Sabine Adler: Hermann Gröhe, die wenigsten Menschen in Deutschland werden Sie kennen, was sich jetzt demnächst ja ziemlich schnell verändern wird. Erklären Sie doch den Hörerinnen und Hörern des Deutschlandfunks hier im Interview der Woche bitte, warum ein Mann wie Sie, der leise Töne von sich gibt, ein Amt übernommen hat, in dem er "holzen" muss. Wie geht das zusammen?
Gröhe: Also richtig ist, dass ich im Kanzleramt und vorher in der Fraktion eher hinter den Kulissen gearbeitet habe, jetzt mehr auf die Bühne gehöre. Aber "holzen" ist nicht für mich die Jobbeschreibung eines Generalsekretärs. Es geht um programmatische, es geht um öffentliche Positionierung. Das setzt voraus, dass man Klartext sprechen kann, auch mal in der Abgrenzung zum politischen Wettbewerber, aber nie unter der politischen Gürtellinie. Es soll fair zur Sache gehen, aber es soll zur Sache gehen. Also, da wird vielleicht auch mancher eine neue Seite an mir entdecken.
Adler: Sie müssen schon zuspitzen, Sie müssen pointieren, das können Sie auch?
Gröhe: Keine Sorge. Die Entscheidung der Bundesvorsitzenden, der Bundeskanzlerin, mich vorzuschlagen, ist ja von ihr selber begründet worden etwa auch mit einem jahrelangen Engagement in meiner eigenen, der Evangelischen Kirche, und dass wir etwa die Verwurzelung unser Programmatik in christlicher Überzeugung besonders wichtig ist, und dass es in ihr auch gerade in der Mitgliedschaft, aber darüber hinaus - das merken wir im Gespräch mit den Kirchen - immer wieder den Wunsch gibt, so eine Grundsatzorientierung auch bei aller Tagespolitik deutlich werden zu lassen, das mag einer der Gründe für die Entscheidung gewesen sein. Insofern ist das eine spannende Herausforderung.
Adler: Das heißt, es klingt ein bisschen so, als seien Sie jetzt der Mann für's Konservative in der Partei.
Gröhe: Das wäre eine Kurzfassung, um es vorsichtig auszudrücken. Ich bin übrigens der Meinung, dass es schon eine Kurzfassung ist, das Christliche mit dem Konservativen gleichzusetzen. Zu einem christlichen Gesellschaftsbild gehört etwa Wertschätzung für die Familie. Aber die Armutsbekämpfung, der Klimaschutz - all das sind zutiefst im christlichen Glauben verankerte politische Zielsätze. Wir sind die CDU, nicht die KDU, aber wir sind eine wertkonservative Partei. Insofern wertkonservativ ja, aber gleichzeitig offen für das pralle Leben.
Adler: Programmatik spielt beim SPD-Parteitag in Dresden natürlich auch eine ganz große Rolle. Da ist eine Partei auf der Suche nach einem neuen Profil. Wenn Sie das verfolgen - so zusagen als Aufgabe der Feindbeobachtung oder der Beobachtung des politischen Gegners an diesem Wochenende? Schwingt da vielleicht auch so ein bisschen die Befürchtung mit, dass die CDU möglicherweise in ein paar Jahren das gleiche durchleben und durchleiden muss wie die SPD?
Gröhe: Ich kann den dramatischen Niedergang der SPD jedenfalls nicht mit Häme beobachten. Das ist kurzzeitig natürlich parteipolitischer Gewinn, wenn der wichtigste Wettbewerber - ich würde nie vom "Feind" sprechen - der wichtigste Wettbewerber fast in sich zusammenbricht. Das mag uns kurzfristig nutzen, stärkt unsere Ausgangslage für die Landtagswahlen und anderes mehr. Ich bin davon überzeugt, die Idee der Volkspartei hängt mit der Erfolgsgeschichte Bundesrepublik Deutschland so zusammen, dass ich nicht nur wünsche, dass sich die CDU als erfolgreiche, möglichst stärkste Volkspartei weiterhin in diesem Land aufstellt, sondern ich glaube, es tut unserer Gesellschaft gut, wenn es mehr als einen Anwendungsfall der Volkspartei gibt und die SPD dafür sich just 50 Jahre, nachdem sie sich mit dem Godesberger Programm der Volkspartei-Idee, die sozusagen dem Gründungsimpuls der CDU entstammt, dass sie den '59 nachvollzogen hat und sich jetzt abwendet und jetzt sagt - aus Angst vor der Konkurrenz der Linkspartei: "Scharfer Linkskurs". Das kann uns nur mit Sorge erfüllen, einerseits ist es eine Chance: Wir gehen voll in die Mitte, wir sagen enttäuschten Steinbrück-Anhängern: "Willkommen bei uns, wenn Ihr diesen Linkskurs nicht mitmachen wollt." Aber insgesamt glaube ich: Volksparteien, die der Gesellschaft eine Integrationsleistung abnehmen, tun dem Land gut. Und es ist auch für die Union durchaus gut, wenn wir da mit einer anderen Partei wetteifern. Und wenn die SPD auf einen scharfen Linkskurs weiter einfährt, dann wird es auch unsere Fähigkeiten mittelbar betreffen, wenn wir nicht sehr aufpassen, breit aufgestellt viele Menschen anzusprechen. Im übrigen bleibt es höchst unglaubwürdig, der Agenda 2010 den Rücken zuzuwenden und gleichzeitig mit Steinmeier den Vollstrecker Schröderscher "Basta"-Politik als Oppositionsführer zu präsentieren, das ist in sich nicht schlüssig. Aber, wie gesagt, darüber ist man im Augenblick eher entsetzt als dass man hämisch darüber jubiliert.
Adler: Das Interview der Woche heute mit dem - noch kommissarischen - CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. Herr Gröhe, Sie haben das Stichwort genannt: Man muss aufpassen, aufpassen, dass man zum Beispiel - was man von der SPD lernen kann - Diskussionen nicht unter'm Deckel hält. Was für die SPD die Agenda 2010, Hartz IV oder auch das Verhältnis zur Linkspartei ist, das haben Sie in der CDU ja so ähnlich mit der Bestimmung des Wirtschaftskurses. Soll der eher ein bisschen sozialdemokratischer ausgerichtet sein oder neoliberal? Das ist eine Diskussion, die selbst im Wahlkampf parteiintern nicht geführt wurde. Ist das etwas, was man jetzt dringend nachholen muss?
Gröhe: Also, wir müssen weiter diskutieren. Aber wir haben diskutiert, wir haben natürlich im Vorfeld der Erfurter Erklärung sehr genau die Frage - erinnern Sie sich an die deutliche Positionierung des nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden, der das Soziale betont hat, erinnern Sie sich an die deutliche Betonung anderer, die gesagt haben: Vergesst den Leipziger Parteitag nicht. Also, da hat es Diskussionen gegeben und die . . .
Adler: . . . das sind zwei Pole, entschuldigen Sie, dass ich da einhake, das sind nun zwei Pole, die genau das offen lassen, was die Partei eben für sich nicht gelöst hat. Auf der einen Seite der Arbeiterführer - ganz klar sehr viel sozialer ausgerichtet, auf der anderen Seite das Leipziger Programm, das eben für den neoliberalen Kurs steht.
Gröhe: Aber wir wären nicht die Volkspartei, wenn wir nicht beide Stimmen hätten. Es wäre ganz falsch, wenn wir sagen würden: Wer hat denn jetzt recht, und dann entweder nur auf den Wirtschaftsflügel oder nur auf den Sozialflügel setzen.
Adler: Bislang beantworten Sie es überhaupt nicht.
