Nicht nur der Dichter Stanislaw Baranczak, von dem diese Worte stammen, bringt der Poesie von Wislawa Szymborska grenzenlose Bewunderung entgegen. Ihre Gedichtbände erscheinen zwar nicht oft – auf den letzten musste ihr Publikum gleich neun Jahre warten –, doch jeder wird als ein literarisches Ereignis gefeiert. In ihrer Heimat gilt sie seit Jahren als die wichtigste Lyrikerin ihrer Generation. Und seitdem sie 1996 mit dem Nobelpreis bedacht wurde, genießt sie diesen Ruf auch im Ausland.
Viel über sie und ihr Leben ist dennoch nicht bekannt. Ihre Abneigung gegen jede Form von Publizität ist sprichwörtlich, die Konsequenz, mit der sie sich den Medien verweigert – geradezu imponierend. Wenn man sie dennoch um eine Selbstauskunft bittet – etwa nach den Quellen ihrer dichterischen Inspiration fragt –, bekommt man in der Regel eine kurze, kaum befriedigende Antwort.
Ich habe über meine Inspirationsquellen niemals nachgedacht und kann deshalb, so leid es mir tut, keine Auskunft darüber geben. Ich empfinde es aber auch als psychisch gesund, dass ich das nicht tue. Dadurch vermeide ich es nämlich, mich wie eine bestimmte Schmetterlings– oder Insektensorte zu fühlen, die – auf eine Nadel gespickt, in einer Glasvitrine eingesperrt und mit einer Unterschrift versehen – sofort als solche zu erkennen ist. Ich brauche solche Klassifizierungen nicht. Ganz im Gegenteil, ich versuche sie zu vermeiden, deshalb lasse ich mich auf keine Selbstdefinitionen ein.
Alles, was sie über sich zu sagen habe, sei in ihren Gedichten zu finden, betont sie immer wieder. Und ob sich einem Dichter die Worte zu lebendigen, dauerhaften Bindungen fügen oder nicht, darüber werde ohnehin in einem niemandem zugänglichen Bereich entschieden, merkt sie manchmal geheimnisvoll an.
Ihr Hang zum Neuinterpretieren von Begriffen, denen allgemein eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, ist seit langem bekannt. Sie war schon immer sehr eigenwillig, was sich nicht zuletzt darin äußerte, dass sie sich niemals einer bestimmten Stilrichtung zugehörig fühlte. Und auch anderen bereitete jede Einordnung ihrer Dichtung, jeder Vergleich ihrer Poetik stets große Schwierigkeiten vor. Als Tomas Venclova etwa, litauischer Dichter und Literaturprofessor an der Universität Yale, um eine Reaktion auf die Nachricht von der Auszeichnung Szymborskas mit dem Nobelpreis gebeten wurde, sprach er als erstes von eben diesen Schwierigkeiten.
Ob sie den anderen Dichtern, die ich kenne, ähnlich ist? Schwer zu sagen. Sie ist sehr individuell und einzigartig. Vielleicht sollte ich sie mit dem griechischen Dichter Konstantinos Kawafis vergleichen. Es gibt dafür mindestens zwei Gründe: Beide sind ironisch, beide haben diesen absolut einzigartigen, ein wenig bitteren Ton und den Witz. Außerdem sind beide nicht sehr produktiv. Kawafis hat etwa 200 Gedichte veröffentlicht, vielleicht sogar weniger. Hinzu kommt, dass es kurze Gedichte sind. Soviel ich weiß, verhält es sich mit Frau Szymborska etwa genauso. Es ist wirklich schwierig, sie mit einem anderen Schriftsteller zu vergleichen.
Es ist auch nach wie vor schwierig, sie als Person zu beschreiben. Was man über sie in Erfahrung gebracht hat, füllt gerade mal eine halbe Seite und hört sich in etwa so an: Ihre Lieblingsschriftsteller sind Thomas Mann, Jonathan Swift und Michel de Montaigne. Sie bewundert die Bilder von Jan Vermeer, liebt die Filme von Federico Fellini und vergöttert die Jazzsängerin Ella Fitzgerald. Sie besucht gern archäologische Museen und schätzt gute Horrorfilme. Sie mag Pedanterie und ist eine Liebhaberin von Zitaten, Anmerkungen und Fußnoten. Zum Schreiben benötigt sie weder einen Schreibtisch noch Papier und Bleistift. Ein Gedicht muss vollständig in ihrem Kopf existieren, bevor es aufgeschrieben wird. Erst, wenn jedes Wort, jedes Komma "sitzt", greift zu einem Blatt Papier. Und selbst das bedeutet noch lange nicht, dass das niedergeschriebene Gedicht zu dem Leser gelangt. Sie weiß nun mal, was sie ihrem Ruf schuldet, und ist streng mit sich selbst. Sie weiß aber auch, dass Poesie nicht jedermanns Sache ist und dass dieser Umstand zusätzlich verpflichtet.
Manche mögen Poesie
Manche – Das heißt nicht alle. Nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit. Abgesehen von Schulen, wo man mögen muss, und von den Dichtern selbst, gibt’s davon etwa zwei pro Tausend.
