Doris Schäfer-Noske: "Ich will Europa" - so heißt eine Kampagne, die ein bisschen an die "Du bist Deutschland"-Kampagne vor sieben Jahren erinnert. Prominente und andere Bürger haben sich da in den vergangenen Monaten in Anzeigen und Spots zur europäischen Idee bekannt. Zehn große deutsche Stiftungen haben die Europa-Kampagne gestartet, darunter die Allianz Kulturstiftung. Die hat heute auch wieder zu einer Veranstaltung ihrer Reihe "Reden über Europa" eingeladen, und zwar diesmal nach Köln.
O-Ton Martin Schulz: "Es ist eine Selbstfesselung. Die EU arbeitet unter ihrem Potenzial. Sie soll sich um die großen Herausforderungen im 21. Jahrhundert kümmern: Klimawandel, Kampf gegen die Spekulation, gegen die Steuerflucht, Immigrationsfragen. Das sind die Dinge, auf die wir uns konzentrieren sollten, und sollten versuchen, nicht den Alltag der Leute noch komplizierter zu machen, als er ohnehin ist."
Schäfer-Noske: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hielt bei den "Reden über Europa" den Eröffnungsvortrag. Außerdem sprechen dort zur Stunde der Schriftsteller Navid Kermani und Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht. 2006 fanden die "Reden über Europa" zum ersten Mal statt. Damals gab es die Dauerkrise um Europa ja noch nicht. Daher habe ich Michael Thoss, den Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, gefragt, was denn damals eigentlich der Anlass für die Veranstaltung war.
Michael Thoss: 2006 war eigentlich der Anlass ein doppelter: die beiden gescheiterten Referenden in den Niederlanden und in Frankreich, wo man das Gefühl hatte, okay, in Europa geht gar nichts weiter, wir werden dann die europäische Verfassung doch nicht bekommen, die ja viele Politiker wie Spinelli angemahnt hatten.
Habermas hat sich ja damals auch sehr dafür eingesetzt, und wir haben gesagt, im Grunde müssen wir jetzt das versuchen herzustellen, was auch Jürgen Habermas immer fordert, nämlich er nennt es dann "European Public Sphere", einen gemeinsamen Raum, in dem wir aktuell brisante europäische Themen transnational diskutieren, und deswegen gehen wir ja mit dieser Rederei auch ins Ausland.
Schäfer-Noske: Das Thema in Köln heißt "Demokratie in Gefahr - Wie die Krise das Fundament Europas erschüttert". Das klingt ja nach, es ist fünf vor zwölf.
Thoss: Ja. Hoffen wir mal, dass es fünf vor zwölf ist und nicht fünf nach zwölf. Wir haben ja den Martin Schulz, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, als Gastredner heute und er definiert das halt auch in diesem Sinn, dass er sagt, Europas Demokratie ist in Gefahr, weil die EU-Einrichtungen nicht mehr so funktionieren, wie sie eigentlich funktionieren sollten. Durch diese Dauerkrise, kann man ja schon sagen - es ist ja eine mehrfache Krise, nicht nur Finanzkrise, sondern auch eine politische und ich denke, auch eine Orientierungskrise - handelt man immer (und das trifft vor allem auf den Europäischen Rat zu, dieses Gremium der Staatsoberhäupter) von Situation zu Situation und es ist quasi der permanente Ausnahmezustand und die Kommission und das Europäische Parlament sozusagen sind in den Hintergrund getreten, oder wurden in den Hintergrund so ein bisschen geschubst von den Staatschefs. Lange sprach man ja von Merkozy, mittlerweile ist es jemand anders an der Seite von Frau Merkel. Und jetzt gilt es wieder, den demokratischen Charakter der EU-Einrichtungen zu betonen und auch zu praktizieren.
Schäfer-Noske: Wie kann das passieren?
Thoss: Na ja, einerseits musste natürlich schnell gehandelt werden in dieser Krisensituation, und auch Martin Schulz sagt, es ist legitim, dass dann der Europäische Rat, die Staatschefs sagen, jetzt muss schnell was beschlossen werden, was dann die nationalen Parlamente im Nachhinein noch billigen und das Europäische Parlament vielleicht auch. Aber wenn das ein dauerhafter Prozess wird, führt es zu so einer Art Entparlamentarisierung, sowohl auf der nationalen Seite wie auf der europäischen Seite, und das ist jetzt der Zustand.