Gröhe: Doch, wir beantworten es damit, dass wir deutlich machen: Es gibt im Regierungshandeln beispielsweise klare Wachstumsimpulse. Das ist, wenn Sie so wollen, auf Wirtschaftswachstum, auf Wirtschaftsfreundlichkeit, auf "Mitte stärken" orientiert, und gleichzeitig wird die langjährige Forderung von Jürgen Rüttgers "rauf mit dem Schonvermögen bei Hartz IV, rauf mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten" mit einer ausgesprochen sozialen Komponente ganz zu Beginn dieser Regierungszeit ebenfalls beantwortet. Volkspartei darf nicht soziale Gerechtigkeit gegen wirtschaftliche Vernunft ausspielen, sondern muss beides zusammenhalten. Das ist unser Erfolgskonzept. Sonst wären wir eine Kopie anderer Parteien.
Adler: Haben Sie die Befürchtung, dass, wenn Ihnen das nicht gelingt, Sie vielleicht in ein paar Jahren genau einen solchen Parteitag, wie ihn jetzt die SPD abhält, selber erleben werden, dass Sie Reste der Partei zusammenkratzen, dass Sie ein Scherbengericht haben und dass das Ende der Volkspartei leider konstatiert werden muss?
Gröhe: Diese Sorge habe ich nicht und ich bin auch froh, dass sich in allen Krisen die Volksparteiidee - und die Volkspartei ist oft rhetorisch zu Grabe getragen worden - als Stärke erwiesen hat. Aber der Erfolg einer Volkspartei, unterschiedliche Positionen auf einem gemeinsamen Fundament zusammenzuhalten, den hakt man nicht ab und legt ihn zu den Akten, sondern den erringt man jeden Tag im Regierungshandeln neu, in parteipolitischer Programmatik neu. Insofern ist das eine bleibende Herausforderung. Die gehen wir aber nicht mit Angst, sondern mit Zuversicht an.
Adler: Und wahrscheinlich kann man sie auch nur dann erringen, wenn man die parteiinternen Diskussionen eben führt und nicht einfach beiseite schiebt und aussitzt. Eine solche Diskussion, die meines Erachtens jedenfalls nicht geführt worden ist, ist die Auswertung des schlechten Abschneidens bei der Bundestagswahl 2005. 2009 wurde das zweitschlechteste Ergebnis eingefahren, auch da hat die Auswertung nicht stattgefunden. Muss die Partei anfangen, sich auch ein bisschen mehr mit sich selbst zu beschäftigen?
Gröhe: Mit sich selbst beschäftigen - nein. Wir sind für die Menschen in diesem Land da. Aber wir erörtern das Wahlergebnis. Im Januar wird eine Klausurtagung stattfinden. Wir sind derzeit dabei, die verschiedenen Daten zusammen zu tragen. Ich höre sehr genau in die Partei hinein, besuche Landesverbände, besuche die Vereinigungen. Da wird viel gesprochen über Wahlkampferfahrung, über die Erfahrung der Zeit der großen Koalition. Wir werden das diskutieren, nur werden wir nicht einen öffentlichen Streit unnötig bieten. Mancher glaubt, eine Partei diskutiert nur, wenn sie sich öffentlich fetzt. Das haben wir nicht vor. Aber es wird nichts unter den Teppich gekehrt. Das Wahlergebnis lässt deutlich Luft nach oben. Wir wollen besser werden und deswegen werden wir auch über das offen reden, was nicht so gut gelaufen ist.
Adler: Den öffentlichen Streit, den die Partei nicht bieten soll, bietet derzeit die Regierungskoalition. Sie streiten sich so zusagen über jede der wichtigen Fragen, die jetzt überhaupt ansteht, so öffentlich, dass man eigentlich erstaunt sein könnte, ob jetzt schon regiert wird oder noch Koalitionsverhandlungen laufen. Stichwort ist die Steuerpolitik, Stichwort ist auch die Rentenpolitik. Wie bewerten Sie den Auftakt der Regierungsarbeit? Ist das ein Auftakt nach Maß?
Gröhe: Wir haben in schwieriger Zeit ein erfolgversprechendes Programm auf den Weg gebracht. Wir haben die kürzesten Koalitionsverhandlungen gehabt, die es je gegeben hat . . .
Adler: . . . was sich jetzt möglicherweise rächt . . .
Gröhe: . . . nein, was zeigt, dass es richtig ist, sich auf Grundprinzipien zu einigen, aber zu akzeptieren, dass die größten Herausforderungen im laufenden Regierungshandeln auf einen zukommen und nicht in Koalitionsverhandlungen vorweg genommen werden. Da ist sicher einerseits der Umstand, dass man sich vertraut, dass es auch die Wunschpartner sind des Wahlkampfes, wir sind gemeinsam letztlich angetreten. Aber dass es da mal knirscht - wir sind drei Parteien, wir haben eine Koalition geschlossen, keine Fusion. Und das ist doch normal, wir bleiben die CDU Deutschlands so wie die FDP die FDP und die CSU die CSU bleibt. Zweitens: Wir handeln sofort, wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz sofort auf den Weg gebracht, wir setzen Maßnahmen zum 1.1.2010 um. Und dass wir, da wo wir gesagt haben: Wir werden im Lauf des nächsten Jahres bestimmte Diskussionen zu einem Ende führen, zu einem Ergebnis führen in der Gesundheitspolitik, in der Steuerpolitik - auch eine öffentliche Debatte haben, das ist so, das kann man heute nicht mehr alles hinter verschlossener Tür. Da gefällt mir vielleicht auch nicht jeder Zwischenton, aber ich bin sicher, wir werden die Dinge zusammen zu einem guten Ergebnis führen.
Adler: Bleiben wir noch mal bei dem Auftakt der Regierungsarbeit in dieser Woche. Im Bundestag haben sich die ernannten Minister vorgestellt - mal mit mehr Glanz, mal mit weniger Glanz. Heftig angefeindet worden ist der Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der sich einen schweren Vorwurf anhören musste von Ihrem Noch-Generalsekretär-Kollegen jedenfalls am Mittwoch im Bundestag, von Hubertus Heil, der nämlich gewarnt hat, dass Rainer Brüderle möglicherweise der neue Problembär der Bundesregierung sein würde - in Anlehnung an Michael Glos, dem doch etwas glücklosen Vorgänger. Konnten Sie sich keinen besseren Wirtschaftsminister vorstellen?
Gröhe: Also, die FDP hat den Vorschlag gemacht, und die SPD hat immerhin auch Leute, die sehr loben, wie erfolgreich Rainer Brüderle in Rheinland-Pfalz Wirtschaftspolitik gemacht hat. Damals war er noch der Liebling der SPD, weil er für eine sozial-liberale Koalition stand. Herr Heil zeigt jetzt eine gewisse Flexibilität, indem er meint, draufhauen zu müssen. Das ist Oppositionsrolle. Das Entscheidende: Ich habe selber die Koalitionsverhandlungen mit Herrn Brüderle die Wirtschaftspolitik verhandelt und da gibt's ein großes gemeinsames Fundament. Im Zentrum steht der Mittelstand, im Zentrum steht ein klarer Ordnungsrahmen, die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft. Da ziehen wir an einem Strang. Wir bleiben in unterschiedlichen Parteien, es wird auch mal im Kleingedruckten haken. Aber die gemeinsame Richtung ist klar.
Adler: Wann wird sich denn die Koalition einig, welche Politik der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble machen soll?
Gröhe: Wolfgang Schäuble ist als Finanzminister in gleicher Weise an der Umsetzung des Koalitionsvertrages orientiert, wie er selbstverständlich in besonderer Weise die Verantwortung für die mittelfristige Gesundung unserer Staatsfinanzen für das Erreichen der Ziele, das wir mit der Schuldenbremse gesetzt haben, hat. Und er macht das in sehr verantwortlicher Weise.
Adler: Gegen den die FDP vorgeht, als gelte es nach wie vor, Oppositionskraft zu beweisen.
