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Wir sind viele

Biologie. - Anfangs, als das Leben gerade entstanden war, lebte es von Unbelebtem. An Höheres war nicht zu denken, denn die Energie reichte gerade fürs Überleben. Doch dann, vor rund zwei Milliarden Jahren tauchten zum ersten mal komplexere Wesen auf.

Von Dagmar Röhrlich |
    Es war einmal ein Ozean, in dem zahllose Cyanobakterien lebten, die nichts anderes taten, als Photosynthese zu betreiben, zu wachsen und Luft und Wasser mit Sauerstoff anzureichern. Starben sie, sanken sie auf den Boden, wo sie einen nahrhaften Teppich bildeten. In diesem Teppich entwickelte sich etwas bis dahin Unbekanntes: Die Gefräßigkeit.

    "Diese Veränderungen vor etwa zwei Milliarden Jahren mögen nur reines Glück gewesen sein, aber deswegen sind wir hier."

    Joe Kirschvink, California Institute of Technology. Es geht um die eukaryontische Zelle, die Zelle mit einem Zellkern und anderen "Orgänchen". Sie bildet den Ast des Lebens, auf dem auch wir Menschen sitzen.

    "Die Erfindung der eukaryontischen Zelle ist ein entscheidender Schritt in der Evolution, aber anscheinend war das Ganze nicht so schwierig, wie es aussieht."

    Simon Conway-Morris von der University of Cambridge.

    "Die eukaryontischen Zellen sind so etwas wie eine Versammlung. Damit will ich sagen, dass sie früher einmal frei lebende Bakterien mit an Bord genommen und ihre Zellen integriert haben."

    Genau das passierte in diesem nahrhaften Teppich. Darin lebten einzellige Wesen, die das Prinzip vom Fressen und Gefressen-Werden in die Welt brachten. Für sie war es ein Schlaraffenland: Sie ernährten sich von den abgestorbenen Mikroben und fanden nichts dabei, sich auch einmal ein kleines, lebendiges Bakterium einzuverleiben. Meist endeten das als opulentes Mahl und wurde verdaut. Aber hin und wieder überlebte es im "Bauch" des Größeren. Mit ungeheuer viel Glück entwickelte sich daraus eine Symbiose: Der größere Wirt nutzte die Enzyme seines Gastes als Chemiefabrik. Er konnte so das Nahrungsangebots vor seiner Zellwand besser ausbeuten - und der Kleine hatte einen sicheren Hafen gefunden. So erwarb die eukaryontischen Zelle ihr Mitochondrium, ihr "Kraftwerk":

    "Die Tatsache, dass ich atme, dass Sie atmen und alle Zuhörer atmen, liegt darin begründet, dass wir in unseren Zellen lebendige Strukturen haben, die Mitochondrien genannt werden und die einmal frei lebende aerobe Bakterien waren, die nun als Dauergäste in uns wohnen."

    Als es dann noch gelang, die Mitochondrien durch Vererbung an die nächste Generation weiterzugeben, war der Durchbruch geschafft: Die zelleigenen Energiefabrik brachte seinem Wirt einen ungeheuren Vorteil gegenüber allen Konkurrenten ein. Er war nicht mehr auf einen Zufall angewiesen, um dank der Symbiose in Energie schwelgen zu können. Das Prinzip setzte sich durch, wurde zum Ausgangspunkt einer Fülle von neuen Formen - weil man es sich leisten konnte, es gab reichlich Energie:

    "Es ist, als ob man den Lebewesen eine bessere Batterie geben würde. Alle Lebewesen atmen, um Energie aus gespeicherten Reserven zu erzeugen. Wer Sauerstoff atmet, verbrennt dabei Zucker-, Protein- und Fettreserven höchst effizient. Er zieht fünf- bis zehnmal mehr Energie aus seinen Vorräten, als es die anaeroben Mikroben je schaffen könnten. Mit so viel Energie lassen sich Zellen spezialisieren und komplexe Körper bauen. Ohne den Extra-Kick durch den sauerstoffbasierten Stoffwechsel hätten wir niemals vielzellige Organismen bekommen."

    Gelungen ist das unserem Ahnen vor rund zwei Milliarden Jahren - nach der ersten großen Eiszeit, als sich der Sauerstoff in der Luft und im Wasser weiter angereichert hatte.

    "Die Eukaryonten hoben nicht eher ab, bis sie ihre Mitochondrien kontrollieren konnten. Sie machten sie zu so etwas wie einem Ofen, mit dem sie den Sauerstoff richtig nutzen und Energie aus ihm ziehen konnten."

    Eines fällt dabei auf: Ihren Siegeszug konnten die Eukaryonten erst antreten, als auch das Umfeld stimmte: Der neue Ofen verlangte nach Brennholz. Als genug Sauerstoff im Wasser war, taten sich die gut gerüsteten Zellen zusammen. Eine spiralförmige Alge namens Grypania gilt als erster sichtbarer Organismus, sie lebte vor zwei Milliarden Jahren. Noch war das Sauerstoffniveau gering und die neuen Mehrzeller blieben winzig. Doch die Evolution lief weiter – im Verborgenen.