Peter B. Schumann: Herr Professor Abraham, beim Bicentenario Argentiniens ist mir aufgefallen, dass kurz nach den ersten Feierlichkeiten die Verantwortlichen darüber nachdachten: Was machen wir 2016, wenn wir erneut unsere Unabhängigkeit begehen können? Das bedeutet doch wohl, dass Argentinien in diesem Jahr etwas gefeiert hat, was es vor 200 Jahren offensichtlich noch gar nicht gab.
Tomás Abraham: 2016 ist das eigentliche Datum der Unabhängigkeit.
Schumann: Der vollendeten Unabhängigkeit.
Abraham: Ja, die unabhängige Republik wurde erst 1816 erklärt. 1810 gab es nur eine Rebellion der Stadtregierung von Buenos Aires gegen Frankreich, nicht etwa gegen Spanien. Denn Frankreich hatte gerade Spanien besiegt, und uns war dadurch das Mutterland abhanden gekommen. Wir waren Untergebene Napoleons. Aber das wollten wir nicht. Deshalb ist das Jahr 1810 als erste Manifestation der Autonomie in die Geschichte eingegangen. 1816 begann dann unsere Unabhängigkeit, und das werden wir 2016 sicher wieder irgendwie feiern können. Aber mich interessieren solche Gedenktage nicht wirklich. Es sind Daten, die politisch genutzt werden von den jeweiligen Machthabern.
Schumann: Argentinien feiert in diesem Jahr nicht nur sein Bicentenario, sondern es ist auch zugleich Gastland der Buchmesse. Über die Literatur, die zahlreichen Bücher, die erscheinen, werden wir also sehr viel über Ihr Land und seine Sonderrolle in Lateinamerika erfahren. Es ist nicht exotisch, es hat auch keine heute noch relevanten indigenen Wurzeln oder afrikanischen Einflüsse. Was also macht die argentinidad, seinen unverwechselbaren Charakter aus?
Abraham: Die Frage geht davon aus, dass es eine Antwort gibt. Ich glaube eher, die argentinidad existiert gar nicht. Gibt es denn eine alemanidad? Es ist schwierig, solche Begriffe zu definieren, die etwas mit Nationalität zu tun haben und wie ein Prädikat wirken, das uns, 40 Millionen Argentinier, identifizieren soll. Das ist ein Land vieler Vermischungen, ein junges Land, das sich durch die verschiedenen Einwanderungswellen stark verändert hat. Unser historisches Gedächtnis reicht nicht weit. Unsere Geschichte ist erst 200 Jahre alt, davon sind 65 Jahre vom Peronismus beeinflusst.
Schumann: Dann versuchen wir das mal zu differenzieren. Es gibt doch sicher einen großen Unterschied zwischen Buenos Aires und dem übrigen Land.
Abraham: Wir hier in Buenos Aires empfinden uns als Italiener. Und die dort in Tucumán, Córdoba, Salta sehen sich eher in Verbindung mit der Kolonialzeit, die wir in den Kinder- oder Geschichtsbüchern abgelegt haben. Dort feiert man zwar auch das Bicentenario, aber in Córdoba waren sie damals gegen die Rebellen in der Stadt Buenos Aires, weshalb es viele Erschießungen und Verfolgungen gab. Vielleicht sieht ein Fremder unsere Identität klarer. Aber für uns ist sie diffus, wir sehen eher eine Art Chaos. Andererseits habe ich keine Zweifel, dass ein Porteño, ein Bewohner von Buenos Aires, Identität besitzt: seine Art zu sprechen, zu schreien, Auto zu fahren, sein ganzer Lebensstil.
Schumann: Aber Buenos Aires ist nicht Argentinien, und selbst hier existieren große Unterschiede zwischen der Stadt Buenos Aires - sie ist etwa so groß wie Berlin, knapp 3 Millionen Einwohner - und dem Großraum Buenos Aires mit weiteren 13 Millionen. Gerade in diesem Gebiet haben sich viele europäische Einwanderer angesiedelt. Was haben sie bewirkt?
Abraham: Was in Argentinien zwischen etwa 1870 und 1914/15 stattgefunden hat, dafür gibt es nichts Vergleichbares auf der Welt. Diese Einwanderungswellen lassen sich auch nicht mit denen in die USA oder Kanada oder Australien vergleichen. Argentinien hat in relativ kurzer Zeit nicht nur seine Bevölkerungszahl verdoppelt, sondern seine Sprache, seine Gastronomie, seine Gebräuche verändert, wirklich alles. Die Volkszählung von 1914 ergab für Buenos Aires - wenn ich mich nicht täusche - 700.000 Bewohner, die Hälfte davon Ausländer. Die andere Hälfte bestand zwar aus Argentiniern, aber viele von ihnen waren Kinder von Ausländern. Das Gleiche trifft auf die Provinz Buenos Aires zu und auf andere Städte. Dieser Einwanderungsschock hatte ein nationales Chaos zur Folge. Kein anderes Land hat die Türen so weit geöffnet. Es war eine große Anstrengung nötig, um das Land politisch zu organisieren und eine Identität auszubilden.
Schumann: Was für Maßnahmen wurden dazu getroffen?
Abraham: Das öffentliche Schulwesen war fundamental für die Entwicklung dieser "Argentinität". Sarmiento förderte es während seiner Präsidentschaft in den 1870er-Jahren. Auf die Grundschulen gingen die Kinder von Italienern, von polnischen Juden, von Spaniern zusammen mit denen von gebürtigen Argentiniern. Sie haben dort die Nationalhymne gesungen und die Nationalflagge gehisst und erfahren, dass San Martín das Vaterland gegründet hat. Die ersten allgemeinen Wahlen fanden dann 1916 statt. Mit was für anderen Bürgern als mit diesen und ihrem historischen Bewusstsein hätten sie durchgeführt werden können? Damals entstand auch die Demokratie in Argentinien, angeführt von Präsident Yrigoyen. Sie dauerte von 1916 bis 1930 und endete nach 14 Jahren mit einem Militärputsch.
Schumann: Es waren neben den Spaniern vor allem Italiener, die dem Ruf Sarmientos folgten und Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts bevölkerten, vor allem Buenos Aires. Was hat sich dadurch geändert?
Abraham: Alles: die Sprache, die Literatur, das eigene Bild, das Gedächtnis, die Musik, das Essen, alles hat sich verändert. Damals wurde ein neues Argentinien geboren. Argentinien wurde neu gegründet und zwar von Null an. Es war ein riesiges, wenig bevölkertes Wüstenland, 1870 gab es hier nicht mehr als drei Millionen Einwohner. Sie verdoppelten sich durch die Ausländer. "Wir kommen von den Schiffen" - das ist ein geflügeltes Wort. Und dann fand eine 'Argentinisierung' dieser Immigration statt. Meine Sprache, das typische Porteño von Buenos Aires, die Musik, wenn wir mal vom Inhalt absehen, die sind napolitanisch. Ich spreche ein Neo-Napolitanisch.
Schumann: Es wurde aber ganz schön "argentinisiert", genauso wie die anderen vielfältigen, europäischen Einflüsse. Dabei entstand im letzten Jahrhundert eine Reihe von Mythen, von legendären Figuren: Carlos Gardel, Eva Perón, Che Guevara und - man fasst es kaum - Diego Maradona. Sind sie wirklich identitätsstiftend?
