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Wir sind noch einmal davongekommen

Fast das gesamte 20. Jahrhundert hat Hans Sahl miterlebt, darunter zwei Weltkriege, wechselnde politische Systeme und kulturelle Epochen - sowie Leben im Exil und Rückkehr in die Heimat. Als er 1993 90-jährig starb, ging mit ihm ein Stück deutscher Geschichte. Doch etwas bleibt: das Werk des bedeutenden Vertreters der deutschen Exilliteratur, das jetzt neu ediert wird. Den Anfang machen die beiden Erinnerungswerke "Memoiren eines Moralisten" und "Das Exil im Exil".

Von Michaela Schmitz | 27.04.2008
    Hans Sahl gehört zum Jahrgang 1902. Sohn einer großbürgerlich-jüdischen Kaufmannsfamilie. Als er fünf Jahre alt ist, ziehen sie von Dresden nach Berlin. In eine Straße ohne Fuhrwerke, erinnert sich Hans Sahl. Moderne Automobile tauchten damals erst vereinzelt im Stadtbild auf.

    Hier am Savignyplatz sei er zur Schule gegangen, sagt er zu Thornton Wilder, als sie sich 1956 in Berlin treffen. Ein Menschenalter nach seiner Schulzeit, Sahl deutet auf ein Haus gegenüber, sei hier in einem Hausflur sein Freund George Grosz gestorben. Vier Wochen vorher habe er den Maler noch in New York an der Reling der "Hanseatic" verabschiedet.

    "Hier haben Sie also angefangen, Englisch zu lernen", sagte Thornton Wilder. "Und jetzt übersetzen Sie meine Stücke und schreiben Bücher und zeigen mir Ihre Schule. Dazwischen gab es zwei Weltkriege, mehrere Revolutionen, Millionen Tote. Nicht zu vergessen Ihre Flucht aus Berlin und aus dem besetzten Frankreich nach Amerika. How do you feel about it?"
    "Wir sind noch einmal davongekommen", sagte ich."


    Hans Sahl gehört zur Generation zwischen den Kriegen. Als Zwölfjähriger steht er mit seinem Vater vor dem Königlichen Schloss, als der Kaiser 1914 den Ersten Weltkrieg für eröffnet erklärt. Vier Jahre später hört er Scheidemann auf den Stufen des Alten Museums die Republik ausrufen. Er studiert in München, Leipzig, Breslau und Berlin Kunst- und Literaturgeschichte und Philosophie. Nach der Promotion möchte der junge Dr. Sahl Journalist werden. Schon lange vorher hatte er begonnen zu schreiben. Warum? Hans Sahl selbst sagt in einem Gespräch aus dem Jahr 1991 dazu:

    ""Ich kam zum Schreiben, weil ich mehr wissen wollte über den Menschen, auch über die Zeit, in der ich lebte. Und ich wollte auch die Zeit formulieren und die Beziehung des Menschen zu seiner Zeit (…) formulieren. Und diese Neugier auf die Zeit war eine Neugier auf den Menschen, und die hab ich versucht, auch zu retten, auch durch die Länder, die ich bereisen musste."

    Stefan Grossmann, Herausgeber des "Montag Morgen", gibt Hans Sahl seine erste Chance. Er soll über Reichspräsident Hindenburgs Gang zur Wahlurne eine Glosse schreiben. Eine Glosse, gibt der gestandene Publizist ihm mit auf den Weg, "ist, wenn man nicht weiß, was man schreiben soll, und trotzdem etwas zu Papier bringt". Vor lauter Aufregung verpasst Sahl den Auftritt des Reichspräsidenten. Die Schlagzeile "Hindenburg wählt. Ein regnerischer Vormittag" ist das Einzige, was ihm bis Redaktionsschluss dazu einfällt. Weiter kommt er nicht.

    Bei dieser einen Zeile wird es nicht bleiben. Innerhalb weniger Jahre erwirbt sich Hans Sahl einen Namen als Kulturjournalist - und das in einer der kulturell aufregendsten Epochen Berlins. Für den "Montag Morgen" schreibt er regelmäßig Theater- und Filmkritiken. Seine Besprechungen der damals noch jungen Filmkunst fallen auf. Hans Sahl ist gerade 28 Jahre alt, als sich Asta Nielsen bei ihm am Telefon meldet. Die Duse des Stummfilms hat seine Artikel gelesen. Sie möchte ihn kennenlernen. Auch der Theaterkritiker Herbert Ihering, Gegenspieler von Alfred Kerr, wird auf Hans Sahl aufmerksam. Der Feuilletonchef des "Börsen-Courier" bietet ihm eine Mitarbeit als Buchkritiker an.

