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Wirtschaftsleistungen
Straubhaar: Digitalisierung muss im BIP abgebildet werden

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist mit 2,2 Prozent so stark gewachsen wie seit sechs Jahren nicht mehr. Bei aller Freude müsse man sehen, dass das BIP-Konzept an seine Grenzen stoße, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar im Dlf. Durch Digitalisierung und Sharing Economy müsse man Wirtschaftsleistungen neu vermessen.

Thomas Straubhaar im Gespräch mit Klemens Kindermann | 11.01.2018
    Eine grüne Positionsleuchte ist im Hafen in Hamburg vor den Containerterminals Burchardkai und Eurogate zu sehen.
    Trotz schwieriger Zeiten sieht die EU gute Konjunkturaussichten. (dpa)
    Klemens Kindermann: Wir haben von der Börse die neuesten Zahlen zum deutschen Bruttoinlandsprodukt gehört. Es stieg im Vorjahrsvergleich um 2,2 Prozent. Die deutsche Wirtschaft ist damit im achten Jahr in Folge gewachsen. Und: Die 2,2 Prozent sind der höchste Zuwachs seit sechs Jahren.
    Aber wie aussagekräftig sind solche Vergleiche? Wie genau bildet das BIP das Wirtschaftsklima in Deutschland ab?
    Das wollen wir jetzt von Professor Thomas Straubhaar wissen, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Hamburg. Bis 2014 leitete er das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Herr Professor Straubhaar, ich begrüße Sie. 2,2 Prozent, was sagt uns das eigentlich wirklich über den Zustand der Wirtschaft in Deutschland?
    Sharing Economy muss auch erfasst werden
    Thomas Straubhaar: Nach herkömmlicher Sichtweise sagt es uns, dass es der deutschen Wirtschaft sehr, sehr gut geht, und ich denke, dass das auch allgemeiner Konsens ist. Die Frage, die sich natürlich jedem stellt, ist, wie weit dieses Bruttoinlandsprodukts-Wachstum noch tatsächlich die Realität abbildet, und meine Kritik daran ist, dass dieses Bruttoinlandsprodukts-Konzept, wie wir es über die letzten Jahrzehnte immer wieder angewendet haben, an seine Grenzen gestoßen ist durch die Digitalisierung, die eigentlich eine ganz neue Neuvermessung der Wirtschaftsleistung erforderlich machen würde.
    Kindermann: Welche Bereiche genau betrifft das? Geben Sie uns ein Beispiel.
    Straubhaar: Die Kritik an der Messung des Bruttoinlandsprodukts ist uralt. Das haben alle, die jemals Ökonomie studiert haben, kennengelernt. Was jetzt neu ist, ist beispielsweise, wenn Wikipedia kostenlos den Zugriff zu einem Online-Lexikon ermöglicht. Dann wird das in der Bruttoinlandsprodukt-Messung nicht erscheinen, weil Wikipedia ist nichts, was jetzt von einem Geschäft mit Umsatz minus Vorleistungen als Wertschöpfung erzeugt wird. Das wird nicht erscheinen.
    Der Nutzen, den wir als Nutzer von Wikipedia haben, der wird auch nicht erscheinen. Aber vielleicht kaufen wir keinen Brockhaus mehr, den wir früher in zehn Bänden gekauft haben. Dadurch geht der Umsatz in den Buchhandlungen zurück und das würde sich sogar negativ auf die Bruttoinlandprodukt-Entwicklung auswirken, obwohl insgesamt der Nutzen in der Gesellschaft, der Wohlstand in der Gesellschaft gestiegen ist.
    Kindermann: Eine relativ neue Entwicklung ist ja die Sharing Economy, Stichwort Airbnb oder Uber. Wird das denn durch das BIP richtig gemessen, erfasst was da passiert?