Mögen – Aber man mag ja auch Nudelsuppe, mag Komplimente und die Farbe Blau, mag den alten Schal, mag auf dem Seinen beharren, mag Hunde streicheln.
Poesie – Was aber ist Poesie. Manch wacklige Antwort Ist dieser Frage bereits gefolgt. Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich halte mich daran fest, wie an einem rettenden Geländer.
Wenn man sie übrigens fragt, warum sie ausgerechnet die Malerei der holländischen Altmeister so schätze, antwortet sie, sie würden das Gewöhnliche, Alltägliche, Banale in den Rang des Schönen emporheben. Die von ihnen gemalten Frauen etwa seien in Wirklichkeit gar nicht schön gewesen. In ihren Bildern aber – zum Beispiel in denen von Vermeer, ihrem Lieblingsmaler – würden sie von einer inneren Schönheit geradezu erstrahlen.
Ähnlich verhält es sich mit ihrer eigenen Poesie. Auch sie wendet sich gern den alltäglichen Dingen zu, die dank ihrer Kunst die Aura des Ungewöhnlichen, Schönen, Erhabenen bekommen. Das erreicht sie durch ihre oft unkonventionelle Perspektive, aus der sie eine Situation oder einen Gegenstand betrachtet. Die Rückseite eines Bildes ist ihr ebenso wichtig wie die Vorderseite, ein Spalt im Bühnenvorhang erscheint ihr nicht minder interessant als der Platz in der ersten Reihe. Die Überzeugung, dass die Vieldimensionalität der Welt eine unerschöpfliche Quelle der Poesie sei, ist gewiss eine ihrer wichtigen Inspirationen. Andere hat ihr schlicht das Leben geliefert. Ihr achtzigjähriges Leben, aus dem man ebenfalls nur die wichtigsten Fakten kennt:
Sie wird am 2. Juli 1923 in Bnin, einem Dorf bei Posen, geboren. Als sie sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Thorn, und von dort – im Jahre 1931 – nach Krakau. Ihre Eltern sind zwar eher praktisch veranlagt, dennoch kümmern sie sich von Anfang an um die geistige Entwicklung der Tochter. Vor allem ist es der Vater, Wincenty Szymborski, der sie die Neugier, das aufmerksame Betrachten der Welt lehrt. Vielleicht ist das die Quelle ihrer späteren intellektuellen Haltung. Vielleicht wird sie deshalb der Auffassung sein, dass Lyrik wie Philosophie sei: Sie habe ihren Ursprung in der Verwunderung.
Die Welt – was immer wir über sie denken, eingeschüchtert von ihrer gewaltigen Größe und unserer eigenen Ohnmacht –, sie macht uns staunen. Vielleicht sind wir empört über ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Leiden von Mensch, Tier oder auch Pflanze. (Denn woher nehmen wir die Sicherheit, dass Pflanzen nicht leiden?) Vielleicht kapituliert unsere Vorstellungskraft angesichts ihrer unermesslichen Räume, die von Sternen umstrahlt werden, um die wiederum andere, längst entdeckte Planeten kreisen. Längst tote, noch tote? Das wissen wir nicht. Was immer wir also von dieser Welt denken – diesem unermesslichen Schauspiel, für das wir zwar eine Eintrittskarte haben, deren Gültigkeit aber lächerlich kurz ist –, wir müssen immerfort über sie staunen.
Im Begriff "Staunen" steckt jedoch eine logische Falle. Denn wir bestaunen das, was von bekannten, allgemein anerkannten Normen abweicht, von der Selbstverständlichkeit, die wir gewohnt sind. Eine selbstverständliche Welt gibt es aber nicht. Unser Staunen ist also autonom und ergibt sich aus keinem Vergleich.
Staunen, Neugier und eine bestimmte Art Kompliziertheit, die uns im Leben immer wieder begegne: das seien die drei Voraussetzungen für eine gute Lyrik, hat sie einmal gesagt. Mag sein, dass sie ihr erstes Staunen über die Welt den Büchern von Montaigne verdankt, den sie immer wieder als ihren literarischen Meister nennt – die elementare Neugier hat ihr aber ihr Vater eingeimpft.
Nicht minder prägend war die Studentenzeit in Krakau: In den Jahren 1945-1948 studiert Szymborska Polonistik und Soziologie an der traditionsreichen Jagiellonen-Universität. Die älteste polnische Hochschule ist nicht nur für ihr hohes intellektuelles Niveau, sondern auch für ihre Unabhängigkeit bekannt. Etwas von diesem Klima färbt gewiss auf die junge Studentin ab. Als sie jedenfalls im Jahre 1948 ihren ersten Band mit dem schlichten Titel Gedichte vorlegt, wird er "aus ideologischen Gründen" abgelehnt. Es seien darin – so der Einwand der Zensur – zu viele der typischen "Zweifel eines Intelligenzlers" enthalten. Erst ihre beiden Sammlungen aus den frühen fünfziger Jahre, Deshalb leben wir und Fragen, die ich mir stelle , finden die Zustimmung der Behörden. Sie gehen in einem solchen Maße mit dem damaligen Verständnis des Begriffs "engagierte Lyrik" konform, dass sie sofort mit zwei wichtigen Preisen bedacht werden. Nach ihrem Flirt mit dem Sozialistischen Realismus stellt Szymborska allerdings ihre Poesie nie wieder in den Dienst einer Ideologie. Genauso wenig versucht sie, dem Leser eine bestimmte Weltsicht zu vermitteln, geschweige denn aufzuzwingen. Sie vertraut auf Fragen statt auf fertige Antworten und besteht auf der Echtheit individueller Erfahrung.
