kann. Denn ein normales Schiff kommt aus eigener Kraft nicht in den vereisten Hafen hinein.

Von Simonetta Dibbern | 23.02.2013
    Es ist gar nicht so kalt an diesem Wintertag. Minus 10 Grad. Am späten Vormittag steht die Sonne tief am Horizont, wirft lange Schatten und taucht die Silhouette der Stadt in ein fahles Licht. Der Kirchturm aus rotem Backstein, eingerahmt von hohen Kränen. Einzelne Hochhäuser, die Brücke über den Fluss. Luleå liegt auf einer Halbinsel. Ihren Namen hat die Stadt von dem Fluß Lule älv, der breite Strom aus dem schwedisch-lappländischen Gebirge mündet hier in die Ostsee. Im Winter jedoch verkriecht sich die Strömung unter das Eis: die weite Bucht ist zugefroren. Die Eisdecke so dick, dass Spaziergänger, Schlitten- und Schlittschuhfahrer sich sicher darauf bewegen können. Sogar Autos fahren über die weiße Fläche.

    "This is a nice view, it’s clean, I like it."

    Von seinem Arbeitsplatz aus hat Johan Söderholm einen fantastischen Ausblick. Auf die Stadt. Auf die verschneiten Hügel ringsum, die im Sommer Schäreninseln sind. Johan Söderholm steht auf der Brücke der Viscaria. Ein starkes Schiff: 6000 PS.

    "The strength that’s very nice as well. You can feel the power of the ship, that’s good."

    Sein bulliges Schiff ist kein normales Schiff. Es ist ein Eisbrecher, einer von vieren, die in Luleå liegen. Die anderen, größeren, fahren hinaus aufs Meer, für den Hafen ist sie zuständig: die Viscaria. Im Winter sind zwar nicht sehr viele Schiffe auf ihre Hilfe angewiesen, etwa ein bis zwei pro Tag. Doch kein normales Schiff kommt mit eigener Kraft in den vereisten Hafen hinein. Oder wieder heraus. Auch nicht der mächtige Tanker Beatrix, ein graurotes Ungetüm, das festgefroren an der Kaimauer liegt.

    Bevor er losfährt, meldet er sich beim Hafenamt – auf englisch.

    "Die ausländischen Schiffe müssen uns ja auch verstehen können. Meistens sind es deutsche oder niederländische, deren Kapitäne sprechen ja nicht alle schwedisch."
    "So – now we are on the way!"

    Und dann gibt er Gas – per Joystick. Zu bedienen mit 2 Fingern. So werden die großen Schiffe heutzutage gelenkt, sagt der Käptn, alles elektronisch. Er schiebt den winzigen Hebel zwischen Daumen und Zeigefinger um eine Nuance nach vorne, wirft einen Kontrollblick auf den Monitor unter der Decke. Und sieht wieder geradeaus, durch das große Panoramafenster auf die unendliche weiße Weite.

    Mitte 30 ist er, ein freundliches rundes Gesicht, eingerahmt von einem akkurat geschnittenen Bart. Schwarzer Rollkragenpullover, Hausschuhe. Er ist hier geboren, in Luleå. Doch ein guter Kapitän kommt viel herum. Zuletzt war er 4 Jahre lang in schwerer See unterwegs, im Nordatlantik vor der norwegischen Küste, als Kapitän auf einem Versorgungsschiff für die Ölplattformen. Dort waren die Wellen höher, sagt er lachend. Dies ist sein erster Winter auf der Viscaria.

    "Sie haben mich gefragt, ich brauchte mich gar nicht zu bewerben, denn es ist ziemlich schwierig hier oben, Leute mit Erfahrung zu finden, Erfahrung mit Seegang und mit so großen Schiffen. Ich hatte Glück: denn ich hatte die richtige Ausbildung und genügend Erfahrung. Einen Monat lang bin ich mitgefahren auf der Viscaria, um zu lernen, wie sie reagiert. Denn manche Situationen sind speziell, bei diesem Job, dann braucht man Tipps.
    Aber die anderen aus meiner Crew sind schon lange hier, die kennen sich aus."