Abraham: Die argentinischen Mythen sind typisch für unsere gesellschaftliche Rückständigkeit, für unsere kulturelle Stagnation. Wenn Amerika in die Zukunft weist, dann leben wir rückwärts gewandt. Wir sind eigentlich jung, aber tatsächlich alte Junge. Wenn wir uns umschauen, blicken wir zurück, obwohl wir jung sind. Wir erinnern uns ständig. Der Tango ist Erinnerung, Gardel ist Erinnerung genauso wie Evita. Che Guevara ist ein historisches Ereignis, das wir nicht vereinnahmen können. An ihm ist sehr wenig Argentinisches übrig geblieben, obwohl er von hier stammt. Aber er ist tatsächlich ein kubanischer Held. Die Leute in Rosario halten ihn für einen der ihren, weil er dort geboren wurde, die von Córdoba reklamieren ihn für sich, weil er dort studiert hat. Che Guevara ist Argentinier, aber er hat als Vaterland Kuba gewählt.
Schumann: Er ist zu einer legendären Gestalt geworden und verkörpert auch eine Idee, ein Ideal, wenn auch ein gescheitertes. Aber für was steht der Fußballer Diego Maradona?
Abraham: Der Fußball ist das argentinische Volksfest. Es existiert nichts anderes. Wenn es eine argentinidad gibt, dann drückt sie sich im Fußball aus. Wo wir gemeinsam unsere Hymne singen, das ist beim Fußball, nicht beim Bicentenario. Das war eine Ausrede, um spazieren zu gehen. Wenn also der Fußball das argentinische Volksfest ist und Maradona der beste Fußballspieler der Geschichte, dann muss ich nicht mehr viel hinzufügen. Auch wenn er nicht mehr spielt, erinnert er uns daran, dass es etwas gibt, in dem wir spitze waren. Außerdem ist er eine sehr befremdliche Person voller Dramen. Er ist nicht Franz Beckenbauer. Er kommt aus einem Armenviertel und wurde mit 17 Jahren weltbekannt. Er war drogenabhängig, ist mehrfach in seinem Leben abgestürzt und wieder hochgekommen, und gerade heute - nach der verlorenen Fußball-Weltmeisterschaft - steht er wieder inmitten eines Dramas. Er ist lebende Erinnerung.
Schumann: Wenn Sie das so erzählen, Herr Abraham, dann erinnert mich Maradonas Leben an die argentinische Geschichte der letzten 40 Jahre. 1973 die Hoffnung, die mit der Rückkehr Peróns verbunden war und der folgende Absturz in die Militärdiktatur, 1983 die Rückkehr zur Demokratie, zu einer Hyperinflation, in den 90er-Jahren die ökonomische Scheinblüte, 2001 die politische und wirtschaftliche Katastrophe, 2003 erneute Stabilisierung und ökonomischer Aufschwung. Verursacher dieser unsteten oder - mit Ihren Worten - "dramatischen" Politik war stets der Peronismus. Ist er das zentrale Problem Argentiniens?
Abraham: Zweifellos, aber er existiert bereits seit mehr als 60 Jahren. Für ein so junges Land mit der immergleichen Symbolik ist das eine lange Zeit. Der Peronismus ist das Problem und zugleich die Lösung. Dafür gibt es weder eine ökonomische noch eine politische und auch keine soziale oder kulturelle Erklärung. Der Peronismus ist die Folge des Scheiterns unserer traditionellen Parteien. In Argentinien gibt es keine geschichtliche Kontinuität dieser Parteien. Aber es gibt sehr wohl eine lange Geschichte der Militärputsche seit 1930. Wir hatten uns schon daran gewöhnt, von Militärs regiert zu werden. Erst seit 1984 haben wir ein bürgerlich-demokratisches System ohne Unterbrechung. Und dennoch mussten zwei Präsidenten vor Ende ihrer Amtszeit zurücktreten: Alfonsín und De la Rúa.
Schumann: Zwei Präsidenten einer traditionellen, bürgerlichen Partei, den sogenannten Radikalen.
Abraham: Und dazwischen regierte der demokratisch gewählte Präsident mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Argentiniens: Carlos Menem.
Schumann: Ein Peronist.
Abraham: Dessen Namen man heute nicht mehr in Argentinien nennen darf, er wurde verdammt. Er war zehn Jahre im Amt und ist verantwortlich für das sogenannte Wirtschaftswunder und die Katastrophe 2001. Danach folgten fünf Präsidenten in einem Monat, und dann kam Kirchner an die Regierung, der eigentlich die Wahlen verloren hatte, und machte eine Familien-Erbfolge daraus: Die Macht geht vom Ehemann auf die Ehefrau und vielleicht noch mal zurück. Die politische Geschichte Argentiniens ist nicht nach klassischen, traditionellen Regeln verlaufen. Es ist eine ganz eigene Geschichte.
Schumann: Und der Angelpunkt dieser Geschichte ist immer wieder der Peronismus.
Abraham: Er zeigt das Scheitern der republikanischen Institutionen und der traditionellen Parteien und zwar der rechten wie der linken. Aber er war auch die einzige politische Bewegung, die sich in Argentinien um die soziale Lage gekümmert hat. Wer hat von den Armen gesprochen? Der Peronismus. Dann hat er sie zwar hintergangen und belogen, hat sie mit Demagogie und Populismus gefüttert. Aber er war der Einzige, der sich wirklich um diese Realität gekümmert hat, die für jeden Argentinier unübersehbar war.
Schumann: Wir haben uns jetzt sehr weit von den identitätsprägenden Mythen entfernt, befinden uns aber andererseits auch mittendrin, denn ein weiterer Mythos heißt Evita Perón.
Abraham: Niemand, der heute in Argentinien ruhig leben will, kann öffentlich schlecht von Evita reden. Bestimmte Idole besitzen eine ganz Phalanx von Leuten, die sie beschützen. Und das ist keine Übertreibung. Zu behaupten, Evita sei eine Lügnerin, eine Fanatikerin, eine Diebin gewesen, das geht nicht. Sie ist nicht nur ein Mythos, sondern ein geradezu religiöses Idol. Evita starb mit 33 Jahren an Krebs und wird wie Christus verehrt. Gardel starb ebenfalls jung bei einem Flugzeugunfall. Maradona wird ständig gekreuzigt. Auch Che Guevara. Wir inthronisieren Märtyrer. Ein Siegertyp, der glücklich ist, hat es hier schwer, zum Helden zu werden.
Schumann: Man sagt von Evita Perón, sie sei sehr autoritär gewesen, gerade auch im Umgang mit der Arbeiterbewegung, mit den Gewerkschaften. Und eigentlich soll sie gar nicht progressiv gewesen sein.
Abraham: Ihr Verdienst ist das Frauenwahlrecht, das es bis dahin in Argentinien nicht gab. Es ist schwer festzustellen, ob sie progressiv gewesen ist oder nicht. Das Soziale hat bei ihr andere Wurzeln. Es geht ihr nicht um demokratische Rechte. Und wenn sie sich mit den Gewerkschaften angelegt hat, dann ist das auf Perón zurückzuführen. Zuerst ließ er sich von der Gewerkschaftsbewegung unterstützen, dann hat er dafür gesorgt, dass ihre Führer entlassen und andere an deren Stelle gesetzt wurden. Er hat die Gewerkschaften zu einem Instrument des Staates gemacht, zu einem politischen Machtfaktor, und das sind sie heute noch, vielleicht sogar einer der mächtigsten. Es war also nicht nur Evita, die sich mit den Gewerkschaftsführern gestritten hat, um sich ihre Verbündeten gefügig zu machen.