    "Die Iherings liebten es, am Sonntagnachmittag Gäste in ihr Haus in Zehlendorf einzuladen. (…) Nun waren Fritz Walter und ich (…) an der Reihe. (…) als wir die Terrasse (…) erreicht hatten, stellte uns Frau Ihering den Gästen vor. "Lotte Lenya", sagte Frau Ihering. "Sehr angenehm", sagten wir beide im Chor. Dabei stieß ich aus Verlegenheit ein Glas auf dem Tisch um. "Kurt Weill", sagte Frau Ihering. "Sehr angenehm", sagten wir; und so ging es weiter (…) von Erwin Piscator bis zu Helene Weigel, von Fritz Kortner bis zu Ernst Busch und Gustaf Gründgens. Man reichte mir ein Glas, es war aber kein Stuhl mehr da, und als ich um die Ecke bog, um mir einen zu holen, sah ich zwei Mülleimer, auf denen zwei Männer saßen und die Beine baumeln ließen. "Brecht", sagte der eine, "Bronnen", sagte der andere. Da ergriff ich die Flucht."

    Erst nach dem Abendessen verlässt Sahl die Elite des deutschen Theaters. Er kommt mit Regisseur Erwin Piscator ins Gespräch. Auf dem Vorderperron der Straßenbahn schreien sie gegen den Fahrtwind an. Vielleicht, so Sahl, habe ihre nachfolgende intensive Freundschaft auch deshalb über das Exil, lange Unterbrechungen und Kontinente hinweg Bestand gehabt. Piscator und Reinhardt prägen die beiden gegenläufigen Bewegungen des deutschen Theaters in den 20er Jahren. Ein letztes Mal, so Hans Sahl, feiert hier das Weltanschauungstheater seine Auferstehung. Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann vertreten die klassische, bürgerliche, unpolitische Bühnenkunst. Bertolt Brecht und Erwin Piscator stehen für das moderne, antibürgerliche, revolutionäre Theater. Paradoxerweise, kommentiert Sahl ironisch, ging der gebildete Arbeiter am Abend in die Aufführungen Max Reinhardts. Hier konnte er sich vom Klassenbewusstsein erholen. Dem aufgeklärten Bürger dagegen bereitete es ein perverses Vergnügen, bei Piscator seinen eigenen Untergang zu beklatschen.

    Hans Sahl ist jung. Er liebt das Theater, den Film und die Literatur, und er ist politisch engagiert. Berlin ist seine Stadt. Hier ein Gedichtauszug vom 1991 schon fast blinden Hans Sahl, frei aus dem Kopf gesprochen über seine …

    "Erinnerung an Berlin

    Da war es Sommer und die Stadt war mein
    Und bot sich an mit heftiger Gebärde
    Wild flatterte mein Haar von Autobusverdecken
    Auf denen rauchend man die Zweige streifte
    Mit törichten Gedanken spielend
    Weltverbesserungsplänen
    (…)"


    Sprecherin - Manuskript:
    Berlin in den 20ern war eine Zeit neuer Ideen und Ideologien. Man musste, erinnert sich Hans Sahl, die letzte Inszenierung von Piscator, Jessner, Reinhardt gesehen, die letzte Kritik von Kerr oder Ihering gelesen haben, musste auf dem Laufenden sein über Konzerte von Furtwängler, Toscanini, Klemperer, über Eisensteins "Potemkin", den "Zauberberg" von Thomas Mann und Hermann Hesses "Steppenwolf". Der junge Hans Sahl war auf dem Laufenden. Atemberaubend schnell lernt der junge Journalist die bedeutendsten Künstler und Journalisten der Zeit kennen. Man trifft sich im Romanischen Café - dem Treffpunkt der Berliner Künstlerszene. Das "Romanische" ist der Ort in Berlin, wo, so Sahl, …

    "(… ) die "Entlanggewehten" sich trafen, die Einhergewehten, (…) die Unbehausten im Geiste, die Maler, Dichter, Denker sowie ihre Nutznießer (…). Im allgemeinen legten die Einhergewehten Wert darauf, unter sich zu bleiben. Es gibt einen Malertisch, einen Bildhauertisch, einen Philosophentisch, einen "Börsen-Courier"-Tisch, einen Tisch der Kritiker, der Dramatiker, der Essayisten (…)."