    Sie sind zu dritt an Bord. Immer für eine Woche – von Mittwoch bis Mittwoch, 24 Stunden im Dienst. Oder zumindest auf Abruf.

    "I bring some coffee."

    Einer kommt gerade die Treppe herauf. Staffan, der Bootsmann. Dicke Stiefel, wattiertes Ölzeug, ein Headset über der Mütze: Kopfhörer und Mikrofon. Und in der Hand: ein Tablett.

    "And I bring some milk too, because I know he wants milk."

    Kaffee und Milch für den Käptn. Und ein paar Kekse für den Besuch. Staffan ist der Mann fürs Grobe, deshalb ist er so warm eingepackt. Doch heute, sagt er, ist es gar nicht so kalt.

    "Staffan ist meine rechte Hand, draußen an Deck, denn ich kann hier nicht weg. Dann gibt es noch Jan, den Ingenieur, er ist zuständig für den Motor und alle Maschinen. Und mich als Steuermann. Also: Drei Leute an Bord."

    "We are a team but I am the boss."

    Johan ist der Chef. Schließlich trägt er die Verantwortung. Er nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Erzählt noch, dass sie eine Sauna an Bord haben. Dafür leider keinen Koch. Und dann legt er noch einen Zahn zu.

    "Jetzt fahren wir volle Kraft mit dem Motor. Man kann hören, wie die Schraube das Eis aufbricht – aber dafür ist sie ja auch gemacht!"


    Die wuchtige Viscaria schiebt sich vorwärts, durch das Eis hindurch. Hinterlässt eine Schneise aus Schollen. Langsam dreht Johan einen Bogen, fährt im Kreis, dreht Runde um Runde, um soviel Eisfläche aufzubrechen, dass der große Tanker Beatrix hier gleich wenden kann. Das Eis ist etwa einen halben Meter dick, die Viscaria kann bis zu einem Meter Eis aufbrechen, bei einer Geschwindigkeit von 2 Knoten pro Stunde. Allein durch ihr Gewicht und die Stärke des Motors. Durchschnittsverbrauch: 500 Liter Diesel pro Stunde.

    "Je nach Temperatur und Dicke des Eises können es auch schonmal 1000 Liter sein. Bei diesen Temperaturen friert nur die Oberfläche zu, doch auch die muss aufgebrochen werden, sonst bleibt man stecken."

    Das Problem, sagt Johan, ist, dass die Eisschicht im Laufe des Winters immer dicker wird. Vor gerade einmal vier Stunden war er mit der Viscaria in der Bucht unterwegs, jetzt ist das Eis schon wieder zugefroren. Und nach jedem Eisbrechen schieben sich die Eisschollen aufs Neue ineinander. Frieren zusammen. Und werden dadurch manchmal bis zu vier Metern dick. Dass das Eis wächst, hier am nördlichen Rand der Ostsee, liegt auch an den Containerschiffen, die weiter südlich unterwegs sind: der Schiffsverkehr schiebt bis zum Frühjahr immer mehr Eismassen Richtung Norden.

    Eins der drei Funktelefone. Es ist der Lotse, der schon an Bord ist, auf dem Tanker Beatrix. Er meldet auf schwedisch, dass der niederländische Kapitän versuchen will, aus eigener Kraft den Hafen zu verlassen. Also auf die weitere Hilfe der Viscaria verzichtet. Johan vermutet, dass er einfach Geld sparen will. Oder seine Reederei.

    "Die müssen uns natürlich bezahlen. Nicht für das Eisbrechen, das gehört zum Service. Aber ein Schiff in dieser Größe rauszuziehen – das kostet ungefähr 50.000 Schwedische Kronen, also rund 5.000 Euro. Aber jeder Kapitän kann das frei entscheiden, denn er hat die Verantwortung. Wir bleiben mal in der Nähe."