Ich glaube nicht an die sogenannte "reine" Poesie. Sie muss ständig in Bewegung sein – wie ein Fluss, der Sand und Steine mit sich reißt. Selbst im saubersten Fluss entdeckt man unter dem Mikroskop viele Unreinheiten. Genauso ist es mit der Poesie: Sie muss das Leben transportieren, sie muss all das mitnehmen, was man durchlebt und durchdacht hat.
Diese Erkenntnis spiegelt sich schon bald in ihrer Dichtung wider. So bringen ihr die nächsten beiden Gedichtbände, Rufe an Yeti und Salz , die 1957 und 1962 erscheinen, zwar erneut eine hohe offizielle Auszeichnung ein: den Preis des Ministers für Kultur und Kunst. Doch diesmal geht die Anerkennung der kommunistischen Behörden mit heftigem Interesse der Kritik und der Leser einher. Endlich gelingt es ihr, das enge thematische und stilistische Korsett abzustreifen und zu einem eigenem Stil zu finden. Seine Eigenart besteht unter anderem darin, dass es – so paradox es klingt – kein bestimmter Stil ist. Einige Jahre später wird der renommierte polnische Literaturwissenschaftler Jerzy Kwiatkowski über sie schreiben:
Ich kenne keinen Dichter, der so findig seinen Stil von Gedicht zu Gedicht – je nach Leitidee, Thema, Gattungsart, Ziel – änderte. Szymborska ist maßlos verschwenderisch: für viele ihrer Gedichte kreiert sie sogar Sonderpoetiken, ohne diese später zu wiederholen, obwohl sie manche von ihnen mit Erfolg zu einem ganzen Bändchen "fortschreiben" könnte. Was aber am meisten erstaunt: Sie ist dabei auf den ersten Blick an ihrer Handschrift zu erkennen, und sie erreicht das in der Kunst Wichtigste: ihre eigene Einheit in der Vielfalt der Formen.
Diese stilistische Flexibilität wird mit der Zeit zu Szymborskas Markenzeichen. Sie selbst gilt bald als die wichtigste Lyrikerin der sogenannten Generation 56 . Hinter diesem Namen verbirgt sich eine literarische Formation, die Mitte der fünfziger Jahre, in der "Tauwetter"-Periode, ihr kollektives Debüt gibt. Die jungen Künstler sprengen den engen Rahmen des Sozialistischen Realismus, entdecken die literarische Tradition wieder und wenden sich den modernen philosophischen und literarischen Strömungen Westeuropas zu.
In den Jahren 1967-1976 publiziert Szymborska drei weitere Gedichtbände: Hundert Freuden , Alle Fälle und Die Große Zahl . Mit jedem weiteren Buch wird offensichtlicher, dass der Reiz ihrer Lyrik nicht zuletzt darin liegt, dass sie gewissermaßen kein Geheimnis in sich birgt. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es in der Philosophie definiert wird: als Anwesenheit einer mystischen Intuition. Doch das bedeutet nicht, dass ihre Gedichte einfach, leicht zu interpretieren sind. Einfach und anschaulich sind nur die Mittel, mit denen sie ihre Gedanken zum Ausdruck bringt. Ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs, eine alltägliche Situation, ein banaler Vorfall animieren sie zu einer simplen Feststellung oder einer scheinbar naiven Frage: Dieses Prinzip liegt immer öfter ihrer dichterischen Methode zugrunde. Hinzu kommt, dass sie dabei bewusst den lockeren Ton der Umgangssprache wählt.
Die Poesie ist ein ständiger Versuch, der Umgangssprache gerecht zu werden. Selbst Adam Mickiewicz, unser Nationaldichter, musste sich seiner Zeit den Vorwurf gefallen lassen, dass die Sprache, in der er schreibe, keine literarische Sprache sei. Die Poesie muss sich aber immer wieder literarischen Schemen widersetzen, sie muss nach Verknüpfungspunkten mit der Umgangssprache suchen. Es ist ein ununterbrochener Entwicklungsprozess.
Auch ich höre genau auf die Alltagssprache und versuche sie, wenigstens teilweise, mit jener Sprachebene zu verbinden, auf der man sich normalerweise bewegt, wenn man denkt oder liest. Das ist eine ständige Verbindung der literarischen Sprache mit der Umgangssprache. Es kommt natürlich auf das gegenseitige Verhältnis, auf die Proportion an. Als Dichter muss man das eben abwägen können.
