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Wirklichkeiten und Deutungen

Ziel eines Kolloquiums in Heidelberg war es, die Diskussion um das Alter aus der sozial- und gesundheitspolitischen Ecke herauszubringen. Denn der Blick, mit dem in einer Gesellschaft auf alternde Menschen geschaut wird, hat zu allen Zeiten Auskunft über den Entwicklungsgrad dieser Gesellschaften gegeben.

Von Eva-Maria Götz |
    Ulrike Staudinger von der Jacobs Universität Bremen ist vorsichtig optimistisch, was den Blick auf das Altern in unserer Gesellschaft angeht:

    "Wir wissen aus der Medizin, dass wir von Generation zu Generation in den letzten Dekaden etwa um fünf Jahre biologisch jünger geworden sind, also kalendarisches Alter - biologisches Alter klafft auseinander. Das spiegelt sich wieder - so sehen wir im deutschen Altersurvey - in der Selbstwahrnehmung des eigenen Alters. Die Menschen berichten, dass sie ein geringeres Maß an körperlicher Verschlechterung erleben und dass sie auf der anderen Seite persönliche Wachstumserfahrung für sich selber erleben."
    Alter ist eben relativ. So gilt als Definition: Alt sind immer die noch Älteren- zumindest bis man selbst seinen 60. Geburtstag erlebt hat. Doch auch danach empfindet der 60-Jährige zwar den 70-Jährigen als "alt", der 80- Jährige wiederum empfindet diesen als jung. Altern findet nämlich nicht nur im Körper, sondern auch im Kopf statt. Und für die Selbsteinschätzung vom eigenen Alter ist nicht nur der Blick in den Spiegel wichtig, sondern vor allem das Wissen darüber, was die anderen über uns und unser Alter denken. Und je mehr wir denken, dass andere uns für jünger halten, umso so jünger finden wir uns auch. Das gilt leider auch umgekehrt. Ulrike Staudinger:

    "Da wissen wir aus empirischen Studien, dass das einseitige negative Bild, dass Alter nur mit Pflegebedürftigkeit und Demenz, eingeschränkter Lebensfähigkeit verbindet, in der Tat unsere eigene Leistungsfähigkeit drückt."

    Der Blick, mit dem in einer Gesellschaft auf das Alter und auf die alternden Menschen geschaut wird, hat zu allen Zeiten Auskunft gegeben auch über den Entwicklungsgrad dieser Gesellschaften. Zivilisation lässt sich auch messen an der Art, wie mit denjenigen umgegangen wird, die den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit überschritten haben und auf Rücksicht und oft auch Hilfe angewiesen sind. Das war im Alten Orient nicht anders als heute. So gab es in Babylonien bereits eine rechtlich festgelegte Altersversorgung, erklärt der Altertumsforscher Stefan Maul. Allerdings kamen nur Wohlhabende in den Genuss der drei unterschiedlichen Varianten:

    "Das eine ist die Adoption - mit dem Ziel einen nicht vorhandenen Erben zu ersetzen, der so wie Kinder das auch tun würden die Altersvorsorge für die Adoptiveltern übernimmt. Die zweite Möglichkeit ist einem Sklaven - Personenbesitz gab es im Alten Orient - die Freiheit zu schenken in dem Augenblick, in dem der Besitzer des Sklaven verstirbt, unter der Maßgabe, dass der Sklave den Besitzer, solange er lebt, pflegt. Und die dritte ist die, sich Altersversorgung einzukaufen durch Schuldenerlass. Personen, die Schulden haben, können die gewissermaßen abarbeiten durch Altenpflege."

    Auch im alten Griechenland divergierte der Blick auf den alten Menschen und dessen Darstellung in der Kunst danach, aus welchem gesellschaftlichen Milieu der Angeblickte stammte. In Gemälden und Skulpturen von Sklaven etwa, zu denen auch angesehene Pädagogen gehörten, konnte der Künstler sich schadlos halten, was das überzeichnete Ausmalen von Alterserscheinungen aller Art anging. Der oder die "lächerliche Alte" waren beliebte Motive. Bei angesehen Bürgern hätte der Künstler sich das nicht getraut. Paul Zanker von der Ludwig Maximilians Universität München:

    "Und da gibt es im Griechischen einen großen Schnitt zwischen denen, an denen man das Alter zeigt und zwar als eine lächerliche Verfallserscheinung, und denjenigen, die eben Bürger sind. Das ist so stark im Griechischen, weil das Bürgertum sich stilisiert auf das blühende Alter im Grunde genommen vom Athleten her gesehen und es da in der Darstellung durchhält. Das nennt man die 'Ideale Darstellungsform'."

