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"Wir wissen nicht, ob es zu Unrecht beschuldigte Männer gibt"

Thomas Vinterberg hat einen neuen Film zum Thema Kindesmissbrauch gedreht. In "Die Jagd" geht es um einen zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigten Mann. Es sei nicht einfach, die Schuld eines Täters festzustellen, sagt Vinterberg. Man müsse auch an Aussagen von Kindern zweifeln dürfen.

Thomas Vinterberg im Gespräch mit Sigrid Fischer | 28.03.2013
    Nach einer schwierigen Scheidung hat der 40-jährige Lucas eine neue Freundin, einen neuen Job und befindet sich mittendrin, die Beziehung zu Marcus, seinem Sohn im Teenageralter, wieder herzustellen. Doch die Dinge gehen schief. Nur eine Geschichte – eine zufällige Lüge. Und als der Schnee fällt und die Weihnachtslichter leuchten, verbreitet sich die Lüge wie ein Virus. Der Schock und das Misstrauen geraten außer Kontrolle, und die kleine Gemeinde findet sich plötzlich in einem kollektiven Zustand der Hysterie, während Lucas einen einsamen Kampf um sein Leben und seine Würde führt. Die Hexenjagd beginnt.

    Sigrid Fischer: Thomas Vinterberg, wie kamen Sie zu der Entscheidung, 14 Jahre nach "Das Fest" noch einen Film zum Thema Kindesmissbrauch zu drehen?

    Thomas Vinterberg: In einer Winternacht des Jahres 2000 hat ein bekannter dänischer Kinderpsychologe an meine Tür geklopft, er sagte: Sie haben "Das Fest" gedreht, Sie müssen noch einen anderen Film zu dem Thema drehen. Dann hat er mir Akteneinsicht in verschiedene Fälle gegeben, die mich sehr verstört haben. Das heißt, ich habe sie erst gar nicht gelesen, ich hatte keine Lust dazu, weil so viele Leute möchten, dass ich ihre Familientragödie verfilme. Ich habe sie damals weggelegt. Aber acht Jahre später brauchte ich selbst einen Psychiater und ich dachte, ich lese das besser, bevor ich ihn anrufe.

    Fischer: In "Das Fest" wird ein tatsächlicher Fall von Kindesmissbrauch ans Licht gebracht, in "Die Jagd" ist es umgekehrt, da wird ein Mann zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigt. Haben Sie aus der Lektüre der Akten den Eindruck gewonnen, dass es viele falsch beschuldigte Männer gibt?

    Vinterberg: Wir wissen nicht, ob es zu Unrecht beschuldigte Männer gibt. Wir wissen nicht, was wahr ist und was nicht. Das muss ich so sagen, denn ich bin ja weder Ermittler noch Richter. Aber weil es so viele Fälle sind, vermute ich, dass man die grundsätzliche Annahme, unsere Kinder würden immer die Wahrheit sagen, auch infrage stellen muss. Ich glaube nicht daran. Ich glaube, dass da manchmal Fantasie im Spiel ist. Das fängt zum Beispiel einfach so an, dass ein Kind denjenigen, der es befragt, zufriedenstellen will. Und dann wird das immer größer und so schließlich zu einem Teil seiner Erinnerung. Und es bekommt am Ende die gleiche Bedeutung wie bei denen, die wirklich missbraucht wurden.


    Fischer: Sie sind, Thomas Vinterberg, in den 70er-Jahren als Kind in einer Kommune aufgewachsen. Wie erinnern Sie sich daran und was hat sich seitdem in Bezug auf Ihr Filmthema geändert?

    Vinterberg: Ich erinnere mich an Genitalien in Augenhöhe. An viele glückliche nackte Menschen. An viel orange und viel Wärme. Es gab keinerlei Missbrauch – in keiner Form an keinem Kind in meinem Umfeld. Kindesmissbrauch ins Bewusstsein zu rücken, was ich ja 1998 mit meinem Film "Das Fest" auch getan habe, war natürlich sehr wichtig und notwendig, denn es gibt ja viele Opfer. Aber das hat uns die Unschuld genommen, sie wurde durch Angst, Misstrauen und Hass ersetzt. Und das ist auch ein großer Verlust.

    Fischer: Ihr Film "Die Jagd" legt erschreckend nahe, dass Eltern, besonders Väter, sehr verunsichert sein müssen im Umgang mit ihren Kindern, aus Angst, dass Verdachtsmomente von Missbrauch entstehen könnten.

    Vinterberg: Das finde ich wirklich traurig. Meine Kinder zum Beispiel haben mich geküsst, als sie klein waren, und manchmal auf den Mund. Das machen die eben. Und auf einmal wird das zum Geheimnis, öffentlich dürfen sie das nicht tun, und damit ist etwas zerstört. Das Problem ist, es gibt ja einen guten Grund dafür. Weil es viele Opfer gibt. Es werden viele Kinder missbraucht, das wissen wir. Und ich bin mir auch im Klaren, dass mein Film von Leuten missbraucht werden kann, die behaupten, unschuldig zu sein, es aber nicht sind. Andererseits kennen wir in vielen Fällen die Wahrheit nicht, weil sie nie restlos aufgeklärt wurden. Daher bin ich vorsichtig, ich muss mich schützen und ganz deutlich machen, dass ich mich mit dem Film in der fiktionalen Welt bewege. Er hat zwar als Recherche in der realen Welt angefangen, ich habe aber dann eine fiktive Geschichte daraus gemacht. Ich stelle zwar Fragen, aber in Zusammenhang mit einem Filmdrama.