Schumann: Von dem anderen großen Mythos, Carlos Gardel, wird gesagt, dass er auf Seiten der konservativsten Kräfte des Landes gestanden habe und natürlich auch von ihnen benutzt wurde.
Abraham: Die politische Haltung von Gardel ist nicht sehr bekannt und wird auch nicht für besonders wichtig gehalten. Gardel feierte seine größten Triumphe sowieso in Europa und machte die meisten Filme in Hollywood und in Frankreich. Sein Ruhm stammt von draußen. Hier ist er jemand, der von einem bestimmten Publikum geschätzt wird und von dem immer wieder gesagt wurde, dass er vor seiner letzten Reise die Theater in Buenos Aires keineswegs gefüllt habe. Die Legende dieses Mannes, der ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammte wie Evita, wie Maradona, beginnt mit seinem Tod 1935 und hat sich erst in den folgenden Jahrzehnten entfaltet. Eine Beziehung zu konservativen Kreisen kann ich mir gut vorstellen, denn in Argentinien gab es so etwas wie einen populären Konservatismus, an dessen Spitze die Caudillos standen, die das Land meist regiert haben. Es ist gut möglich, dass Gardel mit einigen Caudillos befreundet war.
Schumann: Es wird oft von einem "argentinischen Traum" gesprochen. War das der Traum der Immigranten, oder gibt es auch heute noch einen argentinischen Traum?
Abraham: Argentinien ist ein einziger Traum, ein unendlicher. Wir träumen ständig von einem Wunder. Aber gibt es Wunder, oder sind sie nur ein Traum? Wir hoffen immer darauf, dass etwas Großes mit uns passiert, das alles ändert. Ständig wird hier etwas neu begründet, reorganisiert, rekonstruiert. Das ist der argentinische Traum. Ich habe meinen eigenen argentinischen Traum. Aber den teilen die anderen nicht.
Schumann: Und wie sieht der aus?
Abraham: Argentinien soll der ersten Welt gleichen. Das ist mein Traum. Ein Land, das Reichtum für alle erzeugt, in dem ein politisches System mit Freiheitsrechten und anderen Garantien existiert, in dem es ein gutes Bildungswesen gibt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Zugang zu den materiellen Gütern der Zivilisation besitzt. Es ist eigentlich das, was alle wollen, von China über Deutschland bis Paraguay. Das ist ein sozialdemokratischer, republikanischer Traum und wohl nicht die Richtung, in die sich die Welt bewegt. Außerdem gibt es in unserer Geschichte andere Traditionen, von denen ich schon gesprochen habe: den autoritären Caudillo, einen starken Staat, große soziale Konflikte, die in Demokratien mit einer breiten Mittelschicht von dieser verhindert werden, weil sie dem politischen System Stabilität verleiht. Wo es derart riesige Unterschiede gibt wie in unserem Land, da ist es schwer, stabile politische Verhältnisse herzustellen.
Schumann: Dem Peronismus ist das aber anfangs gelungen. Sind denn die beiden Kirchners - diese Familien-Dynastie, von der Sie sprachen - sind sie als Peronisten einzuschätzen?
Abraham: Sie sind ganz und gar Peronisten. Geborene Opportunisten. Ganz ähnlich wie Menem. Sie sind zwar heute seine Feinde, aber sie stammen aus der gleichen politischen Familie. Sie nutzen die Gunst der Stunde, möglicherweise sogar gut. Auch Menem nutzte sie, als es überall Geld gab: Erst privatisierte er die Staatsbetriebe, und dann häufte er einen ungeheueren Schuldenberg an. Kirchner nutzte die Nachfrage nach Rohstoffen und füllte die Staatskasse, so dass er sich politische Abenteuer leisten konnte. Ohne dieses Geld gäbe es ihn nicht.
Schumann: Und jetzt versuchen er und seine Frau sich an der Macht abzuwechseln.
Abraham: Er ist ein Psychopath der Macht. Warum wollen die beiden das ganze Leben lang herrschen? Warum wollte Menem noch ein drittes Mal antreten, obwohl er bereits senil war? Was geht in diesen Köpfen vor sich? Wieso dieser Macht-Wahn? So etwas sehen wir bei unseren Nachbarn nicht: weder in Uruguay, noch in Chile und auch nicht in Brasilien. Politisch ist das nicht zu erklären. Ich sehe darin etwas Psychopathisches, Krankhaftes. Und etwas Peronistisches. Diesen absoluten Wahn hatte auch Perón.
Schumann: Für unsere Hörer sei gesagt: Perón war zunächst von 1946 bis 1955 an der Macht, lebte dann 18 Jahre im spanischen Exil und kehrte 1973 todkrank zurück. Kam er, um zu sterben?
Abraham: Er kam, um uns zu töten. Ein Mann, der mit López Rega als Sekretär, und mit Isabelita als seiner Nachfolgerin ankam, der kam nicht, um zu sterben, sondern um uns umzubringen. Das war sein Geschenk. Es kam auch nicht Perón an, es kamen Isabelita und der sinistre López Rega mit einem Alten an. Und der wollte endlich wieder regieren. Er hatte auch gute Ideen, sprach von Ökologie, von sozialem Frieden und anderen fortschrittlichen Dingen. Aber was war das für ein Mann, der einen Astrologen als Sekretär besaß, welcher sehr rasch eine Terrorbande gründete. Und der einer Frau, die nicht fähig war, ein Haus zu führen, schließlich die Führung eines ganzen Landes übertrug. Ich glaube wirklich, der kam, um uns zu töten.
Schumann: Noch einmal ein paar Fakten: 1974 starb Perón, und es herrschte Isabelita über eines der größten Länder Lateinamerikas, geführt von López Rega, der ein politisches Chaos entfachte. 1976 schlugen die Militärs zu und errichteten das blutigste Terrorregime der neueren Geschichte Argentiniens. 2001 geriet das Land erneut an den Rand des Zusammenbruchs, diesmal unter demokratischem Vorzeichen.
Abraham: Ja, dieses 2001 war ein sehr schwieriger Augenblick, dessen Folgen wir noch immer nicht überwunden haben. Das alles hat Spuren hinterlassen. Nur viele Argentinier tun so, als wäre die Geschichte spurlos vorübergegangen, als ob Perón zurückkehren und wir noch einmal wie 1950 leben könnten, als jeder 5.000 Kalorien täglich zu sich nahm in diesen wenigen Jahren des Erfolgs. Aber die Geschichte hinterlässt Spuren.
Schumann: Was sind die Konsequenzen der Wirtschaftskatastrophe von 2001?