    Idealerweise wirkte der abgebildete Alte da nicht alt, sondern höchstens gereift. Erst ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, als das Individuum in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und Platon, Aristoteles und Sokrates das Alter in ihren philosophischen Traktaten erörtern, wird der Blick genauer.

    "Ab den Philosophen wird zum ersten Mal der Verfall des Alters am Bürger dargestellt und zwar, weil das deren Lehre entspricht. Sie wollen ja eine Hilfe gegen die Todesangst lehren. Durch den Gedanken soll der Mensch das überwinden, und damit zusammen hängt auch, dass ein lebendiger Greisenkopf mit einem alten Körper verbunden wird."

    Wie sehr sich allein in den letzten 100 Jahren der Blick gewandelt hat, zeigt sich schon an der Sprache. Galt der Alte noch Ende des 19. Jahrhunderts als "Greis" in würdevoller Anspielung auf sein graues Haupt, mutierte er seit der Einführung der Sozialgesetzgebung unter Otto von Bismarck zum "Rentner" und damit zu einem Menschen mit Zinsertrag.

    Seit 1891 gab es für Arbeiter, die das 70. Lebensjahr vollendet und mindestens 30 Jahre lang (60 Stunden in der Woche) gearbeitet und in eine Beitragskasse eingezahlt hatten, eine Altersrente. Die umlagenfinanzierte Alterssicherung, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit der Rentenreform unter Konrad Adenauer im Jahr 1957. Durch die wirtschaftliche Autonomie, die Rentner nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten, so zeigte Stephan Ruppert vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt an, änderte sich die Stellung der älteren Generation gravierend: vom unmündigen Versorgungsempfänger hin zu einem mit allen Rechten ausgestatteten Mitbürger. Den Ausblick auf die politischen Konsequenzen des demografischen Wandels für die Demokratie gab schließlich Manfred Schmidt von der Uni Heidelberg:

    "Wer nach den politischen Konsequenzen des Alterns der Gesellschaft fragt, wird auf die These stoßen, dass wir allmählich auf eine Rentnerdemokratie zusteuern, also auf eine Demokratie von Senioren durch Senioren und für Senioren. Aber die Befunde der Forschung zeigen doch, ein anderes, viel differenzierteres Bild."

    Zwar sei es durchaus so, dass das wahlpolitische Gewicht der älteren Bevölkerung wüchse und ihre Bedeutung und Mitgliedschaft in den Parteien und Interessenverbänden zunähme. Trotzdem würde die Sozialpolitik nicht vorrangig für Rentner gemacht.

    "Die Parteiführungen machen Politik nicht vorrangig für die Mehrheit oder die 50 Prozent der älteren Mitglieder, sondern sie machen eine Politik, die versucht, große Wählerkoalitionen zu schmieden zwischen der älteren Bevölkerung einerseits und der jüngeren Bevölkerung andererseits."

    Und das wiederum hat Auswirkungen auf die Finanzierung der Rente:

    "Wir beobachten seit einiger Zeit, dass die Ausgaben der Alterssicherung relativ zur Größe der älteren Bevölkerung nicht weiter wachsen, sondern stagnieren oder sogar rückläufig sind, eine im Grunde sensationelle Entwicklung, weil das im Grunde genommen bedeutet, das durch eine Vielzahl der Reformen der Alterssicherungssysteme die Finanzierung der Alterssicherung relativ zurückgefahren wird. Und eigentlich hätte man erwartet, dass es eher andersrum ist."

    Lediglich das politische Klima im Lande könnte sich durch den höheren Anteil älterer Menschen ändern. Zumindest, wenn man die Zahlen fortschreibt, die Manfred Schmidt für die Zeit von 1953 bis heute ermittelt hat:

    "Bei allen Bundestagswahlen stimmt die Mehrheit der Bevölkerung für eine bürgerlich Koalition, also im Klartext für die Unionsparteien oder für die FDP, und die Mehrheit der Wähler unter 60 Jahren hat eine deutlich andere Präferenz, die stimmen für eine der Parteien der linken Mitte oder für die Grünen oder für die Linkspartei."

    Ob das allerdings auch in Zukunft so sein wird und Deutschland immer konservativer wird, oder ob die ältere Generation auch hier für Überraschungen gut sein wird - darüber wurden auf dem Heidelberger Kongress keine Prognosen abgegeben.