Sie geht mit der Sprache ohnehin sparsam um. Dass liegt an ihrer Überzeugung, dass insgesamt zu viel geredet werde. Man tue es unentwegt, und in Wirklichkeit seien es nur drei oder vier Gedanken in jeder Epoche, die es wirklich wert seien, ausgesprochen zu werden. Ihr persönlichen reicht manchmal ein kurzer Satz, damit sie einen halben Tag über eine Sache nachdenkt. Ganz besonders vertraut sie auf die drei kleinen Wörter: "Ich weiß nicht". Sie seien zwar klein, hat sie einmal gesagt, würden aber unser Leben sowohl nach innen als auch nach außen erweitern – weit in die Sphären hinaus, in denen unsere kleine Erde schwebe.
Hätte sich Isaak Newton nicht gesagt: "Ich weiß nicht", dann hätte es in seinem kleinen Garten noch so viele Äpfel hageln können, und er hätte sich bestenfalls nach ihnen gebückt und sie mit Appetit verspeist. Wenn Maria Sklodowska-Curie, meine Landsfrau, nicht zu sich gesagt hätte: "Ich weiß nicht", dann wäre sie Chemielehrerin in einem Pensionat für junge Damen aus gutem Hause geblieben, und bei dieser – übrigens sehr ehrenwerten – Arbeit wäre ihr Leben verflossen. Aber sie sprach sich immer wieder vor: "Ich weiß nicht", und genau diese Worte führten sie – sogar zweimal – nach Stockholm, wo manche Menschen, die Unruhe und Wissensdrang verspüren, mit dem Nobelpreis bedacht werden.
Auch ein Dichter, der wirklich ein Dichter ist, muss sich immer wieder sagen: "Ich weiß nicht". Mit jedem Gedicht versucht er, darauf zu antworten, doch sobald er nur einen Punkt gesetzt hat, beginnt er zu zögern. Es wird ihm klar, dass diese Antwort provisorisch und völlig unzulänglich ist. Also versucht er es wieder und wieder. Und irgendwann werden die Literaturhistoriker diese Versuchskette seiner Selbst-Unzufriedenheit mit einer großen Büroklammer zusammenheften und mit dem Begriff "Oeuvre" überschreiben.
Ihre Skepsis behält Szymborska fast immer, egal, welches Thema sie behandelt. Und die thematische Skala ihrer Lyrik ist nahezu grenzenlos. Sie reicht von der Banalität des Alltags bis zur Unergründbarkeit der Metaphysik, von realem Erlebnis bis zum Traum, von verschiedenen Epochen der Geschichte bis zur Beschaffenheit der Natur. Es gibt – wie Karl Dedecius, ihr deutscher Übersetzer, es einmal feststellte – kaum ein Gebiet, mit dem sich Szymborska in ihrer Lyrik nicht auseinandergesetzt hätte. Unter ihren Gedichten finde man alles:
Frappierende Museumsbesuche, soziologische Befunde über die allerjüngste Gegenwart. Subtil ziselierte Novellen, Charakterstudien und Bildbetrachtungen. Kleinanzeigen der alltäglichen Kümmernisse als Universalgeschichte. Archäologisches, Kosmologisches, Biologisches – Logisches auf alle Fälle. Naturwissenschaftlich und seelenkundlich erhärtete, geradezu chemisch durchgeführte Untersuchungen so flüssiger, undurchsichtiger Begriffe wie "Liebe".
Szymborska weiß sehr wohl um die Vergeblichkeit solcher Untersuchungen – auch davon handeln ihre Gedichte. Das einzige, was wir wirklich wissen, scheint sie zu sagen, ist die Unergründlichkeit der Welt. Sie versucht es auszudrücken, indem sie zwischen Konkretheit und Abstraktion, zwischen Vorsicht und Bejahung, zwischen scheinbarer Naivität und hohem intellektuellem Anspruch schwankt. Mit der Zeit wird dieses Schwanken zur tragenden Kraft ihrer Lyrik.
Zugleich wird ihr Hang zu Ironie und Sarkasmus immer deutlicher sichtbar. Allerdings ist dies keineswegs ein Ausdruck von Zynismus. Vielmehr ist Ironie für Szymborska ein Mittel, paradoxe oder groteske Aspekte der Wirklichkeit ans Tageslicht zu holen und so den Leser zu zwingen, über die Fragen, die ihre Poesie stellt, ernsthaft nachdenken. Diese ironische Distanz behält sie auch dann, wenn sie von sich selbst spricht oder – wie in dem Gedicht Autorenabend – von den Schattenseiten des eigenen Berufs:
Muse, kein Boxer zu sein bedeutet, gar nicht zu sein. Das brüllende Publikum hast du uns nicht gegönnt. Zwölf Zuschauer sind im Saal. Zeit anzufangen. Die Hälfte ist da, weil es regnet, der Rest sind Verwandte. Muse!
Auch im wahren Leben muss sie einmal erleben, wie es ist, wenn man nur einem Dutzend Zuschauer gegenübersitzt. Nur dass der Grund dafür eine Situation ist, die sie keineswegs zu scherzhaften Gedichten animiert: Es ist in den frühen achtziger Jahren, als über Polen der Kriegszustand verhängt wird und das gesamte öffentliche Leben zum Stilstand kommt. In dieser Zeit publiziert Szymborska nur selten: da ein einzelnes Gedicht, dort eine Übersetzung französischer Dichtung, manchmal einen Essay oder ein kleines Prosastück.