Abraham: Es gibt keine glaubwürdigen Institutionen mehr. In Argentinien vertraut niemand mehr den Politikern, auch nicht mehr den Journalisten und nicht den Richtern, der gesamten Justiz nicht mehr. Das Vertrauen in die Polizei ist verloren gegangen und in die Armee und selbst in die Erzieher, die Eltern eingeschlossen. Es ist sehr schwierig, eine Gesellschaft kulturell zu organisieren, wenn es keine Institution mehr gibt, die geachtet wird. Gegenbeispiele existieren zuhauf. Im Nachbarland Uruguay beispielsweise glaubt die Bürgerschaft, dass der neue und der alte Präsident nicht stehlen. Das ist immerhin etwas. Auch die Chilenen glauben nicht, dass Bachelet gestohlen hat. Sie haben zwar ihre Partei nicht mehr gewählt, aber sie besaß noch immer einen hohen Grad an Zustimmung, als sie ihr Amt aufgab. In diesen Ländern mögen es die Leute, wenn ihre Politiker ehrlich sind. In Argentinien nicht.
Schumann: Dieser Verlust an Werten, den sie gerade skizziert haben, das Misstrauen gegenüber Politikern, gegenüber der Regierung und fast allen Institutionen erinnert mich sehr an ein anderes großes Land im Norden Lateinamerikas: an Mexiko. Dort ist die Situation allerdings sehr viel gravierender durch die Gewaltexzesse der Drogenmafia.
Abraham: Obwohl dieses Land von Argentinien sehr verschieden ist, bestehen doch gewisse Ähnlichkeiten, beispielsweise zwischen der mexikanischen Regierungspartei PRI und dem Peronismus. Andererseits war Argentinien zunächst ein europäisiertes Land. Mexiko hat dagegen einen starken indigenen Einfluss usw. Aber in beiden Ländern existiert diese Unfähigkeit, sich politisch auf breiter Basis zu organisieren. Die Dominanz dieser beiden Parteien hat das verhindert: die PRI 70 Jahre lang, der Peronismus seit 65 Jahren. Doch Mexiko besitzt eine sehr enge Verbindung zu den USA, die Argentinien nie besaß. Argentinien hat immer nach Europa geblickt. Und die USA haben sich nie für Argentinien interessiert.
Schumann: Was sind für Sie, Herr Abraham, die größten Defizite im heutigen Argentinien? Das mangelnde Bildungswesen, die schlechte Gesundheitsfürsorge, die immense Armut und große soziale Ungleichheit?
Abraham: Das alles sind große Defizite. Aber das größte ist diese Unfähigkeit, sich politisch zu organisieren: in der Führungsschicht eine gemeinsame, langfristige Vision von der Zukunft dieses Landes und der künftigen Regierungspolitik zu entwickeln. Sich zu fragen: Welches sind die unverrückbaren Ziele in den nächsten 20, 30 Jahren? Welche strategischen Prioritäten müssen gesetzt werden? Hier werden alle vier, fünf Jahre die Grundsätze gewechselt über die Verbündeten, die wir brauchen, über die Rolle, die wir auf dem Weltmarkt einnehmen wollen, über das defizitäre Bildungswesen, über die wirtschaftliche Entwicklung. Die Chilenen haben das verstanden und schon früh einen nationalen Konsens hergestellt zwischen der christ- und sozialdemokratischen Concertación und der neuen rechten Regierung. Auch in Uruguay wird das jetzt versucht: Die Regierung der linken Frente Amplio schafft eine Basis der politischen Stabilität für die Zukunft, indem sie gewisse Grundsätze der oppositionellen Parteien der Colorados und Blancos respektiert.
Schumann: Aber in diesen Ländern herrschen auch ganz andere politische Voraussetzungen.
Abraham: Doch andernfalls existieren die Auswirkungen dieser Defizite auf allen Ebenen weiter: das fortgesetzte Improvisieren von Politik, das Fehlen von Rechtssicherheit und damit verbunden das Fehlen von Investitionen und die Kapitalflucht. Diese Faktoren machen es sehr schwer, eine gute Bildung zu entwickeln.
Schumann: Gut, es fehlt ein nationaler Konsens. Aber fehlt nicht auch ein nationales Bewusstsein auf Seiten der Wirtschaft für die Probleme des Landes, ein Bewusstsein, das ich beispielsweise in Brasilien sehe? In der dramatischen Krise zwischen 1999 und 2002 hat eine unaufhörliche Kapitalflucht stattgefunden, wurden ganze Industrien abgewickelt, weil sie nicht die gewünschten Profite abwarfen.
Abraham: Colin Powell hat einmal gesagt: Das Geld ist feige. Und zwar überall auf der Welt. Es geht dorthin, wo es keine Angst hat. Und hier hat es sehr viel Angst.
Schumann: Warum?
Abraham: Weil hier die Ersparnisse ständig verdampfen. Was man auf die Bank bringt, verschwindet. Was weltweit bei den Großbanken passiert ist, passiert hier ständig. Bei einer Hyperinflation von 2.000 Prozent wie Ende der 80er-Jahre hatte man keine Peso mehr, sondern Dollar, Gold oder Ziegelsteine unterm Bett versteckt oder im Ausland angelegt. Wenn ein Staat die Banken für seine Zwecke benützt, neue gründet und am Schluss nichts übrig bleibt - wie es um 2001 geschehen ist; wenn man an sein Erspartes nicht mehr herankommt oder lediglich Bons mit einer Laufzeit von 30 Jahren erhält; wenn man Geld in einen Fond investiert und Seňor Macri, der Besitzer der Autobahn del Sol, die Auszahlung verweigert - da investiert man doch nur noch das Nötige.
Schumann: Aber in die Landwirtschaft wurde doch kräftig investiert.
Abraham: Auf dem Land wurde sehr viel in Technik investiert wegen der steigenden Nachfrage nach Soja. Aber selbst dort gab es sehr viel Kapitalflucht. Der Regierung fielen immer neue Steuern ein, die sie dann wieder reduziert hat, um wieder neue zu erlassen, sie wieder abzuschaffen und so weiter. Es gibt hier keine Spielregeln, sondern einen wirklich wilden Kapitalismus. Aber nicht diesen globalisierten, der hat Regeln. Dieser hier hat keine. Ich würde also nicht von mangelndem Patriotismus sprechen. Der Argentinier ist nicht weniger argentinisch als der Deutsche deutsch. Hier gilt jedoch: Wenn ich so viel einsetze, muss so viel rauskommen, egal, was es kostet. Das ist die Spielregel nach der in Argentinien die Herrschenden seit 50, 60 Jahren Politik machen.
Schumann: Tomás Abraham, ich möchte zum Schluss noch mal auf den Anfang zurückkommen, auf die argentinische Identität. Ist der Peronismus, diese Bewegung, die einzigartig ist in Lateinamerika, ja auf der Welt, ist dieser Peronismus Teil der argentinidad?
Abraham: Möglicherweise. Wenn man zehn Peronisten zusammenbringt, dann denken alle zehn ganz verschieden. Und zwar über alles, auch über die Politik. Trotzdem empfinden sie sich als Peronisten. Wieso? Unser neuer Außenminister heißt Héctor Timerman: Er ist Peronist und zwar seit zwei Wochen, seit seiner Nominierung. Jeder, der in Argentinien politisch etwas werden und nicht gleich wieder verschwinden will, wird Peronist. Wer nicht will, dass die übermächtige Gewerkschaft CGT ständig das Land mit Streiks lahmlegt, muss Peronist sein. Das ist wie eine Sprache, die man beherrschen muss. Beziehungsweise ein System der Loyalität. Diese Form der Identität hat nichts mit argentinidad zu tun, es ist eine peronidad. Eine bestimmte Vorstellung von Macht, die manchmal psychopathische Züge annehmen kann.