Schäfer-Noske: Das heißt, die Parlamente müssen wieder mehr einbezogen werden?
Thoss: Unbedingt! Und ich glaube auch, dass auf beiden Seiten der Wille da ist. Man muss sich das ja mal vorstellen: Wir haben ein Europäisches Parlament, das die sogenannte Regierung, die Kommission, ja nicht kontrollieren kann und noch nicht darf, und gleichzeitig hat dieses Parlament noch nicht einmal das Initiativrecht, Gesetze vorzuschlagen, sondern das hat nur der Europäische Rat, der Rat der Staatschefs. Und da Europa oder die EU mehr sein sollte als nur die Addition von Nationalstaaten, müssen solche übergeordneten supranationalen Einrichtungen wie das Europäische Parlament und die Kommission gestärkt werden.
Schäfer-Noske: In London, wo auch Veranstaltungen stattfinden, geht es um den Umgang mit Uneinigkeit. Im Programm steht da zum Beispiel die Frage: Ist es möglich, dass Gemeinschaft in Wahrheit die geteilte Erfahrung der Andersartigkeit meint, die unser Sein im Ganzen definiert. Ist das ein Versuch, die Briten wieder ins europäische Boot zu holen?
Thoss: Das kann man so sagen. Ja, man muss es immer wieder versuchen. Das wird eine sehr intellektuelle Debatte werden. Wir haben dazu Richard Sennett eingeladen, Chantal Mouffe, die Philosophin, eine französische Philosophin, die in London arbeitet, und Paul Gilroy, jemanden aus der farbigen Community. Und es ist oder wird auch für uns ein Lernprozess sein, wie das englische, britische Publikum mit diesem Thema umgeht.
Schäfer-Noske: Will hier die Kulturstiftung die bessere Politik machen?
Thoss: Wir wollen überhaupt keine Politik machen, wir wollen nur zu Debatten anregen. Und ich glaube, es dürfen nicht nur Talkshows sein, sondern es müssen wirklich erlebte Diskussionen sein, wo man persönlich dabei war, wo man körperlich, geistig, emotional eingebunden war, und das stärkt den demokratischen Charakter Europas.
Schäfer-Noske: Das war Michael Thoss, Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, über die Diskussionsreihe "Reden über Europa", die heute in Köln begonnen hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
O-Ton Martin Schulz: "Es ist eine Selbstfesselung. Die EU arbeitet unter ihrem Potenzial. Sie soll sich um die großen Herausforderungen im 21. Jahrhundert kümmern: Klimawandel, Kampf gegen die Spekulation, gegen die Steuerflucht, Immigrationsfragen. Das sind die Dinge, auf die wir uns konzentrieren sollten, und sollten versuchen, nicht den Alltag der Leute noch komplizierter zu machen, als er ohnehin ist."
Schäfer-Noske: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hielt bei den "Reden über Europa" den Eröffnungsvortrag. Außerdem sprechen dort zur Stunde der Schriftsteller Navid Kermani und Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht. 2006 fanden die "Reden über Europa" zum ersten Mal statt. Damals gab es die Dauerkrise um Europa ja noch nicht. Daher habe ich Michael Thoss, den Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, gefragt, was denn damals eigentlich der Anlass für die Veranstaltung war.
Michael Thoss: 2006 war eigentlich der Anlass ein doppelter: die beiden gescheiterten Referenden in den Niederlanden und in Frankreich, wo man das Gefühl hatte, okay, in Europa geht gar nichts weiter, wir werden dann die europäische Verfassung doch nicht bekommen, die ja viele Politiker wie Spinelli angemahnt hatten.
Habermas hat sich ja damals auch sehr dafür eingesetzt, und wir haben gesagt, im Grunde müssen wir jetzt das versuchen herzustellen, was auch Jürgen Habermas immer fordert, nämlich er nennt es dann "European Public Sphere", einen gemeinsamen Raum, in dem wir aktuell brisante europäische Themen transnational diskutieren, und deswegen gehen wir ja mit dieser Rederei auch ins Ausland.