    Vorsichtig nähert sich die Viscaria dem großen Frachter, damit der überhaupt loskommt. Die Beatrix, auch im Schwedischen sind Schiffe weiblich. 2 Tage hat sie am Kai gelegen – mit Kalkstein an Bord. Die Chemikalie wird für die Stahlproduktion benötigt. Jetzt ist das Schiff leer, mal sehen, ob sie rauskommt, sagt Johan. Und fährt noch etwas dichter ran, um sie – im wahrsten Sinne des Wortes: loszueisen.

    "Im Hafen von Luleå wird hauptsächlich Schüttgut umgeschlagen, schweres Massengut wie Stahl, Eisenerz, Kohle und Öl. Container haben wir nicht, die werden weiter südlich abgefertigt, in Piteå. Doch was das Umschlagsgewicht angeht, ist dies der drittgrößte Hafen von Schweden.
    Dies ist der Ölhafen."

    Insgesamt sind es vier Terminals, hintereinander gelegen an einer kilometerlangen Kaimauer. Kleine und größere Kräne, schwere Lastwagen fahren hin und her, dahinter Tanks und rauchende Schornsteine. Mit der Verarbeitung von Rohstoffen ist Luleå in den letzten hundert Jahren gewachsen und reich geworden. Bodenschätze, die im Inland der Region Norbotten gefördert werden: an erster Stelle Eisenerz aus den Bergbauminen von Kiruna und Malmberget, das in Güterzügen an die Küste transportiert und hier nicht nur verladen, sondern zunehmend auch weiterverarbeitet wird. So entwickelte Luleå sich zu einem Zentrum der Metallverarbeitung und vor allem der Stahlindustrie.

    Die Bewohner von Luleå profitieren von den riesigen Fabriken, nicht nur indirekt über Steuereinnahmen und Investitionen. Sondern auch durch eine gute Infrastruktur. Und ganz direkt vor allem im Winter: Denn die Hitze, die bei der Stahlverarbeitung entsteht, wird per Fernwärmenetz an die lokalen Haushalte abgegeben. Sodass die Heizkosten in Luleå die niedrigsten in ganz Schweden sind, die Einwohner zahlen die Hälfte des schwedischen Durchschnitts.

    Manche der weißgrauen Haufen schwelen im Winterlicht vor sich hin. Die Eisenerzpellets müssen gut abkühlen, bevor sie verladen werden, sagt Johan.

    "Dies ist das Industriegebiet von Luleå, grün ist es hier auch im Sommer nicht. Wir werden sehen, wie lange es die Stahl- und Eisenindustrie noch geben wird, bis sich hier nur noch IT-Unternehmen ansiedeln."

    Das Industriegebiet in Luleå wird weiter wachsen, denn erst vor wenigen Jahren ist am Polarkreis ein regelrechter Rohstoffboom ausgebrochen. Wird nach Kupfer und Gold, Nickel und Uran gegraben. Doch, und darauf spielt Johan Söderholm an, während er die Viscaria wieder an ihren Anlegeplatz zurückmanövriert, mit einer kleinen Bewegung von Daumen und Zeigefinder: Luleå wird in diesem Jahrhundert eine neue Richtung einschlagen. Und seine geografischen und klimatischen Bedingungen zum Standortvorteil ausbauen.

    Denn die Minustemperaturen verwandeln nicht nur den Bottnischen Meerbusen in eine weiß glitzernde Eislandschaft. Sie bieten auch optimale Bedingungen für alles, was Kühlung braucht, Daten und Server zum Beispiel.
    Ein im Hafen von Luleå festgefrorener Chemietanker
    Ein im Hafen von Luleå festgefrorener Chemietanker (Simonetta Dibbern)
    Der alte Kran am Hafen ist ein Wahrzeichen von Luleå
    Der alte Kran am Hafen ist ein Wahrzeichen von Luleå (Simonetta Dibbern)