Gröhe: Also, Peer Steinbrück hat ja Wolfgang Schäuble bei der Amtsübernahme darauf hingewiesen, dass sich jeder Finanzminister, der seine Aufgabe ernst nimmt, immer einmal auch Pfeile der Kollegen zuzieht, die naturgemäß eher fordern, während er eher zusammenhalten muss. Das kann jemand mit der Statur und dem politischen Gewicht von Wolfgang Schäuble gut aushalten. Und Kurs halten, das ist das Wichtigste. Und wir werden uns verständigen. Wir sind in den Grundprinzipien einig. Wir sind davon überzeugt, dass wir die kleineren und mittleren, nicht die großen, sondern die kleineren und mittleren Einkommen und die Familien entlasten wollen. Erste Schritte, übrigens zum Teil schon eingeleitet von der großen Koalition, gehen wir jetzt zum 1.1.2010. Und wir werden vor allem im Lichte natürlich des Erfolgs dieser Maßnahmen, das Anspringen des Wachstumsmotors, wenn dann im Mai des nächsten Jahres die Steuerschätzung kommt, das tun, was die Koalitionsvereinbarung sagt, nämlich: mit der Zielperspektive eines transparenteren niedrigeren Steuersystems dann entscheiden, wie viele Stufen, wie wird der Tarif ausgestaltet. Unser Ziel ist Entlastung, um durch den Wachstumsmotor dann auf den Konsolidierungspfad wieder einzuschwenken. Wir können uns nicht in der Krise kaputtsparen. Das hat man uns vor fünf Jahren empfohlen. Der Erfolg der letzten Legislaturperiode, was das Wirtschaftswachstum angeht, wäre nicht gekommen, wenn wir auf die Stimmen gehört hätten, die uns damals wie heute nur einen rigiden Sparkurs empfohlen hätten. Aber es bleibt bei dem Ziel. Wir waren die Anwälte als CDU der Schuldenbremse im Grundgesetz. Es bleibt bei dem Ziel, nach der Bewältigung der Krise aus der Krise heraus in den Konsolidierungspfad klar wieder einzufädeln.
Adler: Das heißt mit anderen Worten: Wenn die Steuerschätzung erst im Mai kommt, werden Sie sich auch erst im Mai - wunderbarerweise - nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen damit beschäftigen müssen?
Gröhe: Also, zunächst haben wir weder die Steuerschätzung terminlich festgelegt, noch die Landtagswahl Nordrhein-Westfalen. Aber das ist doch klar, dass man eine Steuerschätzung zum Ausgangspunkt zukünftiger Steuerpolitik macht.
Adler: Aber das ist ja nicht was völlig Überraschendes, was da kommen wird...
Gröhe: Na ja, das können Sie so nicht sagen. Wenn Sie jetzt sehen, dass die Wachstumsprognosen alle jetzt schon nach oben korrigiert werden, dann zeigt sich: Die Maßnahmen greifen. Und wenn jetzt die neuen Maßnahmen zum 1.1.2010 in gleicher Weise greifen, gewinnen wir Spielraum. Wir wollen den Spielraum. Die Union steht ohne Wenn und Aber zum Koalitionsvertrag.
Adler: Ein ebenso öffentlicher Streit wie der um die Steuerreform ist in dieser Woche zu beobachten gewesen, was die Rente mit 67 angeht. Öffentlicher hätte man es gar nicht machen können, nämlich im Bundestag wurde der diskutiert, ob tatsächlich ein fließender Übergang in die Rente mit 67 kommen soll, so wie die FDP das gerne möchte, oder ob es dabei bleibt: eine Rente mit 67 erst mal als Gesetz und eigentlich unumstößlich. Worauf haben sich die Menschen einzustellen? Muss man das ganze Thema möglicherweise noch mal anpacken, auch im Hinblick auf die SPD, die es ja auch wieder thematisiert.
Gröhe: Die Entscheidung, zur Rente mit 67 zu kommen, ist richtig. Sie ist ein Ausdruck von Generationenfairness und sie trägt auch dem Umstand Rechnung, dass wir immer älter und, Gott sei Dank, auch immer fitter älter werden. Und mit Verlaub, die Rente mit 67 haben wir im Jahr 2029. Wir wachsen langsam hinein. Es gibt zur Stunde nicht die Rente mit 67, sondern wir wachsen langsam hinein. Und 2029 werden wir alle schon wieder erfreulicherweise zwei Jahre ungefähr mehr Lebenserwartung haben. Das ist ungefähr die Zeit, die wir dann auch länger arbeiten werden, sonst sprengt es die Sozialkassen.
Adler: Noch mal neu gefragt: Wird sich die Koalition mit diesem Thema noch mal neu beschäftigen müssen?
Gröhe: Wir stehen zu dem, was im Gesetz steht: Einer Evaluierung. Und wir werden besondere Anstrengungen unternehmen müssen, Ältere im Arbeitsmarkt zu halten. Das wird aufgrund der demografischen Entwicklung im Jahre 2029 übrigens nicht mehr das Problem sein. Dann wird man alles tun, um mit humanen Arbeitsbedingungen Menschen lange wegen mangelnder nachwachsender junger Menschen im Arbeitsprozess zu halten. Ich bin sehr dafür, dass man Menschen größtmögliche Freiheiten lässt, aber jeder muss wissen, dass dann eine frühere Verrentung nicht quasi abschlagsfrei geht. Wenn die SPD sich jetzt von einem Kernstück Münteferingscher Sozialpolitik verabschiedet und gleichzeitig sagt, Rente mit 60, und dann sagt Frau Nahles: Mit möglichst geringen Abschlägen, dann streut sie den Menschen Sand in die Augen. Das können die Beitragszahler nicht leisten. Das wird es nicht geben. Es kann Flexibilität geben, aber Flexibilität bedeutet dann auch ein Stück Verzicht. Wer eher in die Rente geht, wird weniger bekommen als der, der die gesetzliche Rentenzeit erfüllt.
Adler: Noch mal nachgefragt: Werden Sie dieses Thema noch mal aufrollen?
Gröhe: Wir werden das Gesetz vollziehen und wir werden eine Arbeitsmarktpolitik machen, die einer sinnvollen Umsetzung dieses Gesetzes gerecht wird.
Adler: Kommen wir zum nächsten Streitpunkt hier im Interview der Woche mit Hermann Gröhe, dem CDU-Generalsekretär, das Stichwort Gesundheitsreform. Es gibt große Vorbehalte, dass die Beitragszahler allein die steigenden Kosten des Gesundheitswesens zahlen müssen, dass die Arbeitgeber außen vor gelassen werden, weil ihr Beitragssatz eingefroren wird. Wie können Sie diese Vorbehalte zerstreuen, dafür sorgen, dass die Gesundheitsreform auch unter sozialen Kriterien Bestand hat?
Gröhe: Gerade die Union, CDU und CSU, stehen als Volksparteien dazu, dass Gesundheitspolitik sicherstellen muss, dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen die notwendige Medizin auf dem Niveau, das in unserem Land, Gott sei Dank, möglich ist, nämlich Spitzenniveau für alle, auch erhalten. Dabei bleibt es ohne Wenn und Aber. Es geht um die Gestaltung des Sozialausgleiches. Sozial ist, die Menschen in Arbeit zu halten durch stabile Lohnnebenkosten und gleichzeitig über einen funktionierenden Sozialausgleich alle an gesundheitlichen Leistungen teilhaben zu lassen. Und da ist ein steuerlicher Sozialausgleich zugegebenermaßen schwer technisch zu gestalten. Deswegen die Kommission. Das ist kein leichtes Unterfangen. Wir werden niemanden zum Bittsteller machen. Aber es ist nicht einfach, hier die beiden Systeme in sinnvoller Weise miteinander zu verknüpfen. Ich glaube aber, wir können es. Dann beteiligen sich selbstverständlich mehr durch das Steueraufkommen am Sozialausgleich, selbstverständlich auch die Unternehmen, die Steuern zahlen, selbstverständlich auch die privat Krankenversicherten, die Steuern zahlen. Ein gut gemachter Sozialausgleich über die Steuer ist nicht weniger solidarisch, sondern solidarischer als ein volles Ankoppeln an Arbeitskosten, das Arbeitsplätze mittelfristig gefährdet.
Adler: Wie groß ist denn die Aussicht, dass tatsächlich Arbeitgeber aufgrund des eingesparten Schwankungsbeitrages - nennen wir es mal so -, der durch höhere Gesundheitskosten zustande kommen könnte, tatsächlich auch nur einen Arbeitsplatz mehr schaffen?