Schäfer-Noske: Das Thema in Köln heißt "Demokratie in Gefahr - Wie die Krise das Fundament Europas erschüttert". Das klingt ja nach, es ist fünf vor zwölf.
Thoss: Ja. Hoffen wir mal, dass es fünf vor zwölf ist und nicht fünf nach zwölf. Wir haben ja den Martin Schulz, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, als Gastredner heute und er definiert das halt auch in diesem Sinn, dass er sagt, Europas Demokratie ist in Gefahr, weil die EU-Einrichtungen nicht mehr so funktionieren, wie sie eigentlich funktionieren sollten. Durch diese Dauerkrise, kann man ja schon sagen - es ist ja eine mehrfache Krise, nicht nur Finanzkrise, sondern auch eine politische und ich denke, auch eine Orientierungskrise - handelt man immer (und das trifft vor allem auf den Europäischen Rat zu, dieses Gremium der Staatsoberhäupter) von Situation zu Situation und es ist quasi der permanente Ausnahmezustand und die Kommission und das Europäische Parlament sozusagen sind in den Hintergrund getreten, oder wurden in den Hintergrund so ein bisschen geschubst von den Staatschefs. Lange sprach man ja von Merkozy, mittlerweile ist es jemand anders an der Seite von Frau Merkel. Und jetzt gilt es wieder, den demokratischen Charakter der EU-Einrichtungen zu betonen und auch zu praktizieren.
Schäfer-Noske: Wie kann das passieren?
Thoss: Na ja, einerseits musste natürlich schnell gehandelt werden in dieser Krisensituation, und auch Martin Schulz sagt, es ist legitim, dass dann der Europäische Rat, die Staatschefs sagen, jetzt muss schnell was beschlossen werden, was dann die nationalen Parlamente im Nachhinein noch billigen und das Europäische Parlament vielleicht auch. Aber wenn das ein dauerhafter Prozess wird, führt es zu so einer Art Entparlamentarisierung, sowohl auf der nationalen Seite wie auf der europäischen Seite, und das ist jetzt der Zustand.
Schäfer-Noske: Das heißt, die Parlamente müssen wieder mehr einbezogen werden?
Thoss: Unbedingt! Und ich glaube auch, dass auf beiden Seiten der Wille da ist. Man muss sich das ja mal vorstellen: Wir haben ein Europäisches Parlament, das die sogenannte Regierung, die Kommission, ja nicht kontrollieren kann und noch nicht darf, und gleichzeitig hat dieses Parlament noch nicht einmal das Initiativrecht, Gesetze vorzuschlagen, sondern das hat nur der Europäische Rat, der Rat der Staatschefs. Und da Europa oder die EU mehr sein sollte als nur die Addition von Nationalstaaten, müssen solche übergeordneten supranationalen Einrichtungen wie das Europäische Parlament und die Kommission gestärkt werden.
Schäfer-Noske: In London, wo auch Veranstaltungen stattfinden, geht es um den Umgang mit Uneinigkeit. Im Programm steht da zum Beispiel die Frage: Ist es möglich, dass Gemeinschaft in Wahrheit die geteilte Erfahrung der Andersartigkeit meint, die unser Sein im Ganzen definiert. Ist das ein Versuch, die Briten wieder ins europäische Boot zu holen?
Thoss: Das kann man so sagen. Ja, man muss es immer wieder versuchen. Das wird eine sehr intellektuelle Debatte werden. Wir haben dazu Richard Sennett eingeladen, Chantal Mouffe, die Philosophin, eine französische Philosophin, die in London arbeitet, und Paul Gilroy, jemanden aus der farbigen Community. Und es ist oder wird auch für uns ein Lernprozess sein, wie das englische, britische Publikum mit diesem Thema umgeht.
Schäfer-Noske: Will hier die Kulturstiftung die bessere Politik machen?
Thoss: Wir wollen überhaupt keine Politik machen, wir wollen nur zu Debatten anregen. Und ich glaube, es dürfen nicht nur Talkshows sein, sondern es müssen wirklich erlebte Diskussionen sein, wo man persönlich dabei war, wo man körperlich, geistig, emotional eingebunden war, und das stärkt den demokratischen Charakter Europas.
Schäfer-Noske: Das war Michael Thoss, Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, über die Diskussionsreihe "Reden über Europa", die heute in Köln begonnen hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.