Tomás Abraham: 2016 ist das eigentliche Datum der Unabhängigkeit.
Schumann: Der vollendeten Unabhängigkeit.
Abraham: Ja, die unabhängige Republik wurde erst 1816 erklärt. 1810 gab es nur eine Rebellion der Stadtregierung von Buenos Aires gegen Frankreich, nicht etwa gegen Spanien. Denn Frankreich hatte gerade Spanien besiegt, und uns war dadurch das Mutterland abhanden gekommen. Wir waren Untergebene Napoleons. Aber das wollten wir nicht. Deshalb ist das Jahr 1810 als erste Manifestation der Autonomie in die Geschichte eingegangen. 1816 begann dann unsere Unabhängigkeit, und das werden wir 2016 sicher wieder irgendwie feiern können. Aber mich interessieren solche Gedenktage nicht wirklich. Es sind Daten, die politisch genutzt werden von den jeweiligen Machthabern.
Schumann: Argentinien feiert in diesem Jahr nicht nur sein Bicentenario, sondern es ist auch zugleich Gastland der Buchmesse. Über die Literatur, die zahlreichen Bücher, die erscheinen, werden wir also sehr viel über Ihr Land und seine Sonderrolle in Lateinamerika erfahren. Es ist nicht exotisch, es hat auch keine heute noch relevanten indigenen Wurzeln oder afrikanischen Einflüsse. Was also macht die argentinidad, seinen unverwechselbaren Charakter aus?
Abraham: Die Frage geht davon aus, dass es eine Antwort gibt. Ich glaube eher, die argentinidad existiert gar nicht. Gibt es denn eine alemanidad? Es ist schwierig, solche Begriffe zu definieren, die etwas mit Nationalität zu tun haben und wie ein Prädikat wirken, das uns, 40 Millionen Argentinier, identifizieren soll. Das ist ein Land vieler Vermischungen, ein junges Land, das sich durch die verschiedenen Einwanderungswellen stark verändert hat. Unser historisches Gedächtnis reicht nicht weit. Unsere Geschichte ist erst 200 Jahre alt, davon sind 65 Jahre vom Peronismus beeinflusst.
Schumann: Dann versuchen wir das mal zu differenzieren. Es gibt doch sicher einen großen Unterschied zwischen Buenos Aires und dem übrigen Land.
Abraham: Wir hier in Buenos Aires empfinden uns als Italiener. Und die dort in Tucumán, Córdoba, Salta sehen sich eher in Verbindung mit der Kolonialzeit, die wir in den Kinder- oder Geschichtsbüchern abgelegt haben. Dort feiert man zwar auch das Bicentenario, aber in Córdoba waren sie damals gegen die Rebellen in der Stadt Buenos Aires, weshalb es viele Erschießungen und Verfolgungen gab. Vielleicht sieht ein Fremder unsere Identität klarer. Aber für uns ist sie diffus, wir sehen eher eine Art Chaos. Andererseits habe ich keine Zweifel, dass ein Porteño, ein Bewohner von Buenos Aires, Identität besitzt: seine Art zu sprechen, zu schreien, Auto zu fahren, sein ganzer Lebensstil.
Schumann: Aber Buenos Aires ist nicht Argentinien, und selbst hier existieren große Unterschiede zwischen der Stadt Buenos Aires - sie ist etwa so groß wie Berlin, knapp 3 Millionen Einwohner - und dem Großraum Buenos Aires mit weiteren 13 Millionen. Gerade in diesem Gebiet haben sich viele europäische Einwanderer angesiedelt. Was haben sie bewirkt?
Abraham: Was in Argentinien zwischen etwa 1870 und 1914/15 stattgefunden hat, dafür gibt es nichts Vergleichbares auf der Welt. Diese Einwanderungswellen lassen sich auch nicht mit denen in die USA oder Kanada oder Australien vergleichen. Argentinien hat in relativ kurzer Zeit nicht nur seine Bevölkerungszahl verdoppelt, sondern seine Sprache, seine Gastronomie, seine Gebräuche verändert, wirklich alles. Die Volkszählung von 1914 ergab für Buenos Aires - wenn ich mich nicht täusche - 700.000 Bewohner, die Hälfte davon Ausländer. Die andere Hälfte bestand zwar aus Argentiniern, aber viele von ihnen waren Kinder von Ausländern. Das Gleiche trifft auf die Provinz Buenos Aires zu und auf andere Städte. Dieser Einwanderungsschock hatte ein nationales Chaos zur Folge. Kein anderes Land hat die Türen so weit geöffnet. Es war eine große Anstrengung nötig, um das Land politisch zu organisieren und eine Identität auszubilden.
Schumann: Was für Maßnahmen wurden dazu getroffen?
Abraham: Das öffentliche Schulwesen war fundamental für die Entwicklung dieser "Argentinität". Sarmiento förderte es während seiner Präsidentschaft in den 1870er-Jahren. Auf die Grundschulen gingen die Kinder von Italienern, von polnischen Juden, von Spaniern zusammen mit denen von gebürtigen Argentiniern. Sie haben dort die Nationalhymne gesungen und die Nationalflagge gehisst und erfahren, dass San Martín das Vaterland gegründet hat. Die ersten allgemeinen Wahlen fanden dann 1916 statt. Mit was für anderen Bürgern als mit diesen und ihrem historischen Bewusstsein hätten sie durchgeführt werden können? Damals entstand auch die Demokratie in Argentinien, angeführt von Präsident Yrigoyen. Sie dauerte von 1916 bis 1930 und endete nach 14 Jahren mit einem Militärputsch.
Schumann: Es waren neben den Spaniern vor allem Italiener, die dem Ruf Sarmientos folgten und Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts bevölkerten, vor allem Buenos Aires. Was hat sich dadurch geändert?
Abraham: Alles: die Sprache, die Literatur, das eigene Bild, das Gedächtnis, die Musik, das Essen, alles hat sich verändert. Damals wurde ein neues Argentinien geboren. Argentinien wurde neu gegründet und zwar von Null an. Es war ein riesiges, wenig bevölkertes Wüstenland, 1870 gab es hier nicht mehr als drei Millionen Einwohner. Sie verdoppelten sich durch die Ausländer. "Wir kommen von den Schiffen" - das ist ein geflügeltes Wort. Und dann fand eine 'Argentinisierung' dieser Immigration statt. Meine Sprache, das typische Porteño von Buenos Aires, die Musik, wenn wir mal vom Inhalt absehen, die sind napolitanisch. Ich spreche ein Neo-Napolitanisch.
Schumann: Es wurde aber ganz schön "argentinisiert", genauso wie die anderen vielfältigen, europäischen Einflüsse. Dabei entstand im letzten Jahrhundert eine Reihe von Mythen, von legendären Figuren: Carlos Gardel, Eva Perón, Che Guevara und - man fasst es kaum - Diego Maradona. Sind sie wirklich identitätsstiftend?