Gröhe: Also, wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass eine Senkung der Arbeitskosten die Chancen auf Beschäftigung erhöht. Und darin war sich übrigens die große Koalition völlig einig. Seinerzeit war die SPD gerade der Meinung, Abgaben sind problematischer als Steuern und wollte alles tun, um die Lohnnebenkosten zu senken. Wir wollen das auch. Wir wollen die Lohnnebenkosten stabil halten. Im übrigen ist es dem Arbeitnehmer ziemlich egal, ob es die Lohnnebenkosten sind, die sein Netto reduzieren, oder die Steuern. Aber entscheidend ist, dass wir sagen, die teilweise Abkopplung von Gesundheitskosten von den Arbeitskosten ermöglicht beides: Gesundheitsvorsorge auch für Menschen mit kleinem Einkommen, aber bessere Chancen am Arbeitsmarkt.
Adler: Das, was die Menschen erlebt haben, zum Beispiel bei der Rentenversicherung, ist: in der Tat stabile Rentenbeiträge. Aber es ist ihnen die Zusatzversicherung privat aufgebürdet worden. Das hat zur Folge, dass diejenigen, die sich die Riesterrente leisten können, es wahrscheinlich auch tun, dass die Armen diese Rente mitbezahlen, weil sie über Steuern ja subventioniert wird, dass aber eine Riesterrente für die Armen nicht erschwinglich ist. Und wenn jetzt über die Gesundheitsreform geredet wird, befürchten vor allem Arme natürlich, dass ihnen das Gleiche noch mal passiert.
Gröhe: Also, ihnen wird ja auch kräftig Angst gemacht, was unverantwortlich ist. Die Menschen wissen in diesem Land, sie können sich darauf verlassen, wer krank ist, wer einen Unfall hat, der kann zum Arzt und erhält medizinische Versorgung, um die man uns weltweit beneidet. Das erhält der, der in der AOK ist, das erhält der Arbeitslose und das erhält der Beamte und der Selbständige. Das ist richtig so und dabei wird es bleiben. Und was Sie zur Riesterrente gesagt haben was die Armen angeht, Sie wissen, dass die, wenn Sie damit wirklich die Niedrigsteinkommen meinen, gar keine Steuern zahlen. Also, mit Verlaub, kein Armer subventioniert durch sein Steueraufkommen die Riesterrente eines Reichen.
Adler: Kann sie sich aber auch nicht leisten.
Gröhe: Nein, deswegen haben wir die Riesterrente, die - mit Verlaub - ja nicht Ausdruck einer neoliberalen Politik war, sondern der Stolz einer SPD-geführten Bundesregierung, sie in Zeiten der große Koalition verbessert, damit mehr Menschen - und die Tatsache hat uns Recht gegeben - in die staatliche Förderung gelangen ihrer privaten Altersvorsorge. Im übrigen ist das insofern ein gutes Beispiel, als es zeigt: Wir wollen nicht die Sozialsicherungssysteme auf Kapitaldeckung komplett umstellen, sondern wir wollen das solidarische, das Umlageprinzip, das die Rentenversicherung trägt, um Elemente des Ansparens ergänzen. Das haben wir getan in der so genannten Riesterrente. Das hat schon die große Koalition im Koalitionsvertrag gehabt für die Pflegeversicherung. Schon damals stand drin, wir brauchen neben der Umlage gleichsam den Sparstrumpf, die Rücklage. Leider ist es am SPD-Widerstand gescheitert. Jetzt steht es wieder in der Koalitionsvereinbarung. Wir ersetzen nicht die Umlage durch Kapitaldeckung, sondern wir ergänzen sie. Das macht sie demografiefester, das macht sie krisenfester.
Adler: Sie haben auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verwiesen, das Anfang des Jahres in Kraft treten soll, so es der Bundestag bis dahin verabschiedet. Bestandteil wird unter anderem sein die Anhebung des Kindergeldes und die Anhebung des Kinderfreibetrages. Das sind beides Maßnahmen, die unterschiedlich nützlich sind. Die Anhebung des Kinderfreibetrages ist sozial ungerecht. Warum wieder eine solche Maßnahme, die genau denen mehr Geld in die Taschen bringt, die es ohnehin nicht nötig haben?
Gröhe: Ein Freibetrag ist nicht ungerecht, er ist übriges wiederholt vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich geboten worden. Dass die Kosten für ein Kind nicht gleichzeitig voll besteuert werden können, das ist Ausdruck eines gerechten Steuersystems. Das hat das Bundesverfassungsgericht, ich wiederhole mich, wiederholt festgehalten. Es stärkt die Mitte, und wir wollen die Mitte stärken, damit wir die Kraft haben, den Schwachen zu helfen. Zweitens: Wir haben das Kindergeld in der letzten Legislaturperiode erhöht. Wir erhöhen es jetzt. Es hat jahrelang unter Rot/Grün eine Durststrecke für Kinder gegeben. Wir haben erhöht: den Kinderzuschlag. Diesen Weg werden wir auch für Niedrigeinkommen weiter gehen. Also wir werden darauf achten, dass wir sowohl bei den Familien für die 240 Euro im Jahr mehr pro Kind, die schon auch eine gute Unterstützung ist, etwas tun. Und wir gehen gleichzeitig den Weg im Steuerrecht, den ein gerechtes Steuersystem gebietet.
Adler: Wie kommentieren Sie den ersten Sündenfall der Koalition, der darin besteht, die Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen zu senken? Das in einer Koalition, die sich nun wirklich Subventionsabbau auf die Fahnen geschrieben hat, die ordnungspolitisch immer die Musterschüler sein wollten, ausgerechnet so etwas kommt jetzt als eine der allerersten Maßnahmen in dieser neuen Regierung?
Gröhe: Ich weiß, dass das keine unumstrittene Maßnahme war. Es ist ja auch kein Geheimnis, dass das eher das Herzensanliegen der beiden anderen Koalitionsparteien war als unserer, aber ich nehme die Besonderheit im Süden, Südwesten, auch im Norden von Deutschland, also in starken Tourismus wahr, dass die Konkurrenz beispielsweise eines bayerischen Hoteliers, der über die Grenze mit dem Salzburger Land konkurriert, wo es selbstverständlich niedrige Steuersätze für Gastronomie und Hotelerie gibt, dass das mit dem deutschen Tourismus, in dem sehr viele Menschen, übrigens auch Menschen mit geringer Qualifikation, Arbeitsplätze finden, ein wichtiger Punkt ist. Und insofern: Man kann über die Priorität streiten, aber dass das Sinn macht, Menschen deutlich zu machen, du kannst auch Urlaub in Deutschland machen und der muss nicht zwingend viel teurer sein, als wenn du weit weg fliegst, ist eine gute Sache, und insofern habe ich keinen Anlass, mich von dieser Maßnahme zu distanzieren.
Adler: Ist das ein erster Vorgeschmack darauf, dass, wenn man falsche Entscheidungen sieht, dass man sie als Generalsekretär dennoch schönreden muss?
Gröhe: Überhaupt nicht, denn es ist keine falsche Maßnahme. Es ist eine Maßnahme, die den deutschen Tourismus stärkt. Man hätte allenfalls darüber streiten können, zu welchem Zeitpunkt, ob man es erst macht, wenn man insgesamt sich die Mehrwertsteuersätze, den ermäßigten und den vollen, ansieht. Die Europäische Union hat diese Möglichkeit vor kurzem eröffnet. Dass die Länder, die besonders in Deutschland vom Tourismus leben, darauf drängen, dafür habe ich Verständnis. Und ich muss nichts schönreden, sondern es sichert Arbeitsplätze an vielen Teilen unseres Landes.
Adler: Herr Gröhe, sagen Sie uns zum Schluss, worauf Sie sich freuen in diesem Amt.
Gröhe: Ich freue mich sehr darauf, Verantwortung für eine Partei zu tragen, weil mich die Idee einer Volkspartei, die Junge, die Alte, die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, Männer, Frauen einlädt, gemeinsam dieses Land zu gestalten, diese Idee in eine gute Zukunft zu tragen, Menschen einzuladen, bei uns mit zu tun, eine tolle Sache finde.