Erst im Jahre 1986 veröffentlicht sie einen neuen Gedichtband: Menschen auf der Brücke . Er wird von der Kritik zu ihrem besten Buch erklärt und bald als eines der größten dichterischen Ereignisse der achtziger Jahre gefeiert. Zu der politischen Situation nimmt Szymborska darin kaum Stellung. Doch indem sie das Tagesgeschehen auf die ihr eigene ambivalente Art betrachtet, stellt sie eine Distanz her, durch die jede Unstimmigkeit deutlich wird.
Seit dem Erscheinen des Buches gilt sie endgültig als die wichtigste Lyrikerin Polens. Sie nimmt es gelassen: Sie hat sich nie besonders wichtig genommen und auch nicht – weder im eigenen Land noch im Ausland – um Popularität bemüht. Um so größer ist ihre Überraschung, als im Jahre 1996 der neue Literatur-Nobelpreisträger bekannt gegeben wird: Die Schwedische Akademie hat sich für sie, Wislawa Szymborska, entschieden! Die Nachricht von ihrer Auszeichnung ruft in Polen nicht enden wollende Ovationen und Gratulationen hervor. Unter denjenigen, die aus diesem Anlass ihr Werk würdigen, ist auch ihr älterer Dichterkollege Czeslaw Milosz. Er schreibt sogleich einen Essay, dem er die Überschrift Die Freude, Szymborska zu lesen gibt.
Für mich ist Szymborska vor allem eine Dichterin des Bewusstseins. Das heißt, sie spricht zu uns als eine von uns, doch sie bewahrt ihre privaten Angelegenheiten für sich. Sie bewegt sich in gewisser Entfernung von uns und appelliert doch an das, was jeder aus dem eigenen Leben kennt. Wie in Zeichnungen, die Szenen wohlbekannter Alltäglichkeit darstellen, erkennen wir in diesen Gedichten uns selbst wieder, aber mit der einem jeden Menschen eigenen Subjektivität.
Eine so hohe Auszeichnung wie der Nobelpreis bringt viele Verpflichtungen mit sich, denen sich nicht einmal jemand wie Wislawa Szymborska entziehen kann. Gezwungenermaßen kommt sie ihnen also in den nächsten Jahren nach, was nicht zuletzt auf Kosten der Kreativität geht. Neun Jahre müssen ihre Bewunderer auf den nächsten Gedichtband warten. Als er im Herbst 2002 endlich erscheint – er trägt den Titel Augenblick und besteht aus nur 23 Gedichten –, löst er sofort neue Begeisterungsstürme aus. Es sei, jubeln die Kritiker, immer noch die gleiche, unverkennbare Dichterhandschrift, zu der Knappheit der Form und Präzision des Ausdrucks ebenso gehören wie Nachdenklichkeit und intellektueller Scharfsinn.
Was man außerdem an dieser Sammlung sieht: Ihre Fähigkeit, über die Welt zu staunen, hat Szymborska auch in hohem Alter nicht eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Sie scheint sie besonders sorgsam zu pflegen, seitdem sie weiß, wie kostbar jeder einzelne "Augenblick" ist. Wegen seiner Einzigartigkeit – und weil mit seinem Vergehen der Tod ein kleines Stück näherrückt. Er ist Gewinn und Verlust zugleich. Letzteres erfüllt sie mit verständlicher Melancholie, gleichzeitig aber empfindet sie immer noch jene Freude am Schreiben , der sie einst in einem ihrer berühmtesten Gedichte Ausdruck gab:
Freude am Schreiben
Wohin läuft die geschriebene Ricke durch den geschriebenen Wald? Etwa um von dem geschriebenen Wasser zu trinken, das ihr Geäse wie Blaupapier widerspiegelt? Warum hebt sie den Kopf, ob sie was wittert? Gestützt auf die vier der Wahrheit entliehenen Läufe, spitzt sie die Lauscher in meinen Fingern. Stille – auch diese Vokabel raschelt auf dem Papier und streift die vom Wörtchen "Wald" verursachten Zweige. Über dem weißen Blatt lauern sprungbereit die Buchstaben, die sich womöglich schlecht einfügen werden, belagernde Sätze, vor denen es keine Rettung gibt. Der Tropfen Tinte hat einen ziemlichen Vorrat an Jägern mit Späheraugen, bereit, die steile Feder hinabzustürzen, in Anschlag zu gehen, das Reh zu stellen. Sie vergessen, dass es hier kein Leben gibt. Hier herrschen andre Gesetze, schwarz auf weiß. Hier dauert jeder Moment so lange, wie ich es will, Er lässt sich zerlegen in kleine Ewigkeiten, voller Kugeln, die man im Fluge anhält. Wenn ich befehle, passiert hier nichts von Dauer. Ohne meinen Willen fällt kein Blatt, kein Grashalm beugt sich vor dem Punkt des Hufs. Es gibt also eine Welt, deren unabhängiges Schicksal ich bestimme? Eine Zeit, die ich mit Ketten von Zeichen binde? Eine Existenz, die beständig ist durch meine Verfügung? Freude am Schreiben. Möglichkeit des Erhaltens. Rache der sterblichen Hand.