    Straubhaar: Nein, ganz genau. Da, denke ich, ist ein weiterer neuer Faktor im Spiel, der durch alte Klassifikationen nicht abgedeckt werden kann. Sie haben Uber genannt oder car2go oder Airbnb. Alles was im Sharing Economy Bereich letztlich zu einer effizienteren Ausnutzung vorhandener Güter, Autos oder Wohnungen führt, das würde sich in der Tendenz sogar bruttoinlandsproduktsschädigender nach dem alten Konzept auswirken, weil dadurch weniger Autos gekauft werden, weniger Wohnungen benötigt werden, weil dadurch vielleicht sogar das Taxi-Gewerbe Umsatzrückgänge zu erzielen hat und dort die Wertschöpfung sinkt. Auf der anderen Seite: All diese positiven Ausnutzungseffekte, dass es effizienter, besser genutzt wird, nachhaltiger genutzt wird, das erscheint genauso wenig im BIP wie der Vorteil, den Verbraucherinnen und Verbraucher durch diese Sharing Economy erzeugen können.
    Kindermann: Der Deutsche Bundestag, der hatte ja im Jahr 2010 schon eine Enquete-Kommission eingerichtet. Da sollten neue Vorschläge zur Messung von Wohlstand, von Lebensqualität erarbeitet werden. Aber so richtig durchschlagend war das dann nicht, oder?
    Straubhaar: Das ist damals ein Schlussbericht geworden von über 850 Seiten. Ich habe den kürzlich noch mal zur Hand genommen. Da steht unglaublich viel Kluges drin. Da haben sich wirklich viele Menschen sehr, sehr gute Überlegungen gemacht, und das war im Wesentlichen noch vor der Zeit der Digitalisierung mit ihren virtuellen Datentransfers, die das Bruttoinlandsprodukt infrage stellen. Und trotzdem ist aus diesem Vorschlag dieser damaligen Expertenkommission eigentlich in der Praxis nahezu nichts umgesetzt worden, obschon diese dinglichen Messungen des Industriezeitalters schon damals (die unsichtbaren Dienstleistungen) infrage gestellt worden sind, und jetzt erst recht durch diese virtuellen Daten zu fragen ist, was messen wir eigentlich. Und das zeigt sich ja, dass viele Angst haben, dass wir so eine Art Produktivitätsrückgang haben - es gibt eine große Diskussion in Amerika über Stagnation, die uns heimsucht -, und dass wir überall Computer herumstehen sehen, nur nicht in den statistischen Daten. Überall sehen wir die Digitalisierung, aber nicht in den Daten, und da denke ich, das hat nichts damit zu tun, dass die Digitalisierung nicht stattfindet, sondern das hat etwas damit zu tun, dass wir nicht in der Lage sind, sie abzubilden.
    Auch Nachhaltigkeits- und Verteilungsaspekte aufnehmen
    Kindermann: Gerade in Deutschland ist das BIP ja auch so eine Art Wohlstandsindex, an dem man sich festhält. Brauchen wir das nicht eigentlich, die Medien, die Politik, so ein einfaches Barometer, was uns anzeigt, geht es uns gut oder schlecht?
    Straubhaar: Ja, natürlich brauchen wir das. Und ich habe ja auch viel Verständnis und habe das ja auch selber sehr lange immer wieder als wichtigsten Indikator natürlich zur Hand genommen, weil es vieles ja abbildet, was uns wichtig ist, und auch der Quervergleich. Vor allem, wenn wir es dann noch ergänzen um Nachhaltigkeitsüberlegungen oder um Verteilungsüberlegungen oder um Pro-Kopf-Überlegungen, ist das durchaus eine wertvolle Variable.
    Was mich ärgert, was ich nicht verstehen kann ist, dass wir viel zu lasch mit diesen technologischen Veränderungen umgehen und uns immer noch freuen oder ärgern über Entwicklungen, die nach dem Komma stattfinden, also 2,2 Prozent Wachstum jetzt für 2017, obschon wir eigentlich wissen, dass der grundsätzliche Bedarf an Korrektur weit größer ist und dass wir nicht uns diesen seismographisch kleinen Problemen zuwenden sollen, sondern den wirklich großen Erschütterungen, die mit der Globalisierung und der Digitalisierung und dem Strukturwandel einhergehen.
    Kindermann: Brauchen wir vielleicht ein anderes Wirtschaftsbarometer als den BIP? – Das war Professor Thomas Straubhaar, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Hamburg. Vielen Dank nach Hamburg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.