    Fischer: Lucas, die Hauptfigur in Ihrem Film "Die Jagd", sei gewissermaßen kastriert haben Sie in Ihrem Regiestatement gesagt. Wie meinen Sie das denn?

    Vinterberg: Das ist nur eine Beschreibung des skandinavischen Mannes an sich. Vielleicht beschreibt es auch nur mich selbst, wer weiß. Also ich hatte vor Kurzem Gäste aus England, und sie haben sehr über all diese dänischen Paare gelacht, wo die große, schöne Powerfrau am Handy Geschäfte abwickelt und neben ihr der Ehemann den Kinderwagen mit Kind drin schiebt. Leute aus anderen Ländern finden das offenbar ungewöhnlich. Bezogen auf den Film – Lucas ist – also kastriert ist so ein Wort, aber er ist für mich einfach extrem höflich und gutherzig, aber gleichzeitig sehr stur. Und diese Mischung finde ich sehr skandinavisch. Ihm wird ziemlich zugesetzt, er ist verloren durch die Scheidung und den Jobverlust, aber ganz stur hält er an seinem Glauben an das Gute und Zivilisierte fest. Und wenn er dann etwas Unzivilisiertes tut und zurück schlägt, klatschen die Leute im Kino. Es scheint für sie eine Art Offenbarung zu sein, Das finde ich interessant und irgendwie ironisch. Wir bewegen uns in einer großen Geschlechterrollendebatte, ich habe das Gefühl, in Dänemark und besonders in Schweden herrscht große Irritation über dieses Thema.

    Fischer: Sollen wir als Zuschauer eigentlich irgendwann an der Unschuld von Lucas zweifeln oder nicht?

    Vinterberg: Nein, das will ich nicht. Ich stelle ja gleich im Trailer klar, dass er unschuldig ist. Alles andere fände ich uninteressant. Aber das Publikum ist es natürlich gewohnt, misstrauisch zu sein. Wir sind geübt darin, dass Drehbuchautoren sich so manche Finte ausdenken. Viele finden das amüsant, ich nicht, ich komm da meistens nicht mit und muss meine Frau fragen: War er es jetzt oder nicht? Ich bin darin nicht gut. Ich tauche lieber in das Leben einer Figur ein und durchlebe mit ihr die Läuterung.

    Fischer: Alle Ihre Filme nach 1998, Thomas Vinterberg, werden mit "Das Fest" verglichen und meist wird festgestellt, dass Sie nicht mehr so experimentell sind, besonders wenn Sie jetzt zum gleichen Thema drehen, nervt Sie das?

    Vinterberg: Vielleicht haben die Leute recht. Formal überschreiten wir mit diesem Film nicht viele Grenzen, aber das haben wir auch gar nicht erst versucht. Ich wollte etwas sehr Unverfälschtes und Ehrliches machen. Nichts, was irgendwie "sexy" ist. Ich bin ja nicht mehr der Sprecher der Dogma-Kirche, sondern ich bin ich. Dogma ist tot, kann man wohl inzwischen sagen. Mein Problem damals war, dass ich mit "Das Fest" etwas abgeschlossen habe. Ich bin den Weg bis zum Ende gegangen, da war nichts mehr zu holen. Ich habe den ultimativen Film dieser Art gedreht. Ich habe etwas beendet. Künstlerisch war das eine große Herausforderung, es hat mir aber auch die Möglichkeit und den Mut gegeben, völliges Neuland zu betreten, worauf ich sehr stolz bin.

    Fischer: Wie haben Sie eigentlich vor zwei Jahren Lars von Triers skandalösen Auftritt beim Filmfest Cannes empfunden, wo er sich scherzhaft als Nazi bezeichnete?

    Vinterberg: Ich finde, wir sollten Lars für etwas viel Größeres, Wichtigeres und
    Inspirierenderes in Erinnerung behalten, als für dieses kleine Missverständnis.

    Fischer: Neuland war für Sie nach "Das Fest" Amerika, die Erfahrung, dort zu drehen, "It’s all about Love" und "Dear Wendy", die beide nicht erfolgreich waren. Danach haben Sie wieder in Dänemark gedreht. Ist das Kapitel Ausland für Sie abgeschlossen?

    Vinterberg: Ich bin nicht sicher. Ich frage mich jeden Tag, ob ich im dänischen Boden verwurzelt bleiben soll, in dänischen Kindergärten wie bei diesem Film, was den Leuten scheinbar gefällt. Oder ob ich mehr diese Märchenkarriere verfolgen soll. Ich habe festgestellt, dass ich viel verliere, wenn ich den dänischen Boden verlasse. Entweder drehe ich im Ausland eine meiner eigenen Geschichten, dann müsste sie sehr metaphorisch sein. Oder es müsste einer ihrer Stoffe sein, den ich als Auftragsregisseur umsetze. Das wäre etwas völlig Anderes. Was mich auch reizt, aber über die Jahre finde ich das immer weniger erfüllend. Ich weiß, das war jetzt nicht sehr klar, aber meine Gedanken dazu sind es auch nicht. Ich zweifele ständig, und ich fürchte, das wird auch so bleiben.