Ihr Leben lang hat sie nach Worten gesucht, um die Ungewöhnlichkeit der Welt und des menschlichen Daseins auszudrücken. Doch selbst für sie, die Meisterin der stilistischen Vielfalt, war es nicht einfach, sie zu finden. Nur im Alltag würde man von der "gewohnten Welt" sprechen, erklärte sie in ihrer Nobelpreisrede. Aber in der Sprache der Dichtung, wo jedes Wort gewogen werde, sei es anders.
Im Alltag benutzen wir immer wieder Wendungen wie "die gewohnte Welt", "das gewohnte Leben", "der gewohnte Lauf der Dinge", weil wir hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. In der Sprache der Poesie aber ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Kein Stein und keine Wolke darüber. Nicht ein Tag und keine Nacht nach ihm. Und vor allem kein einziges Dasein auf dieser Erde. Es sieht also so aus, als hätten die Dichter immer noch viel zu tun...
Die Bücher von Wislawa Szymborska sind im Suhrkamp Verlag erschienen, die meisten herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius.
Viel über sie und ihr Leben ist dennoch nicht bekannt. Ihre Abneigung gegen jede Form von Publizität ist sprichwörtlich, die Konsequenz, mit der sie sich den Medien verweigert – geradezu imponierend. Wenn man sie dennoch um eine Selbstauskunft bittet – etwa nach den Quellen ihrer dichterischen Inspiration fragt –, bekommt man in der Regel eine kurze, kaum befriedigende Antwort.
Ich habe über meine Inspirationsquellen niemals nachgedacht und kann deshalb, so leid es mir tut, keine Auskunft darüber geben. Ich empfinde es aber auch als psychisch gesund, dass ich das nicht tue. Dadurch vermeide ich es nämlich, mich wie eine bestimmte Schmetterlings– oder Insektensorte zu fühlen, die – auf eine Nadel gespickt, in einer Glasvitrine eingesperrt und mit einer Unterschrift versehen – sofort als solche zu erkennen ist. Ich brauche solche Klassifizierungen nicht. Ganz im Gegenteil, ich versuche sie zu vermeiden, deshalb lasse ich mich auf keine Selbstdefinitionen ein.
Alles, was sie über sich zu sagen habe, sei in ihren Gedichten zu finden, betont sie immer wieder. Und ob sich einem Dichter die Worte zu lebendigen, dauerhaften Bindungen fügen oder nicht, darüber werde ohnehin in einem niemandem zugänglichen Bereich entschieden, merkt sie manchmal geheimnisvoll an.
Ihr Hang zum Neuinterpretieren von Begriffen, denen allgemein eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, ist seit langem bekannt. Sie war schon immer sehr eigenwillig, was sich nicht zuletzt darin äußerte, dass sie sich niemals einer bestimmten Stilrichtung zugehörig fühlte. Und auch anderen bereitete jede Einordnung ihrer Dichtung, jeder Vergleich ihrer Poetik stets große Schwierigkeiten vor. Als Tomas Venclova etwa, litauischer Dichter und Literaturprofessor an der Universität Yale, um eine Reaktion auf die Nachricht von der Auszeichnung Szymborskas mit dem Nobelpreis gebeten wurde, sprach er als erstes von eben diesen Schwierigkeiten.
Ob sie den anderen Dichtern, die ich kenne, ähnlich ist? Schwer zu sagen. Sie ist sehr individuell und einzigartig. Vielleicht sollte ich sie mit dem griechischen Dichter Konstantinos Kawafis vergleichen. Es gibt dafür mindestens zwei Gründe: Beide sind ironisch, beide haben diesen absolut einzigartigen, ein wenig bitteren Ton und den Witz. Außerdem sind beide nicht sehr produktiv. Kawafis hat etwa 200 Gedichte veröffentlicht, vielleicht sogar weniger. Hinzu kommt, dass es kurze Gedichte sind. Soviel ich weiß, verhält es sich mit Frau Szymborska etwa genauso. Es ist wirklich schwierig, sie mit einem anderen Schriftsteller zu vergleichen.
Es ist auch nach wie vor schwierig, sie als Person zu beschreiben. Was man über sie in Erfahrung gebracht hat, füllt gerade mal eine halbe Seite und hört sich in etwa so an: Ihre Lieblingsschriftsteller sind Thomas Mann, Jonathan Swift und Michel de Montaigne. Sie bewundert die Bilder von Jan Vermeer, liebt die Filme von Federico Fellini und vergöttert die Jazzsängerin Ella Fitzgerald. Sie besucht gern archäologische Museen und schätzt gute Horrorfilme. Sie mag Pedanterie und ist eine Liebhaberin von Zitaten, Anmerkungen und Fußnoten. Zum Schreiben benötigt sie weder einen Schreibtisch noch Papier und Bleistift. Ein Gedicht muss vollständig in ihrem Kopf existieren, bevor es aufgeschrieben wird. Erst, wenn jedes Wort, jedes Komma "sitzt", greift zu einem Blatt Papier. Und selbst das bedeutet noch lange nicht, dass das niedergeschriebene Gedicht zu dem Leser gelangt. Sie weiß nun mal, was sie ihrem Ruf schuldet, und ist streng mit sich selbst. Sie weiß aber auch, dass Poesie nicht jedermanns Sache ist und dass dieser Umstand zusätzlich verpflichtet.