    Er selbst, berichtet Hans Sahl, habe den Vorzug gehabt, sowohl von Alfred Polgar als auch von Egon Erwin Kisch, von dem immer gut gelaunten Kurt Pinthus genauso wie von den Malern und den Filmleuten zugelassen zu werden. Das galt auch für die Filialen des "Romanischen" in Gestalt von Künstlerkneipen um die Gedächtniskirche. In der "Taverne", schildert Sahl, saßen Maler wie Willy Jaeckel, fertigten aus dem Stanniol der Sektflaschen Wurfgeschosse und schleuderten sie an die Decke, wo sie hängen blieben. Es gab die "Lunte" für Zeitungsleute, "Schwannecke" für Schauspieler und ein kleines Lokal in der Passauer Straße, wo sich Ernst Rowohlt mit seinen Autoren wie Joachim Ringelnatz traf. Der eigenwillige Verleger, so Sahl, pflegte mit Stolz von sich zu sagen: "Ich lese keine Bücher, ich rieche sie nur." Hans Sahl erinnert sich an seine unvergesslichen Begegnungen mit Rowohlt in Kampen auf Sylt:

    "Er war eine rabelaissche Figur, ein Trinker und Esser, von ausschweifendem Witz und ausschweifenden Einfällen. Wir schockierten die Bürger von Kampen dadurch, daß wir uns frischgeräucherte Bücklinge kauften und eine Flasche Korn und auf der Kurpromenade vor den Augen der entsetzten Spaziergänger die Bücklinge in der Luft zerrissen und die Köpfe und Häute verächtlich hinter uns in den Sand warfen. "Es lebe die Anarchie!" rief Rowohlt und schwenkte die Schnapsflasche."

    Für seine Zeitung soll Hans Sahl Sergej Eisenstein interviewen. Er besucht den Regisseur des linksrevolutionären Filmklassikers "Panzerkreuzer Potemkin" in seinem Hotelzimmer. Stolz führt Eisenstein ihm seine Anzüge aus feinstem englischem Stoff, seidene Hemden und andere Luxusartikel aus der kapitalistischen Welt vor. Ein Jahr später treffen sie sich in Paris wieder. Als sich zwischen Eisenstein und der Tänzerin Valeska Gert eine Affäre anbahnt, spielt Hans Sahl den Liebesboten. Von seiner, so Sahl, "kulturellen Mission von beispielhafter Bedeutung" kehrt er abends in das später legendäre Hotel "Helvetia" zurück. Das Studentenhotel und seine Inhaberin Madame Chollet werden in die Geschichte der Exilliteratur eingehen. Autoren wie Alfred Wolfenstein, Johannes R. Becher und Joseph Roth gehörten zu ihren Dauermietern. Auch Hans Sahl wird bei der "guten Frau" Chollet auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Zuflucht suchen.

    Noch kann Hans Sahl publizieren. Schon 1926 hatte er im "Tagebuch" in der Artikelserie "Klassiker der Leihbibliothek" auf wachsende antiaufklärerische Tendenzen in der Unterhaltungsliteratur hingewiesen. Aber 1933 ist der Nationalsozialismus regierungsfähig geworden. Der Druck auf die Journalisten wächst. Die letzte Versammlung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller verlässt Hans Sahl gemeinsam mit Carl von Ossietzky, dem Herausgeber der "Weltbühne":

    "Es war eine kühle Nacht. Ich ging mit Ossietzky zum Halleschen Tor. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Er war krank und hustete. (…) Sein Gesicht (…) war hart und kantig, mit einem mächtigen Kinn, ein Nußknackergesicht. (…) "Sie müssen fliehen", sagte ich. "Warum sind Sie noch hier? Sie sind einer der ersten, die man abholen wird." (…) Wir hatten das Hallesche Tor erreicht. Er blieb plötzlich stehen, sah mich an. "Ich bleibe", sagte er, und ich glaubte, eine Nuß krachen zu hören. "Sollen sie kommen und mich abholen. Ich habe es mir lange überlegt. Ich bleibe.""

