Freitag, 19. April 2024

Archiv

Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton
Konzepte zur Armutsbekämpfung

Einkommen und Gesundheitsversorgung sind für den Nobelpreisträger Angus Deaton die Parameter, die Ungleichheit messbar machen. Das gelte für den internationalen wie den innerstaatlichen Vergleich, schreibt er in seinem Buch "Der große Ausbruch". Um die Kluft zwischen Arm und Reich zu mindern, müssten typische Armutskrankheiten bekämpft werden.

Von Katja Scherer | 16.01.2017
    Nobelpreisträger Angus Deaton im Dezember 2015.
    Deaton geht davon aus, dass der entscheidende Grund für das steigende Wohlergehen nicht mehr Einkommen, sondern mehr Wissen ist. (imago/SKATA)
    Die zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine Zeit vieler Neuerungen: Findige Köpfe entwickelten nicht nur Webstuhl und Dampfmaschine, sondern auch die ersten Impfverfahren. Damals begann, was Angus Deaton den "großen Ausbruch" nennt: Die Industrialisierung führte zu höheren Einkommen, die erstarkende Mittelschicht forderte bessere Lebensbedingungen ein. Und diese stiegen auf ein historisch unerreichtes Niveau - zumindest für einen Teil der Weltbevölkerung. Gleichzeitig aber hat dieser gewaltige Fortschritt ein neues Phänomen mit sich gebracht, schreibt Deaton. Die globale Ungleichheit:
    "Ungleichheit ist oftmals eine Folge des Fortschritts. Nicht jeder wird zur gleichen Zeit reich und nicht jeder erhält sofort Zugang zu den neusten lebensrettenden Maßnahmen […]. Ungleichheiten wirken ihrerseits auf den Fortschritt zurück. Entweder im guten Sinne, wenn indische Kinder sehen, was man durch Bildung erreichen kann […]. Oder im schlechten Sinne, wenn die Gewinner versuchen, andere daran zu hindern, ihnen zu folgen […]."
    Medizinische Versorgung ist Teil des Wohlstands
    Diese Wechselwirkung zwischen Fortschritt und Ungleichheit will Deaton, der 2015 für seine Forschung über Armut und Wohlstand den Nobelpreis erhielt, in seinem Buch aufzeigen. Warum schaffen es einige Länder aufzuholen, andere dagegen nicht? Nimmt die Ungleichheit im Zeitverlauf immer weiter zu - oder kehrt sich die Entwicklung irgendwann um? Bei seiner Analyse betrachtet der Autor nicht nur die Entwicklung der Einkommen. Er bezieht auch die medizinische Versorgung als weiteres Maß für Wohlstand mit ein. Denn:
    "Nimmt man Gesundheit und Einkommen zusammen […], erkennt man, dass die Kluft noch größer und das Wohlbefinden noch breiter gestreut ist, als es einem erscheint, wenn man nur Gesundheit oder Einkommen betrachtet."
    Deatons Buch unterliegt dabei einer klaren Dreiteilung: Im ersten Teil widmet er sich der Gesundheitsversorgung, im zweiten Teil der Entwicklung der Einkommen. Im dritten Teil des Buches stellt er die Frage, wie bereits entwickelte Länder ärmeren Staaten ebenfalls zum "großen Ausbruch" verhelfen können. Seine zentrale Erkenntnis über den Wohlstand in der Welt:
    "Dies ist vielleicht die wichtigste Feststellung über das Wohlergehen in der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg: Es nimmt zu. Sowohl die Gesundheits- als auch die Einkommensaspekte des Wohlbefindens haben sich im Laufe der Zeit verbessert. […] Viele Millionen Menschen sind einer Welt der Krankheiten und der materiellen Entbehrung entronnen."
    Kindersterblichkeit ist eine Frage des Fortschritts
    Das gilt vor allem deshalb, weil sich besonders bevölkerungsstarke Länder wie China oder Indien positiv entwickelt haben. Außerdem sterben weltweit inzwischen weniger Kinder.
    Deaton geht davon aus, dass der entscheidende Grund für das steigende Wohlergehen nicht mehr Einkommen, sondern mehr Wissen ist. Er zeigt auf, dass die entscheidenden Fortschritte bei der Bekämpfung der globalen Kindersterblichkeit nicht primär durch besseres Essen erzielt wurden. Relevant war die Erkenntnis, dass sich durch schlechte sanitäre Bedingungen Keime verbreiten, die wiederum Krankheiten auslösen:
    "Der wissenschaftliche Fortschritt - und die Keimtheorie ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür - stellt eine der Schlüsselkräfte dar, die zu Verbesserung des menschlichen Wohlbefindens führten. Doch wie die nur zögerliche Aufnahme der Keimtheorie zeigt, setzen sich neue Entdeckungen und neue Technologien nicht ohne breite Akzeptanz und gesellschaftlichen Wandel durch."
    Das heißt: Ohne Regierungen, die die nötige Infrastruktur bereitstellen, und einer gebildeten Bevölkerung, die ihre Rechte einfordert, können Länder dennoch zurückbleiben. Auch deswegen sind die globalen Unterschiede in der medizinischen Versorgung in vieler Hinsicht nach wie vor riesig.
    Der Staat spielt eine zentrale Rolle bei der Ungleichheit
    Bei der Verteilung der Einkommen lässt sich ebenfalls nicht feststellen, dass die Ungleichheit abnimmt. Wie Deaton aufzeigt, gilt das einerseits innerhalb von Industrieländern, weil der technologische Fortschritt dort vor allem gut gebildeten Arbeitnehmern zugutekommt. Zudem gibt es zahlreiche Länder, bei denen es anders als bei China oder Indien, keinerlei Anzeichen für ein Aufholen gibt:
    "Warum das nicht geschehen ist, ist eine der wichtigsten Fragen der Ökonomie. Die vielleicht schlüssigste Antwort ist, dass in armen Ländern die Institutionen fehlen, die Voraussetzung für Wachstum sind: staatliche Verwaltungen, funktionierende Rechts- und Steuersysteme, Schutz des Eigentums und Vertrauen."
    Erneut betont der Autor also die zentrale Rolle des Staates. Zudem kritisiert er, dass die globale Entwicklungshilfe die Situation in armen Ländern nur verschärft und nicht verbessert habe. Die Vorstellung, dass die Armut in der Welt bekämpft werden könne, indem man ärmeren Staaten Geld überweist, bezeichnet er als Hilfsillusion:
    "Wenn Armut und Unterentwicklung in erster Linie Konsequenzen funktionsuntüchtiger Institutionen sind, bewirken große finanzielle Zuwendungen von außen exakt das Gegenteil, von dem, was beabsichtigt ist, indem sie die Institutionen weiter schwächen oder ihre Entwicklung behindern. Daher kann es kaum überraschen, dass trotz der positiven direkten Wirkung der Entwicklungshilfe insgesamt keinerlei Nutzen nachweisbar ist."
    Typische Armutskrankheiten müssen erforscht und bekämpft werden
    Viel wirksamere Maßnahmen gegen die globale Armut wären für Deaton weniger Handelsbarrieren für Produkte aus Entwicklungsländern, konsequentere Sanktionen gegen unterdrückende Regime und eine verstärkte Erforschung von "Armutskrankheiten" wie Tuberkulose oder Malaria.
    Angus Deaton zeigt in seinem Buch auf, wie schwierig es ist, die globale Ungleichheit überhaupt richtig zu erfassen. Daten über Armut und Reichtum - wenn es sie überhaupt in ausreichender Form gibt - sind oft zweideutig und politisch aufgeladen. Dennoch gelingt dem Autor mit einer Mischung aus vielen Statistiken und anschaulichen Beispielen eine fundierte Bestandsaufnahme der weltweiten Zustände. Seine Analyse zeigt deutlich: Auch wenn viele Menschen den "großen Ausbruch" geschafft haben - bis dieser Schritt allen Menschen gelingt, ist es noch ein sehr weiter Weg. Deaton selbst gibt sich vorsichtig optimistisch:
    "Die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus dem Gefängnis der Armut […] lässt sich kaum unterdrücken. Die Fluchtmittel sind kumulativ: Die zukünftigen Ausbrecher können auf die Schultern von Riesen klettern. Die vorangegangenen Ausbrecher können die Fluchttunnel zuschütten, aber das Wissen darüber, wie die Fluchttunnel gegraben wurden, können sie den nach ihnen Kommenden nicht vorenthalten."
    Vor allem aber macht er klar: Wenn es uns - den westlichen Staaten - wirklich darum geht, die Armut in der Welt zu bekämpfen, sollten wir ehrlicher zu uns selbst sein. Ob nun Entwicklungshilfe der richtige Weg ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Die Maßnahmen, die Deaton stattdessen vorschlägt, wären allerdings mit großer Sicherheit entlastend für ärmere Staaten. Bleibt die Frage: Warum werden sie nicht umgesetzt?
    Angus Deaton: "Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen"
    Klett-Cotta, 460 Seiten, 26 Euro.