Manche mögen Poesie
Manche – Das heißt nicht alle. Nicht einmal die Mehrheit, sondern die Minderheit. Abgesehen von Schulen, wo man mögen muss, und von den Dichtern selbst, gibt’s davon etwa zwei pro Tausend.
Mögen – Aber man mag ja auch Nudelsuppe, mag Komplimente und die Farbe Blau, mag den alten Schal, mag auf dem Seinen beharren, mag Hunde streicheln.
Poesie – Was aber ist Poesie. Manch wacklige Antwort Ist dieser Frage bereits gefolgt. Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich halte mich daran fest, wie an einem rettenden Geländer.
Wenn man sie übrigens fragt, warum sie ausgerechnet die Malerei der holländischen Altmeister so schätze, antwortet sie, sie würden das Gewöhnliche, Alltägliche, Banale in den Rang des Schönen emporheben. Die von ihnen gemalten Frauen etwa seien in Wirklichkeit gar nicht schön gewesen. In ihren Bildern aber – zum Beispiel in denen von Vermeer, ihrem Lieblingsmaler – würden sie von einer inneren Schönheit geradezu erstrahlen.
Ähnlich verhält es sich mit ihrer eigenen Poesie. Auch sie wendet sich gern den alltäglichen Dingen zu, die dank ihrer Kunst die Aura des Ungewöhnlichen, Schönen, Erhabenen bekommen. Das erreicht sie durch ihre oft unkonventionelle Perspektive, aus der sie eine Situation oder einen Gegenstand betrachtet. Die Rückseite eines Bildes ist ihr ebenso wichtig wie die Vorderseite, ein Spalt im Bühnenvorhang erscheint ihr nicht minder interessant als der Platz in der ersten Reihe. Die Überzeugung, dass die Vieldimensionalität der Welt eine unerschöpfliche Quelle der Poesie sei, ist gewiss eine ihrer wichtigen Inspirationen. Andere hat ihr schlicht das Leben geliefert. Ihr achtzigjähriges Leben, aus dem man ebenfalls nur die wichtigsten Fakten kennt:
Sie wird am 2. Juli 1923 in Bnin, einem Dorf bei Posen, geboren. Als sie sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Thorn, und von dort – im Jahre 1931 – nach Krakau. Ihre Eltern sind zwar eher praktisch veranlagt, dennoch kümmern sie sich von Anfang an um die geistige Entwicklung der Tochter. Vor allem ist es der Vater, Wincenty Szymborski, der sie die Neugier, das aufmerksame Betrachten der Welt lehrt. Vielleicht ist das die Quelle ihrer späteren intellektuellen Haltung. Vielleicht wird sie deshalb der Auffassung sein, dass Lyrik wie Philosophie sei: Sie habe ihren Ursprung in der Verwunderung.
Die Welt – was immer wir über sie denken, eingeschüchtert von ihrer gewaltigen Größe und unserer eigenen Ohnmacht –, sie macht uns staunen. Vielleicht sind wir empört über ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Leiden von Mensch, Tier oder auch Pflanze. (Denn woher nehmen wir die Sicherheit, dass Pflanzen nicht leiden?) Vielleicht kapituliert unsere Vorstellungskraft angesichts ihrer unermesslichen Räume, die von Sternen umstrahlt werden, um die wiederum andere, längst entdeckte Planeten kreisen. Längst tote, noch tote? Das wissen wir nicht. Was immer wir also von dieser Welt denken – diesem unermesslichen Schauspiel, für das wir zwar eine Eintrittskarte haben, deren Gültigkeit aber lächerlich kurz ist –, wir müssen immerfort über sie staunen.
Im Begriff "Staunen" steckt jedoch eine logische Falle. Denn wir bestaunen das, was von bekannten, allgemein anerkannten Normen abweicht, von der Selbstverständlichkeit, die wir gewohnt sind. Eine selbstverständliche Welt gibt es aber nicht. Unser Staunen ist also autonom und ergibt sich aus keinem Vergleich.
Staunen, Neugier und eine bestimmte Art Kompliziertheit, die uns im Leben immer wieder begegne: das seien die drei Voraussetzungen für eine gute Lyrik, hat sie einmal gesagt. Mag sein, dass sie ihr erstes Staunen über die Welt den Büchern von Montaigne verdankt, den sie immer wieder als ihren literarischen Meister nennt – die elementare Neugier hat ihr aber ihr Vater eingeimpft.