Abraham: Die argentinischen Mythen sind typisch für unsere gesellschaftliche Rückständigkeit, für unsere kulturelle Stagnation. Wenn Amerika in die Zukunft weist, dann leben wir rückwärts gewandt. Wir sind eigentlich jung, aber tatsächlich alte Junge. Wenn wir uns umschauen, blicken wir zurück, obwohl wir jung sind. Wir erinnern uns ständig. Der Tango ist Erinnerung, Gardel ist Erinnerung genauso wie Evita. Che Guevara ist ein historisches Ereignis, das wir nicht vereinnahmen können. An ihm ist sehr wenig Argentinisches übrig geblieben, obwohl er von hier stammt. Aber er ist tatsächlich ein kubanischer Held. Die Leute in Rosario halten ihn für einen der ihren, weil er dort geboren wurde, die von Córdoba reklamieren ihn für sich, weil er dort studiert hat. Che Guevara ist Argentinier, aber er hat als Vaterland Kuba gewählt.
Schumann: Er ist zu einer legendären Gestalt geworden und verkörpert auch eine Idee, ein Ideal, wenn auch ein gescheitertes. Aber für was steht der Fußballer Diego Maradona?
Abraham: Der Fußball ist das argentinische Volksfest. Es existiert nichts anderes. Wenn es eine argentinidad gibt, dann drückt sie sich im Fußball aus. Wo wir gemeinsam unsere Hymne singen, das ist beim Fußball, nicht beim Bicentenario. Das war eine Ausrede, um spazieren zu gehen. Wenn also der Fußball das argentinische Volksfest ist und Maradona der beste Fußballspieler der Geschichte, dann muss ich nicht mehr viel hinzufügen. Auch wenn er nicht mehr spielt, erinnert er uns daran, dass es etwas gibt, in dem wir spitze waren. Außerdem ist er eine sehr befremdliche Person voller Dramen. Er ist nicht Franz Beckenbauer. Er kommt aus einem Armenviertel und wurde mit 17 Jahren weltbekannt. Er war drogenabhängig, ist mehrfach in seinem Leben abgestürzt und wieder hochgekommen, und gerade heute - nach der verlorenen Fußball-Weltmeisterschaft - steht er wieder inmitten eines Dramas. Er ist lebende Erinnerung.
Schumann: Wenn Sie das so erzählen, Herr Abraham, dann erinnert mich Maradonas Leben an die argentinische Geschichte der letzten 40 Jahre. 1973 die Hoffnung, die mit der Rückkehr Peróns verbunden war und der folgende Absturz in die Militärdiktatur, 1983 die Rückkehr zur Demokratie, zu einer Hyperinflation, in den 90er-Jahren die ökonomische Scheinblüte, 2001 die politische und wirtschaftliche Katastrophe, 2003 erneute Stabilisierung und ökonomischer Aufschwung. Verursacher dieser unsteten oder - mit Ihren Worten - "dramatischen" Politik war stets der Peronismus. Ist er das zentrale Problem Argentiniens?
Abraham: Zweifellos, aber er existiert bereits seit mehr als 60 Jahren. Für ein so junges Land mit der immergleichen Symbolik ist das eine lange Zeit. Der Peronismus ist das Problem und zugleich die Lösung. Dafür gibt es weder eine ökonomische noch eine politische und auch keine soziale oder kulturelle Erklärung. Der Peronismus ist die Folge des Scheiterns unserer traditionellen Parteien. In Argentinien gibt es keine geschichtliche Kontinuität dieser Parteien. Aber es gibt sehr wohl eine lange Geschichte der Militärputsche seit 1930. Wir hatten uns schon daran gewöhnt, von Militärs regiert zu werden. Erst seit 1984 haben wir ein bürgerlich-demokratisches System ohne Unterbrechung. Und dennoch mussten zwei Präsidenten vor Ende ihrer Amtszeit zurücktreten: Alfonsín und De la Rúa.
Schumann: Zwei Präsidenten einer traditionellen, bürgerlichen Partei, den sogenannten Radikalen.
Abraham: Und dazwischen regierte der demokratisch gewählte Präsident mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Argentiniens: Carlos Menem.
Schumann: Ein Peronist.
Abraham: Dessen Namen man heute nicht mehr in Argentinien nennen darf, er wurde verdammt. Er war zehn Jahre im Amt und ist verantwortlich für das sogenannte Wirtschaftswunder und die Katastrophe 2001. Danach folgten fünf Präsidenten in einem Monat, und dann kam Kirchner an die Regierung, der eigentlich die Wahlen verloren hatte, und machte eine Familien-Erbfolge daraus: Die Macht geht vom Ehemann auf die Ehefrau und vielleicht noch mal zurück. Die politische Geschichte Argentiniens ist nicht nach klassischen, traditionellen Regeln verlaufen. Es ist eine ganz eigene Geschichte.
Schumann: Und der Angelpunkt dieser Geschichte ist immer wieder der Peronismus.
Abraham: Er zeigt das Scheitern der republikanischen Institutionen und der traditionellen Parteien und zwar der rechten wie der linken. Aber er war auch die einzige politische Bewegung, die sich in Argentinien um die soziale Lage gekümmert hat. Wer hat von den Armen gesprochen? Der Peronismus. Dann hat er sie zwar hintergangen und belogen, hat sie mit Demagogie und Populismus gefüttert. Aber er war der Einzige, der sich wirklich um diese Realität gekümmert hat, die für jeden Argentinier unübersehbar war.
Schumann: Wir haben uns jetzt sehr weit von den identitätsprägenden Mythen entfernt, befinden uns aber andererseits auch mittendrin, denn ein weiterer Mythos heißt Evita Perón.
Abraham: Niemand, der heute in Argentinien ruhig leben will, kann öffentlich schlecht von Evita reden. Bestimmte Idole besitzen eine ganz Phalanx von Leuten, die sie beschützen. Und das ist keine Übertreibung. Zu behaupten, Evita sei eine Lügnerin, eine Fanatikerin, eine Diebin gewesen, das geht nicht. Sie ist nicht nur ein Mythos, sondern ein geradezu religiöses Idol. Evita starb mit 33 Jahren an Krebs und wird wie Christus verehrt. Gardel starb ebenfalls jung bei einem Flugzeugunfall. Maradona wird ständig gekreuzigt. Auch Che Guevara. Wir inthronisieren Märtyrer. Ein Siegertyp, der glücklich ist, hat es hier schwer, zum Helden zu werden.
Schumann: Man sagt von Evita Perón, sie sei sehr autoritär gewesen, gerade auch im Umgang mit der Arbeiterbewegung, mit den Gewerkschaften. Und eigentlich soll sie gar nicht progressiv gewesen sein.
Abraham: Ihr Verdienst ist das Frauenwahlrecht, das es bis dahin in Argentinien nicht gab. Es ist schwer festzustellen, ob sie progressiv gewesen ist oder nicht. Das Soziale hat bei ihr andere Wurzeln. Es geht ihr nicht um demokratische Rechte. Und wenn sie sich mit den Gewerkschaften angelegt hat, dann ist das auf Perón zurückzuführen. Zuerst ließ er sich von der Gewerkschaftsbewegung unterstützen, dann hat er dafür gesorgt, dass ihre Führer entlassen und andere an deren Stelle gesetzt wurden. Er hat die Gewerkschaften zu einem Instrument des Staates gemacht, zu einem politischen Machtfaktor, und das sind sie heute noch, vielleicht sogar einer der mächtigsten. Es war also nicht nur Evita, die sich mit den Gewerkschaftsführern gestritten hat, um sich ihre Verbündeten gefügig zu machen.
