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Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert
Die Folgen unregulierter Märkte

Sicherlich können nicht alle Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem unkontrollierten Wirtschaftssystem angelastet werden, wie es der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi 1944 in seinem Buch "Die große Transformation" beschreibt. Doch viele seiner Beobachtungen sind auch heute noch aktuell.

Von Stefan Maas | 04.01.2016
    "Die Welt des 19. Jahrhunderts ist zusammengebrochen."
    Mit diesem Satz beginnt Karl Polanyis wohl bekanntestes Werk The Great Transformation – die große Transformation. In ihm erzählt der österreichisch-ungarische Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler eine Geschichte von Aufstieg und Verfall.
    Von einer Gesellschaft, die geprägt war durch eine relativ lange Phase ohne größere Kriege und ab den 1870er Jahren auch durch eine frühe Form der globalisierten Wirtschaft. Technische Erfindungen trugen zu einem bis dahin unbekannten Wohlstand zumindest in Teilen der westlichen Welt bei. Garant dieser Stabilität, ein fein ausbalanciertes System des Kapitalismus. Die Organisation des Friedens beruhte auf der Organisation der Wirtschaft.
    "Budgets und Rüstungen, Außenhandel und Rohstoffquellen, nationale Unabhängigkeit und Souveränität waren nur Funktionen von Geld und Kredit. (...) Da dieses System zum Funktionieren den Frieden brauchte, wurde das Kräftegleichgewicht in seinen Dienst gestellt. Wenn man dieses Wirtschaftssystem abschaffte, dann würde das Interesse am Frieden aus der Politik verschwinden. Abgesehen davon, bestand weder genügend Grund für ein solches Interesse, noch eine Möglichkeit, den Frieden – soweit er bestand – zu festigen"
    Und doch war es das Wirtschaftssystem selbst, argumentiert der Autor, das den Zusammenbruch beschleunigte, als die Institutionen kollabierten, die die Wirtschaft und die Märkte kontrollierten und bestimmten Regeln unterwarfen. Seine These: "dass die Ursprünge der Katastrophe in dem utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems lagen."
    Neues Gewinnstreben im 19. Jahrhundert
    Erstmals in der Geschichte der Menschheit, so der Autor, war das Gewinnstreben im 19. Jahrhundert zur zentralen Motivation, ja, zur Rechtfertigung des "Tuns und Verhaltens im Alltagsleben" geworden.
    "Innerhalb einer Generation wurde die ganze menschliche Welt seinem kompakten Einfluss unterworfen."
    Das aber konnte nicht ohne Folgen bleiben auf die Gesellschaft und den Menschen, auf seine Natur. Denn ursprünglich sei der Mensch nicht nur am bloßen Profit orientiert gewesen, ist Polanyi überzeugt, sein wirtschaftliches Handeln sei daran ausgerichtet gewesen, sich und seiner Familie, seinen Stamm, seiner Gemeinschaft das Überleben zu sichern und soziale Beziehungen zu pflegen. Und so habe es auch immer ausgeklügelte Systeme gegeben, Märkte zu regulieren und Güter zu diesen Zwecken zu verteilen. Mit der entfesselten Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts habe das ein Ende gefunden. Beherrschen nämlich die Marktkräfte das Wirtschaftssystem, hat das Folgen auch für die Gesellschaft:
    "Die Wirtschaft ist nicht mehr in soziale Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet."
    Für Polanyi gibt es drei Bereiche, die nicht wie Waren be- und gehandelt werden dürfen, ohne dass die Gesellschaft Schaden nimmt: Grund und Boden, Geld und menschliche Arbeitskraft. Im 19. Jahrhundert war die Arbeitskraft die letzte dieser Ressourcen, die durch die aufkommende Industrialisierung dem Marktmechanismus unterworfen wurde.
    "Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken."
    Gesundes Wirtschaftssystem durch staatliche Regulierung
    Polanyi spricht sich deshalb für eine staatliche Regulierung der Märkte aus. Das garantiere, argumentiert er, die richtige Form eines Wirtschaftssystems, das in die Gesellschaft eingebettet ist. Er geht sogar noch weiter und behauptet, lasse man der natürlichen Entwicklung freien Lauf, dann werde eine Gesellschaft immer Regeln finden, um sich und ihre Mitglieder vor der Ausbeutung durch den Markt zu schützen. Diesem Argument folgend ist für den Autor auch die Entwicklung des freien, des "entfesselten Marktes" kein naturgegebener, sondern im Gegenteil ein geplanter Prozess, bei dem nach und nach alle Fesseln, alle Systeme der Regulierung bewusst abgebaut wurden. Damit steht der Autor in krassem Gegensatz zu liberalen Denkern, die davon ausgehen, dass sich selbst regulierende Märkte entstehen, wenn man der natürlichen Entwicklung ihren Lauf lässt. Diese These ist es wohl auch, die Polanyis anhaltende Popularität in manchen Kreisen ausmacht. Angesichts einer weltweiten Krise, ausgelöst durch unkontrollierte Banken, hat sich die Suche nach Alternativen zum bedingungslosen Kapitalismus verstärkt. Dabei ist zu beachten, der Wirtschaftshistoriker möchte den Kapitalismus keineswegs abschaffen, nur in geordnete, der Gesellschaft dienende Bahnen lenken.
    "Planung und Kontrolle werden als Verleugnung der Freiheit angegriffen. (...) Die durch Regelungen geschaffene Freiheit wird als Unfreiheit denunziert."
    Parallelen zur heutigen Zeit
    Sicherlich ist es nicht angemessen, wie Polanyi alle Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, inklusive dem Erstarken des Faschismus und dessen Folgen, letztlich einem unkontrollierten Wirtschaftssystem – und dem Versuch es wieder zu kontrollieren - anzulasten. Darüber hinaus verklärt Polanyi die Lebensumstände, in denen viele Menschen in ländlichen Gemeinschaften existierten. Doch bei der Lektüre drängen sich viele Parallelen auf zwischen dem, was der Autor aus dem England der industriellen Revolution beschreibt und der heutigen Zeit. Entwurzelte Menschen, die in Städte ziehen, um dort ihre Arbeitskraft zu schlechten Konditionen zu Markte tragen. Das ist auch der Alltag in vielen Ländern, in denen der Westen produzieren lässt. Schaut man auf die Austeritätspolitik, die europäische Politiker überschuldeten Ländern als alternativlos verkaufen, und folgt Polanyis Argument, dann sieht man: nichts ist alternativlos. Das alles sind politische Entscheidungen – entweder in die eine oder die andere Richtung. Selbst wenn man mit Polanyis Thesen und Schlussfolgerungen nicht einverstanden ist, sie für naiv oder linksintellektuell verklärt hält, so ist doch festzuhalten, dass der Wirtschaftshistoriker bereits 1944 vieles beschrieben hat, das heute breit diskutiert wird: Die Folgen unregulierter Märkte auf den Menschen, die Gesellschaft und die Natur. Polanyi forderte deshalb unter anderem das Recht auf Arbeit unter akzeptablen Bedingungen als Grundrecht festzuschreiben. Und so ist The Great Transformation ein sehr anstrengendes, aber doch noch immer aktuelles Buch.
    Kurt Polanyi: The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen
    Suhrkamp Verlag, 320 Seiten, 18,00 Euro