Adler: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Gröhe: Also richtig ist, dass ich im Kanzleramt und vorher in der Fraktion eher hinter den Kulissen gearbeitet habe, jetzt mehr auf die Bühne gehöre. Aber "holzen" ist nicht für mich die Jobbeschreibung eines Generalsekretärs. Es geht um programmatische, es geht um öffentliche Positionierung. Das setzt voraus, dass man Klartext sprechen kann, auch mal in der Abgrenzung zum politischen Wettbewerber, aber nie unter der politischen Gürtellinie. Es soll fair zur Sache gehen, aber es soll zur Sache gehen. Also, da wird vielleicht auch mancher eine neue Seite an mir entdecken.
Adler: Sie müssen schon zuspitzen, Sie müssen pointieren, das können Sie auch?
Gröhe: Keine Sorge. Die Entscheidung der Bundesvorsitzenden, der Bundeskanzlerin, mich vorzuschlagen, ist ja von ihr selber begründet worden etwa auch mit einem jahrelangen Engagement in meiner eigenen, der Evangelischen Kirche, und dass wir etwa die Verwurzelung unser Programmatik in christlicher Überzeugung besonders wichtig ist, und dass es in ihr auch gerade in der Mitgliedschaft, aber darüber hinaus - das merken wir im Gespräch mit den Kirchen - immer wieder den Wunsch gibt, so eine Grundsatzorientierung auch bei aller Tagespolitik deutlich werden zu lassen, das mag einer der Gründe für die Entscheidung gewesen sein. Insofern ist das eine spannende Herausforderung.
Adler: Das heißt, es klingt ein bisschen so, als seien Sie jetzt der Mann für's Konservative in der Partei.
Gröhe: Das wäre eine Kurzfassung, um es vorsichtig auszudrücken. Ich bin übrigens der Meinung, dass es schon eine Kurzfassung ist, das Christliche mit dem Konservativen gleichzusetzen. Zu einem christlichen Gesellschaftsbild gehört etwa Wertschätzung für die Familie. Aber die Armutsbekämpfung, der Klimaschutz - all das sind zutiefst im christlichen Glauben verankerte politische Zielsätze. Wir sind die CDU, nicht die KDU, aber wir sind eine wertkonservative Partei. Insofern wertkonservativ ja, aber gleichzeitig offen für das pralle Leben.
Adler: Programmatik spielt beim SPD-Parteitag in Dresden natürlich auch eine ganz große Rolle. Da ist eine Partei auf der Suche nach einem neuen Profil. Wenn Sie das verfolgen - so zusagen als Aufgabe der Feindbeobachtung oder der Beobachtung des politischen Gegners an diesem Wochenende? Schwingt da vielleicht auch so ein bisschen die Befürchtung mit, dass die CDU möglicherweise in ein paar Jahren das gleiche durchleben und durchleiden muss wie die SPD?
Gröhe: Ich kann den dramatischen Niedergang der SPD jedenfalls nicht mit Häme beobachten. Das ist kurzzeitig natürlich parteipolitischer Gewinn, wenn der wichtigste Wettbewerber - ich würde nie vom "Feind" sprechen - der wichtigste Wettbewerber fast in sich zusammenbricht. Das mag uns kurzfristig nutzen, stärkt unsere Ausgangslage für die Landtagswahlen und anderes mehr. Ich bin davon überzeugt, die Idee der Volkspartei hängt mit der Erfolgsgeschichte Bundesrepublik Deutschland so zusammen, dass ich nicht nur wünsche, dass sich die CDU als erfolgreiche, möglichst stärkste Volkspartei weiterhin in diesem Land aufstellt, sondern ich glaube, es tut unserer Gesellschaft gut, wenn es mehr als einen Anwendungsfall der Volkspartei gibt und die SPD dafür sich just 50 Jahre, nachdem sie sich mit dem Godesberger Programm der Volkspartei-Idee, die sozusagen dem Gründungsimpuls der CDU entstammt, dass sie den '59 nachvollzogen hat und sich jetzt abwendet und jetzt sagt - aus Angst vor der Konkurrenz der Linkspartei: "Scharfer Linkskurs". Das kann uns nur mit Sorge erfüllen, einerseits ist es eine Chance: Wir gehen voll in die Mitte, wir sagen enttäuschten Steinbrück-Anhängern: "Willkommen bei uns, wenn Ihr diesen Linkskurs nicht mitmachen wollt." Aber insgesamt glaube ich: Volksparteien, die der Gesellschaft eine Integrationsleistung abnehmen, tun dem Land gut. Und es ist auch für die Union durchaus gut, wenn wir da mit einer anderen Partei wetteifern. Und wenn die SPD auf einen scharfen Linkskurs weiter einfährt, dann wird es auch unsere Fähigkeiten mittelbar betreffen, wenn wir nicht sehr aufpassen, breit aufgestellt viele Menschen anzusprechen. Im übrigen bleibt es höchst unglaubwürdig, der Agenda 2010 den Rücken zuzuwenden und gleichzeitig mit Steinmeier den Vollstrecker Schröderscher "Basta"-Politik als Oppositionsführer zu präsentieren, das ist in sich nicht schlüssig. Aber, wie gesagt, darüber ist man im Augenblick eher entsetzt als dass man hämisch darüber jubiliert.
Adler: Das Interview der Woche heute mit dem - noch kommissarischen - CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. Herr Gröhe, Sie haben das Stichwort genannt: Man muss aufpassen, aufpassen, dass man zum Beispiel - was man von der SPD lernen kann - Diskussionen nicht unter'm Deckel hält. Was für die SPD die Agenda 2010, Hartz IV oder auch das Verhältnis zur Linkspartei ist, das haben Sie in der CDU ja so ähnlich mit der Bestimmung des Wirtschaftskurses. Soll der eher ein bisschen sozialdemokratischer ausgerichtet sein oder neoliberal? Das ist eine Diskussion, die selbst im Wahlkampf parteiintern nicht geführt wurde. Ist das etwas, was man jetzt dringend nachholen muss?
Gröhe: Also, wir müssen weiter diskutieren. Aber wir haben diskutiert, wir haben natürlich im Vorfeld der Erfurter Erklärung sehr genau die Frage - erinnern Sie sich an die deutliche Positionierung des nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden, der das Soziale betont hat, erinnern Sie sich an die deutliche Betonung anderer, die gesagt haben: Vergesst den Leipziger Parteitag nicht. Also, da hat es Diskussionen gegeben und die . . .
Adler: . . . das sind zwei Pole, entschuldigen Sie, dass ich da einhake, das sind nun zwei Pole, die genau das offen lassen, was die Partei eben für sich nicht gelöst hat. Auf der einen Seite der Arbeiterführer - ganz klar sehr viel sozialer ausgerichtet, auf der anderen Seite das Leipziger Programm, das eben für den neoliberalen Kurs steht.
Gröhe: Aber wir wären nicht die Volkspartei, wenn wir nicht beide Stimmen hätten. Es wäre ganz falsch, wenn wir sagen würden: Wer hat denn jetzt recht, und dann entweder nur auf den Wirtschaftsflügel oder nur auf den Sozialflügel setzen.
Adler: Bislang beantworten Sie es überhaupt nicht.
Gröhe: Doch, wir beantworten es damit, dass wir deutlich machen: Es gibt im Regierungshandeln beispielsweise klare Wachstumsimpulse. Das ist, wenn Sie so wollen, auf Wirtschaftswachstum, auf Wirtschaftsfreundlichkeit, auf "Mitte stärken" orientiert, und gleichzeitig wird die langjährige Forderung von Jürgen Rüttgers "rauf mit dem Schonvermögen bei Hartz IV, rauf mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten" mit einer ausgesprochen sozialen Komponente ganz zu Beginn dieser Regierungszeit ebenfalls beantwortet. Volkspartei darf nicht soziale Gerechtigkeit gegen wirtschaftliche Vernunft ausspielen, sondern muss beides zusammenhalten. Das ist unser Erfolgskonzept. Sonst wären wir eine Kopie anderer Parteien.