Schumann: Von dem anderen großen Mythos, Carlos Gardel, wird gesagt, dass er auf Seiten der konservativsten Kräfte des Landes gestanden habe und natürlich auch von ihnen benutzt wurde.
Abraham: Die politische Haltung von Gardel ist nicht sehr bekannt und wird auch nicht für besonders wichtig gehalten. Gardel feierte seine größten Triumphe sowieso in Europa und machte die meisten Filme in Hollywood und in Frankreich. Sein Ruhm stammt von draußen. Hier ist er jemand, der von einem bestimmten Publikum geschätzt wird und von dem immer wieder gesagt wurde, dass er vor seiner letzten Reise die Theater in Buenos Aires keineswegs gefüllt habe. Die Legende dieses Mannes, der ebenfalls aus einfachen Verhältnissen stammte wie Evita, wie Maradona, beginnt mit seinem Tod 1935 und hat sich erst in den folgenden Jahrzehnten entfaltet. Eine Beziehung zu konservativen Kreisen kann ich mir gut vorstellen, denn in Argentinien gab es so etwas wie einen populären Konservatismus, an dessen Spitze die Caudillos standen, die das Land meist regiert haben. Es ist gut möglich, dass Gardel mit einigen Caudillos befreundet war.
Schumann: Es wird oft von einem "argentinischen Traum" gesprochen. War das der Traum der Immigranten, oder gibt es auch heute noch einen argentinischen Traum?
Abraham: Argentinien ist ein einziger Traum, ein unendlicher. Wir träumen ständig von einem Wunder. Aber gibt es Wunder, oder sind sie nur ein Traum? Wir hoffen immer darauf, dass etwas Großes mit uns passiert, das alles ändert. Ständig wird hier etwas neu begründet, reorganisiert, rekonstruiert. Das ist der argentinische Traum. Ich habe meinen eigenen argentinischen Traum. Aber den teilen die anderen nicht.
Schumann: Und wie sieht der aus?
Abraham: Argentinien soll der ersten Welt gleichen. Das ist mein Traum. Ein Land, das Reichtum für alle erzeugt, in dem ein politisches System mit Freiheitsrechten und anderen Garantien existiert, in dem es ein gutes Bildungswesen gibt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Zugang zu den materiellen Gütern der Zivilisation besitzt. Es ist eigentlich das, was alle wollen, von China über Deutschland bis Paraguay. Das ist ein sozialdemokratischer, republikanischer Traum und wohl nicht die Richtung, in die sich die Welt bewegt. Außerdem gibt es in unserer Geschichte andere Traditionen, von denen ich schon gesprochen habe: den autoritären Caudillo, einen starken Staat, große soziale Konflikte, die in Demokratien mit einer breiten Mittelschicht von dieser verhindert werden, weil sie dem politischen System Stabilität verleiht. Wo es derart riesige Unterschiede gibt wie in unserem Land, da ist es schwer, stabile politische Verhältnisse herzustellen.
Schumann: Dem Peronismus ist das aber anfangs gelungen. Sind denn die beiden Kirchners - diese Familien-Dynastie, von der Sie sprachen - sind sie als Peronisten einzuschätzen?
Abraham: Sie sind ganz und gar Peronisten. Geborene Opportunisten. Ganz ähnlich wie Menem. Sie sind zwar heute seine Feinde, aber sie stammen aus der gleichen politischen Familie. Sie nutzen die Gunst der Stunde, möglicherweise sogar gut. Auch Menem nutzte sie, als es überall Geld gab: Erst privatisierte er die Staatsbetriebe, und dann häufte er einen ungeheueren Schuldenberg an. Kirchner nutzte die Nachfrage nach Rohstoffen und füllte die Staatskasse, so dass er sich politische Abenteuer leisten konnte. Ohne dieses Geld gäbe es ihn nicht.
Schumann: Und jetzt versuchen er und seine Frau sich an der Macht abzuwechseln.
Abraham: Er ist ein Psychopath der Macht. Warum wollen die beiden das ganze Leben lang herrschen? Warum wollte Menem noch ein drittes Mal antreten, obwohl er bereits senil war? Was geht in diesen Köpfen vor sich? Wieso dieser Macht-Wahn? So etwas sehen wir bei unseren Nachbarn nicht: weder in Uruguay, noch in Chile und auch nicht in Brasilien. Politisch ist das nicht zu erklären. Ich sehe darin etwas Psychopathisches, Krankhaftes. Und etwas Peronistisches. Diesen absoluten Wahn hatte auch Perón.
Schumann: Für unsere Hörer sei gesagt: Perón war zunächst von 1946 bis 1955 an der Macht, lebte dann 18 Jahre im spanischen Exil und kehrte 1973 todkrank zurück. Kam er, um zu sterben?
Abraham: Er kam, um uns zu töten. Ein Mann, der mit López Rega als Sekretär, und mit Isabelita als seiner Nachfolgerin ankam, der kam nicht, um zu sterben, sondern um uns umzubringen. Das war sein Geschenk. Es kam auch nicht Perón an, es kamen Isabelita und der sinistre López Rega mit einem Alten an. Und der wollte endlich wieder regieren. Er hatte auch gute Ideen, sprach von Ökologie, von sozialem Frieden und anderen fortschrittlichen Dingen. Aber was war das für ein Mann, der einen Astrologen als Sekretär besaß, welcher sehr rasch eine Terrorbande gründete. Und der einer Frau, die nicht fähig war, ein Haus zu führen, schließlich die Führung eines ganzen Landes übertrug. Ich glaube wirklich, der kam, um uns zu töten.
Schumann: Noch einmal ein paar Fakten: 1974 starb Perón, und es herrschte Isabelita über eines der größten Länder Lateinamerikas, geführt von López Rega, der ein politisches Chaos entfachte. 1976 schlugen die Militärs zu und errichteten das blutigste Terrorregime der neueren Geschichte Argentiniens. 2001 geriet das Land erneut an den Rand des Zusammenbruchs, diesmal unter demokratischem Vorzeichen.
Abraham: Ja, dieses 2001 war ein sehr schwieriger Augenblick, dessen Folgen wir noch immer nicht überwunden haben. Das alles hat Spuren hinterlassen. Nur viele Argentinier tun so, als wäre die Geschichte spurlos vorübergegangen, als ob Perón zurückkehren und wir noch einmal wie 1950 leben könnten, als jeder 5.000 Kalorien täglich zu sich nahm in diesen wenigen Jahren des Erfolgs. Aber die Geschichte hinterlässt Spuren.
Schumann: Was sind die Konsequenzen der Wirtschaftskatastrophe von 2001?
Abraham: Es gibt keine glaubwürdigen Institutionen mehr. In Argentinien vertraut niemand mehr den Politikern, auch nicht mehr den Journalisten und nicht den Richtern, der gesamten Justiz nicht mehr. Das Vertrauen in die Polizei ist verloren gegangen und in die Armee und selbst in die Erzieher, die Eltern eingeschlossen. Es ist sehr schwierig, eine Gesellschaft kulturell zu organisieren, wenn es keine Institution mehr gibt, die geachtet wird. Gegenbeispiele existieren zuhauf. Im Nachbarland Uruguay beispielsweise glaubt die Bürgerschaft, dass der neue und der alte Präsident nicht stehlen. Das ist immerhin etwas. Auch die Chilenen glauben nicht, dass Bachelet gestohlen hat. Sie haben zwar ihre Partei nicht mehr gewählt, aber sie besaß noch immer einen hohen Grad an Zustimmung, als sie ihr Amt aufgab. In diesen Ländern mögen es die Leute, wenn ihre Politiker ehrlich sind. In Argentinien nicht.