    Carl von Ossietzky befand sich in einem deutschen Konzentrationslager, als man ihn in Stockholm mit dem Nobelpreis ehrte. Hans Sahl entscheidet sich zur Flucht. In Prag überrascht er den barfüßigen Max Brod im Nachthemd. Schon früh hatte Sahl in seinen Kritiken auf den damals noch unbekannten Franz Kafka aufmerksam gemacht. Aber in Prag kann er nicht lange bleiben.

    Er flieht weiter nach Zürich. Am Zürcher Schauspielhaus hat Dramaturg Kurt Hirschfeld ein Ensemble aus deutschen Schauspielern zusammengestellt. Hans Sahl liebt den Umgang mit den Bühnenkünstlern. Auch seine Freundin Lotte Goslar trifft dort ein. Die pantomimische Tanzkünstlerin tritt in der von Erika Mann gegründeten "Pfeffermühle" auf. Gerne schreibt Sahl für ihr politisch-literarisches Kabarett. In Erika sieht er das politische Gewissen des Vaters. Dem in Küsnacht residierenden Thomas Mann selbst begegnet Hans Sahl mit kritischem Respekt:

    "Ich wollte Thomas Mann nie kennenlernen (…). Auf der Terrasse von Thomas Manns Haus in Küsnacht war der Kaffeetisch gedeckt. (…) Er sah anders aus, als ich erwartet hatte (…), ging mit festen Schritten auf den Tisch zu, bei aller Sensibilität wirkte sein Gesicht doch eher robust, fleischlich. (…) Es schien mir, als ob Thomas Mann Wert darauf legte, sogar ein Gespräch mit seiner Familie wie eine Buchseite zu komponieren. (…) Thomas Mann hielt Audienz, er erteilte das Wort, er hörte zu, er kommentierte, (…) verteilte die Portionen seiner Liebe gleichmäßig (…). Thomas Mann sprach druckreif. Er brach das Brot der Grammatik über die Seinen und verteilte es huldvoll über die Teller."
    Ohne Schweizer Aufenthaltsgenehmigung ist Hans Sahl gezwungen, zwischen Zürich und Paris hin- und herzupendeln. Dort wohnt er wie schon einmal bei Madame Chollet im Hotel "Helvetia". Er trifft sich mit Walter Mehring und Alfred Wolfenstein im Café de Flore oder geht ins Café de la Post, wo, wie Sahl schreibt, Joseph Roth sich mit Wein, Cognac und Pernod zu Tode trinkt.

    Paris wird für Hans Sahl zum zweiten Exil. Der kommunistisch orientierte Schutzverband Deutscher Schriftsteller will ihn zwingen, eine für Leopold Schwarzschild lebenswichtige Entscheidung mitzutreffen. Der Herausgeber des "Neuen Tagebuches" soll damit politisch vernichtet werden. Aber weder Egon Erwin Kisch oder Manès Sperber noch Anna Seghers - als Kritiker hatte er früh auf die noch unbekannte Seghers hingewiesen - können Hans Sahl überzeugen. Er entscheidet sich gegen die Lebensmittelpakete aus Moskau und für die politische Unabhängigkeit. Gemeinsam mit Autoren wie Alfred Döblin, Walter Mehring, Klaus Mann und Joseph Roth gründet er den antistalinistischen Bund "Freie Presse und Literatur".

    Als 1939 der Krieg ausbricht, werden für die deutschen Flüchtlinge in Paris Sammellager eingerichtet. Direkt aus einem Fußballstadion wird Hans Sahl in ein französisches Internierungslager überführt. Auf dem Transport erkennt er Walter Benjamin mit seinem hinkenden Gang den Zug entlangkommen, …

    "… und wir beschlossen, um jeden Preis zusammenzubleiben. (…) Der Zug hielt. (…) Benjamin (…) hatte inzwischen einen Jünger gefunden, einen jungen Mann, der ihn verehrte und ihm seinen Koffer auf dem Marsch abnahm. Gegen Abend kamen wir bei einem völlig ausgeräumten Schloß an, in dem es nichts, aber auch nichts gab (…). Benjamin hielt philosophische Vorträge im Freien und verlangte drei Gauloises pro Stunde oder einen Nagel oder einen Bleistift. Sein Jünger (…) hatte ihm unter einer Wendeltreppe, durch Vorhängen eines Kartoffelsacks, einen Schlupfwinkel eingerichtet, in den Benjamin sich zurückzog, wenn er nachdenken wollte. Dort fand auch unsere erste Redaktionssitzung statt. (…) Benjamin hatte vor, (…) eine Lagerzeitung (…) vorzuschlagen (…). Wir knieten uns auf den Boden und tranken Soldatenbranntwein aus Fingerhüten. (…)"

    Die erste Nummer dieser Zeitschrift ist jedoch nie erschienen. Sahl kommt frei, wird erneut interniert und flieht schließlich nach Marseille. Dort arbeitet er bei Varian Fry für eine aus den USA finanzierte Fluchthilfeorganisation für Intellektuelle. 1941 verschärft sich die Situation für Flüchtlinge auch in Südfrankreich.