Adler: Haben Sie die Befürchtung, dass, wenn Ihnen das nicht gelingt, Sie vielleicht in ein paar Jahren genau einen solchen Parteitag, wie ihn jetzt die SPD abhält, selber erleben werden, dass Sie Reste der Partei zusammenkratzen, dass Sie ein Scherbengericht haben und dass das Ende der Volkspartei leider konstatiert werden muss?
Gröhe: Diese Sorge habe ich nicht und ich bin auch froh, dass sich in allen Krisen die Volksparteiidee - und die Volkspartei ist oft rhetorisch zu Grabe getragen worden - als Stärke erwiesen hat. Aber der Erfolg einer Volkspartei, unterschiedliche Positionen auf einem gemeinsamen Fundament zusammenzuhalten, den hakt man nicht ab und legt ihn zu den Akten, sondern den erringt man jeden Tag im Regierungshandeln neu, in parteipolitischer Programmatik neu. Insofern ist das eine bleibende Herausforderung. Die gehen wir aber nicht mit Angst, sondern mit Zuversicht an.
Adler: Und wahrscheinlich kann man sie auch nur dann erringen, wenn man die parteiinternen Diskussionen eben führt und nicht einfach beiseite schiebt und aussitzt. Eine solche Diskussion, die meines Erachtens jedenfalls nicht geführt worden ist, ist die Auswertung des schlechten Abschneidens bei der Bundestagswahl 2005. 2009 wurde das zweitschlechteste Ergebnis eingefahren, auch da hat die Auswertung nicht stattgefunden. Muss die Partei anfangen, sich auch ein bisschen mehr mit sich selbst zu beschäftigen?
Gröhe: Mit sich selbst beschäftigen - nein. Wir sind für die Menschen in diesem Land da. Aber wir erörtern das Wahlergebnis. Im Januar wird eine Klausurtagung stattfinden. Wir sind derzeit dabei, die verschiedenen Daten zusammen zu tragen. Ich höre sehr genau in die Partei hinein, besuche Landesverbände, besuche die Vereinigungen. Da wird viel gesprochen über Wahlkampferfahrung, über die Erfahrung der Zeit der großen Koalition. Wir werden das diskutieren, nur werden wir nicht einen öffentlichen Streit unnötig bieten. Mancher glaubt, eine Partei diskutiert nur, wenn sie sich öffentlich fetzt. Das haben wir nicht vor. Aber es wird nichts unter den Teppich gekehrt. Das Wahlergebnis lässt deutlich Luft nach oben. Wir wollen besser werden und deswegen werden wir auch über das offen reden, was nicht so gut gelaufen ist.
Adler: Den öffentlichen Streit, den die Partei nicht bieten soll, bietet derzeit die Regierungskoalition. Sie streiten sich so zusagen über jede der wichtigen Fragen, die jetzt überhaupt ansteht, so öffentlich, dass man eigentlich erstaunt sein könnte, ob jetzt schon regiert wird oder noch Koalitionsverhandlungen laufen. Stichwort ist die Steuerpolitik, Stichwort ist auch die Rentenpolitik. Wie bewerten Sie den Auftakt der Regierungsarbeit? Ist das ein Auftakt nach Maß?
Gröhe: Wir haben in schwieriger Zeit ein erfolgversprechendes Programm auf den Weg gebracht. Wir haben die kürzesten Koalitionsverhandlungen gehabt, die es je gegeben hat . . .
Adler: . . . was sich jetzt möglicherweise rächt . . .
Gröhe: . . . nein, was zeigt, dass es richtig ist, sich auf Grundprinzipien zu einigen, aber zu akzeptieren, dass die größten Herausforderungen im laufenden Regierungshandeln auf einen zukommen und nicht in Koalitionsverhandlungen vorweg genommen werden. Da ist sicher einerseits der Umstand, dass man sich vertraut, dass es auch die Wunschpartner sind des Wahlkampfes, wir sind gemeinsam letztlich angetreten. Aber dass es da mal knirscht - wir sind drei Parteien, wir haben eine Koalition geschlossen, keine Fusion. Und das ist doch normal, wir bleiben die CDU Deutschlands so wie die FDP die FDP und die CSU die CSU bleibt. Zweitens: Wir handeln sofort, wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz sofort auf den Weg gebracht, wir setzen Maßnahmen zum 1.1.2010 um. Und dass wir, da wo wir gesagt haben: Wir werden im Lauf des nächsten Jahres bestimmte Diskussionen zu einem Ende führen, zu einem Ergebnis führen in der Gesundheitspolitik, in der Steuerpolitik - auch eine öffentliche Debatte haben, das ist so, das kann man heute nicht mehr alles hinter verschlossener Tür. Da gefällt mir vielleicht auch nicht jeder Zwischenton, aber ich bin sicher, wir werden die Dinge zusammen zu einem guten Ergebnis führen.
Adler: Bleiben wir noch mal bei dem Auftakt der Regierungsarbeit in dieser Woche. Im Bundestag haben sich die ernannten Minister vorgestellt - mal mit mehr Glanz, mal mit weniger Glanz. Heftig angefeindet worden ist der Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der sich einen schweren Vorwurf anhören musste von Ihrem Noch-Generalsekretär-Kollegen jedenfalls am Mittwoch im Bundestag, von Hubertus Heil, der nämlich gewarnt hat, dass Rainer Brüderle möglicherweise der neue Problembär der Bundesregierung sein würde - in Anlehnung an Michael Glos, dem doch etwas glücklosen Vorgänger. Konnten Sie sich keinen besseren Wirtschaftsminister vorstellen?
Gröhe: Also, die FDP hat den Vorschlag gemacht, und die SPD hat immerhin auch Leute, die sehr loben, wie erfolgreich Rainer Brüderle in Rheinland-Pfalz Wirtschaftspolitik gemacht hat. Damals war er noch der Liebling der SPD, weil er für eine sozial-liberale Koalition stand. Herr Heil zeigt jetzt eine gewisse Flexibilität, indem er meint, draufhauen zu müssen. Das ist Oppositionsrolle. Das Entscheidende: Ich habe selber die Koalitionsverhandlungen mit Herrn Brüderle die Wirtschaftspolitik verhandelt und da gibt's ein großes gemeinsames Fundament. Im Zentrum steht der Mittelstand, im Zentrum steht ein klarer Ordnungsrahmen, die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft. Da ziehen wir an einem Strang. Wir bleiben in unterschiedlichen Parteien, es wird auch mal im Kleingedruckten haken. Aber die gemeinsame Richtung ist klar.
Adler: Wann wird sich denn die Koalition einig, welche Politik der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble machen soll?
Gröhe: Wolfgang Schäuble ist als Finanzminister in gleicher Weise an der Umsetzung des Koalitionsvertrages orientiert, wie er selbstverständlich in besonderer Weise die Verantwortung für die mittelfristige Gesundung unserer Staatsfinanzen für das Erreichen der Ziele, das wir mit der Schuldenbremse gesetzt haben, hat. Und er macht das in sehr verantwortlicher Weise.
Adler: Gegen den die FDP vorgeht, als gelte es nach wie vor, Oppositionskraft zu beweisen.