Schumann: Dieser Verlust an Werten, den sie gerade skizziert haben, das Misstrauen gegenüber Politikern, gegenüber der Regierung und fast allen Institutionen erinnert mich sehr an ein anderes großes Land im Norden Lateinamerikas: an Mexiko. Dort ist die Situation allerdings sehr viel gravierender durch die Gewaltexzesse der Drogenmafia.
Abraham: Obwohl dieses Land von Argentinien sehr verschieden ist, bestehen doch gewisse Ähnlichkeiten, beispielsweise zwischen der mexikanischen Regierungspartei PRI und dem Peronismus. Andererseits war Argentinien zunächst ein europäisiertes Land. Mexiko hat dagegen einen starken indigenen Einfluss usw. Aber in beiden Ländern existiert diese Unfähigkeit, sich politisch auf breiter Basis zu organisieren. Die Dominanz dieser beiden Parteien hat das verhindert: die PRI 70 Jahre lang, der Peronismus seit 65 Jahren. Doch Mexiko besitzt eine sehr enge Verbindung zu den USA, die Argentinien nie besaß. Argentinien hat immer nach Europa geblickt. Und die USA haben sich nie für Argentinien interessiert.
Schumann: Was sind für Sie, Herr Abraham, die größten Defizite im heutigen Argentinien? Das mangelnde Bildungswesen, die schlechte Gesundheitsfürsorge, die immense Armut und große soziale Ungleichheit?
Abraham: Das alles sind große Defizite. Aber das größte ist diese Unfähigkeit, sich politisch zu organisieren: in der Führungsschicht eine gemeinsame, langfristige Vision von der Zukunft dieses Landes und der künftigen Regierungspolitik zu entwickeln. Sich zu fragen: Welches sind die unverrückbaren Ziele in den nächsten 20, 30 Jahren? Welche strategischen Prioritäten müssen gesetzt werden? Hier werden alle vier, fünf Jahre die Grundsätze gewechselt über die Verbündeten, die wir brauchen, über die Rolle, die wir auf dem Weltmarkt einnehmen wollen, über das defizitäre Bildungswesen, über die wirtschaftliche Entwicklung. Die Chilenen haben das verstanden und schon früh einen nationalen Konsens hergestellt zwischen der christ- und sozialdemokratischen Concertación und der neuen rechten Regierung. Auch in Uruguay wird das jetzt versucht: Die Regierung der linken Frente Amplio schafft eine Basis der politischen Stabilität für die Zukunft, indem sie gewisse Grundsätze der oppositionellen Parteien der Colorados und Blancos respektiert.
Schumann: Aber in diesen Ländern herrschen auch ganz andere politische Voraussetzungen.
Abraham: Doch andernfalls existieren die Auswirkungen dieser Defizite auf allen Ebenen weiter: das fortgesetzte Improvisieren von Politik, das Fehlen von Rechtssicherheit und damit verbunden das Fehlen von Investitionen und die Kapitalflucht. Diese Faktoren machen es sehr schwer, eine gute Bildung zu entwickeln.
Schumann: Gut, es fehlt ein nationaler Konsens. Aber fehlt nicht auch ein nationales Bewusstsein auf Seiten der Wirtschaft für die Probleme des Landes, ein Bewusstsein, das ich beispielsweise in Brasilien sehe? In der dramatischen Krise zwischen 1999 und 2002 hat eine unaufhörliche Kapitalflucht stattgefunden, wurden ganze Industrien abgewickelt, weil sie nicht die gewünschten Profite abwarfen.
Abraham: Colin Powell hat einmal gesagt: Das Geld ist feige. Und zwar überall auf der Welt. Es geht dorthin, wo es keine Angst hat. Und hier hat es sehr viel Angst.
Schumann: Warum?
Abraham: Weil hier die Ersparnisse ständig verdampfen. Was man auf die Bank bringt, verschwindet. Was weltweit bei den Großbanken passiert ist, passiert hier ständig. Bei einer Hyperinflation von 2.000 Prozent wie Ende der 80er-Jahre hatte man keine Peso mehr, sondern Dollar, Gold oder Ziegelsteine unterm Bett versteckt oder im Ausland angelegt. Wenn ein Staat die Banken für seine Zwecke benützt, neue gründet und am Schluss nichts übrig bleibt - wie es um 2001 geschehen ist; wenn man an sein Erspartes nicht mehr herankommt oder lediglich Bons mit einer Laufzeit von 30 Jahren erhält; wenn man Geld in einen Fond investiert und Seňor Macri, der Besitzer der Autobahn del Sol, die Auszahlung verweigert - da investiert man doch nur noch das Nötige.
Schumann: Aber in die Landwirtschaft wurde doch kräftig investiert.
Abraham: Auf dem Land wurde sehr viel in Technik investiert wegen der steigenden Nachfrage nach Soja. Aber selbst dort gab es sehr viel Kapitalflucht. Der Regierung fielen immer neue Steuern ein, die sie dann wieder reduziert hat, um wieder neue zu erlassen, sie wieder abzuschaffen und so weiter. Es gibt hier keine Spielregeln, sondern einen wirklich wilden Kapitalismus. Aber nicht diesen globalisierten, der hat Regeln. Dieser hier hat keine. Ich würde also nicht von mangelndem Patriotismus sprechen. Der Argentinier ist nicht weniger argentinisch als der Deutsche deutsch. Hier gilt jedoch: Wenn ich so viel einsetze, muss so viel rauskommen, egal, was es kostet. Das ist die Spielregel nach der in Argentinien die Herrschenden seit 50, 60 Jahren Politik machen.
Schumann: Tomás Abraham, ich möchte zum Schluss noch mal auf den Anfang zurückkommen, auf die argentinische Identität. Ist der Peronismus, diese Bewegung, die einzigartig ist in Lateinamerika, ja auf der Welt, ist dieser Peronismus Teil der argentinidad?
Abraham: Möglicherweise. Wenn man zehn Peronisten zusammenbringt, dann denken alle zehn ganz verschieden. Und zwar über alles, auch über die Politik. Trotzdem empfinden sie sich als Peronisten. Wieso? Unser neuer Außenminister heißt Héctor Timerman: Er ist Peronist und zwar seit zwei Wochen, seit seiner Nominierung. Jeder, der in Argentinien politisch etwas werden und nicht gleich wieder verschwinden will, wird Peronist. Wer nicht will, dass die übermächtige Gewerkschaft CGT ständig das Land mit Streiks lahmlegt, muss Peronist sein. Das ist wie eine Sprache, die man beherrschen muss. Beziehungsweise ein System der Loyalität. Diese Form der Identität hat nichts mit argentinidad zu tun, es ist eine peronidad. Eine bestimmte Vorstellung von Macht, die manchmal psychopathische Züge annehmen kann.