    Sahl kann noch rechtzeitig über Lissabon nach New York entkommen. In der Metropole hält er sich mit Jobs über Wasser, unter anderem mit der Übersetzung von Untertiteln für Filme von Metro-Goldwyn-Mayer. Er trifft alte Bekannte wie Erwin Piscator und Lotte Goslar wieder. Thomas Mann, Franz Werfel, Alfred Döblin und Brecht leben in Kalifornien. Mit ihm kommt es später zum endgültigen Bruch. Aber Sahl lernt auch neue Freunde kennen: Hermann Broch, Erich Maria Remarque und George Grosz. Mit Grosz zieht er regelmäßig durch Manhatten. Im Kino heulen sie wie Schlosshunde bei deutschen Filmen wie "Oberförsters Tochter" oder "Annegret, komm’ auf mein Schloß".

    "Eines Tages bekam ich einen Telephonanruf. "Hier ist Thornton Wilder", sagte die Stimme. (…) "Ich suche einen deutschen Schriftsteller in New York, der mein Stück ’Our Town’ übersetzen kann." (…) Der Anruf kam in einem Augenblick, da ich ihn am dringendsten brauchte."

    Denn mit seinen Einkünften als Kulturkorrespondent, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", die "Welt" oder die "Neue Zürcher Zeitung", kann er kaum die Miete für seine Eineinhalbzimmerwohnung bezahlen. Hans Sahl übersetzt Thornton Wilder und wird Übersetzer von Tennessee Williams und Arthur Miller. Er selbst bleibt schriftstellerisch tätig. In New York entsteht sein Roman "Die Wenigen und die Vielen". Erst im Alter blickt er in seinen beiden Erinnerungsbänden "Memoiren eines Moralisten" und "Das Exil im Exil" auf sein Leben zurück. 1989 zieht es ihn wieder nach Deutschland, wo er im Alter von 90 Jahren in Tübingen stirbt.

    Ein Gedichtauszug von Hans Sahl selbst zwei Jahre vor seinem Tod aus dem Kopf gesprochen:

    "Fußnote

    Ich hab den Schmerz der Welt zur Kenntnis genommen in meinem Gedicht
    Und den eigenen im Gesicht der anderen
    Ich habe Länder bereist (…)
    Und in Häusern gewohnt, die keine Fenster hatten
    Ich habe die Vergangenheit prophezeit
    Und der Zukunft ein Nachwort geschrieben
    Von meinen Träumen ist nur übriggeblieben ihre Unerfüllbarkeit.
    (…)
    Wenn die Zeit kommt, werde ich aufbrechen und meinen Bruder suchen
    Er kann nicht mehr weit sein"


    Wer schon einmal auf den Spuren der 20er und 30er Jahre durch die Straßen von Berlin gezogen ist, für den werden die Erinnerungsbände Hans Sahls eine unerschöpfliche Fundgrube sein. Es ist, als ob Schwarz-Weiß-Erinnerungen im Farbfilm laufen lernen: Lange Vergangenes wird zur erlebten Gegenwart. Legenden wie Brecht bekommen in der Nahaufnahme des Zeitgenossen eine irritierende Präsenz. Institutionen wie das "Romanische Café" werden lebendig durch die liebevolle Zeichnung der Menschen, mit denen sie allererst dazu geworden sind. Hans Sahl setzt dem Terror der Weltkriege seine Liebe zu Menschen entgegen; und er ist im Laufe seines langen Lebens vielen begegnet. Für Sahl gehört es zum "Prinzip Verantwortung", mit seinem Schreiben an diese Menschen zu erinnern: an die, so Sahl, "Kriegselefanten der Literatur und der Kunst ebenso wie das schreibende Fußvolk".


    Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil
    Luchterhand 2008
    512 Seiten, 21,95 Euro