Gröhe: Also, Peer Steinbrück hat ja Wolfgang Schäuble bei der Amtsübernahme darauf hingewiesen, dass sich jeder Finanzminister, der seine Aufgabe ernst nimmt, immer einmal auch Pfeile der Kollegen zuzieht, die naturgemäß eher fordern, während er eher zusammenhalten muss. Das kann jemand mit der Statur und dem politischen Gewicht von Wolfgang Schäuble gut aushalten. Und Kurs halten, das ist das Wichtigste. Und wir werden uns verständigen. Wir sind in den Grundprinzipien einig. Wir sind davon überzeugt, dass wir die kleineren und mittleren, nicht die großen, sondern die kleineren und mittleren Einkommen und die Familien entlasten wollen. Erste Schritte, übrigens zum Teil schon eingeleitet von der großen Koalition, gehen wir jetzt zum 1.1.2010. Und wir werden vor allem im Lichte natürlich des Erfolgs dieser Maßnahmen, das Anspringen des Wachstumsmotors, wenn dann im Mai des nächsten Jahres die Steuerschätzung kommt, das tun, was die Koalitionsvereinbarung sagt, nämlich: mit der Zielperspektive eines transparenteren niedrigeren Steuersystems dann entscheiden, wie viele Stufen, wie wird der Tarif ausgestaltet. Unser Ziel ist Entlastung, um durch den Wachstumsmotor dann auf den Konsolidierungspfad wieder einzuschwenken. Wir können uns nicht in der Krise kaputtsparen. Das hat man uns vor fünf Jahren empfohlen. Der Erfolg der letzten Legislaturperiode, was das Wirtschaftswachstum angeht, wäre nicht gekommen, wenn wir auf die Stimmen gehört hätten, die uns damals wie heute nur einen rigiden Sparkurs empfohlen hätten. Aber es bleibt bei dem Ziel. Wir waren die Anwälte als CDU der Schuldenbremse im Grundgesetz. Es bleibt bei dem Ziel, nach der Bewältigung der Krise aus der Krise heraus in den Konsolidierungspfad klar wieder einzufädeln.
Adler: Das heißt mit anderen Worten: Wenn die Steuerschätzung erst im Mai kommt, werden Sie sich auch erst im Mai - wunderbarerweise - nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen damit beschäftigen müssen?
Gröhe: Also, zunächst haben wir weder die Steuerschätzung terminlich festgelegt, noch die Landtagswahl Nordrhein-Westfalen. Aber das ist doch klar, dass man eine Steuerschätzung zum Ausgangspunkt zukünftiger Steuerpolitik macht.
Adler: Aber das ist ja nicht was völlig Überraschendes, was da kommen wird...
Gröhe: Na ja, das können Sie so nicht sagen. Wenn Sie jetzt sehen, dass die Wachstumsprognosen alle jetzt schon nach oben korrigiert werden, dann zeigt sich: Die Maßnahmen greifen. Und wenn jetzt die neuen Maßnahmen zum 1.1.2010 in gleicher Weise greifen, gewinnen wir Spielraum. Wir wollen den Spielraum. Die Union steht ohne Wenn und Aber zum Koalitionsvertrag.
Adler: Ein ebenso öffentlicher Streit wie der um die Steuerreform ist in dieser Woche zu beobachten gewesen, was die Rente mit 67 angeht. Öffentlicher hätte man es gar nicht machen können, nämlich im Bundestag wurde der diskutiert, ob tatsächlich ein fließender Übergang in die Rente mit 67 kommen soll, so wie die FDP das gerne möchte, oder ob es dabei bleibt: eine Rente mit 67 erst mal als Gesetz und eigentlich unumstößlich. Worauf haben sich die Menschen einzustellen? Muss man das ganze Thema möglicherweise noch mal anpacken, auch im Hinblick auf die SPD, die es ja auch wieder thematisiert.
Gröhe: Die Entscheidung, zur Rente mit 67 zu kommen, ist richtig. Sie ist ein Ausdruck von Generationenfairness und sie trägt auch dem Umstand Rechnung, dass wir immer älter und, Gott sei Dank, auch immer fitter älter werden. Und mit Verlaub, die Rente mit 67 haben wir im Jahr 2029. Wir wachsen langsam hinein. Es gibt zur Stunde nicht die Rente mit 67, sondern wir wachsen langsam hinein. Und 2029 werden wir alle schon wieder erfreulicherweise zwei Jahre ungefähr mehr Lebenserwartung haben. Das ist ungefähr die Zeit, die wir dann auch länger arbeiten werden, sonst sprengt es die Sozialkassen.
Adler: Noch mal neu gefragt: Wird sich die Koalition mit diesem Thema noch mal neu beschäftigen müssen?
Gröhe: Wir stehen zu dem, was im Gesetz steht: Einer Evaluierung. Und wir werden besondere Anstrengungen unternehmen müssen, Ältere im Arbeitsmarkt zu halten. Das wird aufgrund der demografischen Entwicklung im Jahre 2029 übrigens nicht mehr das Problem sein. Dann wird man alles tun, um mit humanen Arbeitsbedingungen Menschen lange wegen mangelnder nachwachsender junger Menschen im Arbeitsprozess zu halten. Ich bin sehr dafür, dass man Menschen größtmögliche Freiheiten lässt, aber jeder muss wissen, dass dann eine frühere Verrentung nicht quasi abschlagsfrei geht. Wenn die SPD sich jetzt von einem Kernstück Münteferingscher Sozialpolitik verabschiedet und gleichzeitig sagt, Rente mit 60, und dann sagt Frau Nahles: Mit möglichst geringen Abschlägen, dann streut sie den Menschen Sand in die Augen. Das können die Beitragszahler nicht leisten. Das wird es nicht geben. Es kann Flexibilität geben, aber Flexibilität bedeutet dann auch ein Stück Verzicht. Wer eher in die Rente geht, wird weniger bekommen als der, der die gesetzliche Rentenzeit erfüllt.
Adler: Noch mal nachgefragt: Werden Sie dieses Thema noch mal aufrollen?
Gröhe: Wir werden das Gesetz vollziehen und wir werden eine Arbeitsmarktpolitik machen, die einer sinnvollen Umsetzung dieses Gesetzes gerecht wird.
Adler: Kommen wir zum nächsten Streitpunkt hier im Interview der Woche mit Hermann Gröhe, dem CDU-Generalsekretär, das Stichwort Gesundheitsreform. Es gibt große Vorbehalte, dass die Beitragszahler allein die steigenden Kosten des Gesundheitswesens zahlen müssen, dass die Arbeitgeber außen vor gelassen werden, weil ihr Beitragssatz eingefroren wird. Wie können Sie diese Vorbehalte zerstreuen, dafür sorgen, dass die Gesundheitsreform auch unter sozialen Kriterien Bestand hat?
Gröhe: Gerade die Union, CDU und CSU, stehen als Volksparteien dazu, dass Gesundheitspolitik sicherstellen muss, dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen die notwendige Medizin auf dem Niveau, das in unserem Land, Gott sei Dank, möglich ist, nämlich Spitzenniveau für alle, auch erhalten. Dabei bleibt es ohne Wenn und Aber. Es geht um die Gestaltung des Sozialausgleiches. Sozial ist, die Menschen in Arbeit zu halten durch stabile Lohnnebenkosten und gleichzeitig über einen funktionierenden Sozialausgleich alle an gesundheitlichen Leistungen teilhaben zu lassen. Und da ist ein steuerlicher Sozialausgleich zugegebenermaßen schwer technisch zu gestalten. Deswegen die Kommission. Das ist kein leichtes Unterfangen. Wir werden niemanden zum Bittsteller machen. Aber es ist nicht einfach, hier die beiden Systeme in sinnvoller Weise miteinander zu verknüpfen. Ich glaube aber, wir können es. Dann beteiligen sich selbstverständlich mehr durch das Steueraufkommen am Sozialausgleich, selbstverständlich auch die Unternehmen, die Steuern zahlen, selbstverständlich auch die privat Krankenversicherten, die Steuern zahlen. Ein gut gemachter Sozialausgleich über die Steuer ist nicht weniger solidarisch, sondern solidarischer als ein volles Ankoppeln an Arbeitskosten, das Arbeitsplätze mittelfristig gefährdet.
Adler: Wie groß ist denn die Aussicht, dass tatsächlich Arbeitgeber aufgrund des eingesparten Schwankungsbeitrages - nennen wir es mal so -, der durch höhere Gesundheitskosten zustande kommen könnte, tatsächlich auch nur einen Arbeitsplatz mehr schaffen?
Gröhe: Also, wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass eine Senkung der Arbeitskosten die Chancen auf Beschäftigung erhöht. Und darin war sich übrigens die große Koalition völlig einig. Seinerzeit war die SPD gerade der Meinung, Abgaben sind problematischer als Steuern und wollte alles tun, um die Lohnnebenkosten zu senken. Wir wollen das auch. Wir wollen die Lohnnebenkosten stabil halten. Im übrigen ist es dem Arbeitnehmer ziemlich egal, ob es die Lohnnebenkosten sind, die sein Netto reduzieren, oder die Steuern. Aber entscheidend ist, dass wir sagen, die teilweise Abkopplung von Gesundheitskosten von den Arbeitskosten ermöglicht beides: Gesundheitsvorsorge auch für Menschen mit kleinem Einkommen, aber bessere Chancen am Arbeitsmarkt.
Adler: Das, was die Menschen erlebt haben, zum Beispiel bei der Rentenversicherung, ist: in der Tat stabile Rentenbeiträge. Aber es ist ihnen die Zusatzversicherung privat aufgebürdet worden. Das hat zur Folge, dass diejenigen, die sich die Riesterrente leisten können, es wahrscheinlich auch tun, dass die Armen diese Rente mitbezahlen, weil sie über Steuern ja subventioniert wird, dass aber eine Riesterrente für die Armen nicht erschwinglich ist. Und wenn jetzt über die Gesundheitsreform geredet wird, befürchten vor allem Arme natürlich, dass ihnen das Gleiche noch mal passiert.
Gröhe: Also, ihnen wird ja auch kräftig Angst gemacht, was unverantwortlich ist. Die Menschen wissen in diesem Land, sie können sich darauf verlassen, wer krank ist, wer einen Unfall hat, der kann zum Arzt und erhält medizinische Versorgung, um die man uns weltweit beneidet. Das erhält der, der in der AOK ist, das erhält der Arbeitslose und das erhält der Beamte und der Selbständige. Das ist richtig so und dabei wird es bleiben. Und was Sie zur Riesterrente gesagt haben was die Armen angeht, Sie wissen, dass die, wenn Sie damit wirklich die Niedrigsteinkommen meinen, gar keine Steuern zahlen. Also, mit Verlaub, kein Armer subventioniert durch sein Steueraufkommen die Riesterrente eines Reichen.
Adler: Kann sie sich aber auch nicht leisten.
Gröhe: Nein, deswegen haben wir die Riesterrente, die - mit Verlaub - ja nicht Ausdruck einer neoliberalen Politik war, sondern der Stolz einer SPD-geführten Bundesregierung, sie in Zeiten der große Koalition verbessert, damit mehr Menschen - und die Tatsache hat uns Recht gegeben - in die staatliche Förderung gelangen ihrer privaten Altersvorsorge. Im übrigen ist das insofern ein gutes Beispiel, als es zeigt: Wir wollen nicht die Sozialsicherungssysteme auf Kapitaldeckung komplett umstellen, sondern wir wollen das solidarische, das Umlageprinzip, das die Rentenversicherung trägt, um Elemente des Ansparens ergänzen. Das haben wir getan in der so genannten Riesterrente. Das hat schon die große Koalition im Koalitionsvertrag gehabt für die Pflegeversicherung. Schon damals stand drin, wir brauchen neben der Umlage gleichsam den Sparstrumpf, die Rücklage. Leider ist es am SPD-Widerstand gescheitert. Jetzt steht es wieder in der Koalitionsvereinbarung. Wir ersetzen nicht die Umlage durch Kapitaldeckung, sondern wir ergänzen sie. Das macht sie demografiefester, das macht sie krisenfester.
Adler: Sie haben auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verwiesen, das Anfang des Jahres in Kraft treten soll, so es der Bundestag bis dahin verabschiedet. Bestandteil wird unter anderem sein die Anhebung des Kindergeldes und die Anhebung des Kinderfreibetrages. Das sind beides Maßnahmen, die unterschiedlich nützlich sind. Die Anhebung des Kinderfreibetrages ist sozial ungerecht. Warum wieder eine solche Maßnahme, die genau denen mehr Geld in die Taschen bringt, die es ohnehin nicht nötig haben?
Gröhe: Ein Freibetrag ist nicht ungerecht, er ist übriges wiederholt vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich geboten worden. Dass die Kosten für ein Kind nicht gleichzeitig voll besteuert werden können, das ist Ausdruck eines gerechten Steuersystems. Das hat das Bundesverfassungsgericht, ich wiederhole mich, wiederholt festgehalten. Es stärkt die Mitte, und wir wollen die Mitte stärken, damit wir die Kraft haben, den Schwachen zu helfen. Zweitens: Wir haben das Kindergeld in der letzten Legislaturperiode erhöht. Wir erhöhen es jetzt. Es hat jahrelang unter Rot/Grün eine Durststrecke für Kinder gegeben. Wir haben erhöht: den Kinderzuschlag. Diesen Weg werden wir auch für Niedrigeinkommen weiter gehen. Also wir werden darauf achten, dass wir sowohl bei den Familien für die 240 Euro im Jahr mehr pro Kind, die schon auch eine gute Unterstützung ist, etwas tun. Und wir gehen gleichzeitig den Weg im Steuerrecht, den ein gerechtes Steuersystem gebietet.
Adler: Wie kommentieren Sie den ersten Sündenfall der Koalition, der darin besteht, die Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen zu senken? Das in einer Koalition, die sich nun wirklich Subventionsabbau auf die Fahnen geschrieben hat, die ordnungspolitisch immer die Musterschüler sein wollten, ausgerechnet so etwas kommt jetzt als eine der allerersten Maßnahmen in dieser neuen Regierung?
Gröhe: Ich weiß, dass das keine unumstrittene Maßnahme war. Es ist ja auch kein Geheimnis, dass das eher das Herzensanliegen der beiden anderen Koalitionsparteien war als unserer, aber ich nehme die Besonderheit im Süden, Südwesten, auch im Norden von Deutschland, also in starken Tourismus wahr, dass die Konkurrenz beispielsweise eines bayerischen Hoteliers, der über die Grenze mit dem Salzburger Land konkurriert, wo es selbstverständlich niedrige Steuersätze für Gastronomie und Hotelerie gibt, dass das mit dem deutschen Tourismus, in dem sehr viele Menschen, übrigens auch Menschen mit geringer Qualifikation, Arbeitsplätze finden, ein wichtiger Punkt ist. Und insofern: Man kann über die Priorität streiten, aber dass das Sinn macht, Menschen deutlich zu machen, du kannst auch Urlaub in Deutschland machen und der muss nicht zwingend viel teurer sein, als wenn du weit weg fliegst, ist eine gute Sache, und insofern habe ich keinen Anlass, mich von dieser Maßnahme zu distanzieren.
Adler: Ist das ein erster Vorgeschmack darauf, dass, wenn man falsche Entscheidungen sieht, dass man sie als Generalsekretär dennoch schönreden muss?
Gröhe: Überhaupt nicht, denn es ist keine falsche Maßnahme. Es ist eine Maßnahme, die den deutschen Tourismus stärkt. Man hätte allenfalls darüber streiten können, zu welchem Zeitpunkt, ob man es erst macht, wenn man insgesamt sich die Mehrwertsteuersätze, den ermäßigten und den vollen, ansieht. Die Europäische Union hat diese Möglichkeit vor kurzem eröffnet. Dass die Länder, die besonders in Deutschland vom Tourismus leben, darauf drängen, dafür habe ich Verständnis. Und ich muss nichts schönreden, sondern es sichert Arbeitsplätze an vielen Teilen unseres Landes.
Adler: Herr Gröhe, sagen Sie uns zum Schluss, worauf Sie sich freuen in diesem Amt.
Gröhe: Ich freue mich sehr darauf, Verantwortung für eine Partei zu tragen, weil mich die Idee einer Volkspartei, die Junge, die Alte, die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, Männer, Frauen einlädt, gemeinsam dieses Land zu gestalten, diese Idee in eine gute Zukunft zu tragen, Menschen einzuladen, bei uns mit zu tun, eine tolle Sache finde.
Adler: Ich danke Ihnen für das Gespräch.