Nicht minder prägend war die Studentenzeit in Krakau: In den Jahren 1945-1948 studiert Szymborska Polonistik und Soziologie an der traditionsreichen Jagiellonen-Universität. Die älteste polnische Hochschule ist nicht nur für ihr hohes intellektuelles Niveau, sondern auch für ihre Unabhängigkeit bekannt. Etwas von diesem Klima färbt gewiss auf die junge Studentin ab. Als sie jedenfalls im Jahre 1948 ihren ersten Band mit dem schlichten Titel Gedichte vorlegt, wird er "aus ideologischen Gründen" abgelehnt. Es seien darin – so der Einwand der Zensur – zu viele der typischen "Zweifel eines Intelligenzlers" enthalten. Erst ihre beiden Sammlungen aus den frühen fünfziger Jahre, Deshalb leben wir und Fragen, die ich mir stelle , finden die Zustimmung der Behörden. Sie gehen in einem solchen Maße mit dem damaligen Verständnis des Begriffs "engagierte Lyrik" konform, dass sie sofort mit zwei wichtigen Preisen bedacht werden. Nach ihrem Flirt mit dem Sozialistischen Realismus stellt Szymborska allerdings ihre Poesie nie wieder in den Dienst einer Ideologie. Genauso wenig versucht sie, dem Leser eine bestimmte Weltsicht zu vermitteln, geschweige denn aufzuzwingen. Sie vertraut auf Fragen statt auf fertige Antworten und besteht auf der Echtheit individueller Erfahrung.
Ich glaube nicht an die sogenannte "reine" Poesie. Sie muss ständig in Bewegung sein – wie ein Fluss, der Sand und Steine mit sich reißt. Selbst im saubersten Fluss entdeckt man unter dem Mikroskop viele Unreinheiten. Genauso ist es mit der Poesie: Sie muss das Leben transportieren, sie muss all das mitnehmen, was man durchlebt und durchdacht hat.
Diese Erkenntnis spiegelt sich schon bald in ihrer Dichtung wider. So bringen ihr die nächsten beiden Gedichtbände, Rufe an Yeti und Salz , die 1957 und 1962 erscheinen, zwar erneut eine hohe offizielle Auszeichnung ein: den Preis des Ministers für Kultur und Kunst. Doch diesmal geht die Anerkennung der kommunistischen Behörden mit heftigem Interesse der Kritik und der Leser einher. Endlich gelingt es ihr, das enge thematische und stilistische Korsett abzustreifen und zu einem eigenem Stil zu finden. Seine Eigenart besteht unter anderem darin, dass es – so paradox es klingt – kein bestimmter Stil ist. Einige Jahre später wird der renommierte polnische Literaturwissenschaftler Jerzy Kwiatkowski über sie schreiben:
Ich kenne keinen Dichter, der so findig seinen Stil von Gedicht zu Gedicht – je nach Leitidee, Thema, Gattungsart, Ziel – änderte. Szymborska ist maßlos verschwenderisch: für viele ihrer Gedichte kreiert sie sogar Sonderpoetiken, ohne diese später zu wiederholen, obwohl sie manche von ihnen mit Erfolg zu einem ganzen Bändchen "fortschreiben" könnte. Was aber am meisten erstaunt: Sie ist dabei auf den ersten Blick an ihrer Handschrift zu erkennen, und sie erreicht das in der Kunst Wichtigste: ihre eigene Einheit in der Vielfalt der Formen.
Diese stilistische Flexibilität wird mit der Zeit zu Szymborskas Markenzeichen. Sie selbst gilt bald als die wichtigste Lyrikerin der sogenannten Generation 56 . Hinter diesem Namen verbirgt sich eine literarische Formation, die Mitte der fünfziger Jahre, in der "Tauwetter"-Periode, ihr kollektives Debüt gibt. Die jungen Künstler sprengen den engen Rahmen des Sozialistischen Realismus, entdecken die literarische Tradition wieder und wenden sich den modernen philosophischen und literarischen Strömungen Westeuropas zu.
In den Jahren 1967-1976 publiziert Szymborska drei weitere Gedichtbände: Hundert Freuden , Alle Fälle und Die Große Zahl . Mit jedem weiteren Buch wird offensichtlicher, dass der Reiz ihrer Lyrik nicht zuletzt darin liegt, dass sie gewissermaßen kein Geheimnis in sich birgt. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es in der Philosophie definiert wird: als Anwesenheit einer mystischen Intuition. Doch das bedeutet nicht, dass ihre Gedichte einfach, leicht zu interpretieren sind. Einfach und anschaulich sind nur die Mittel, mit denen sie ihre Gedanken zum Ausdruck bringt. Ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs, eine alltägliche Situation, ein banaler Vorfall animieren sie zu einer simplen Feststellung oder einer scheinbar naiven Frage: Dieses Prinzip liegt immer öfter ihrer dichterischen Methode zugrunde. Hinzu kommt, dass sie dabei bewusst den lockeren Ton der Umgangssprache wählt.
Die Poesie ist ein ständiger Versuch, der Umgangssprache gerecht zu werden. Selbst Adam Mickiewicz, unser Nationaldichter, musste sich seiner Zeit den Vorwurf gefallen lassen, dass die Sprache, in der er schreibe, keine literarische Sprache sei. Die Poesie muss sich aber immer wieder literarischen Schemen widersetzen, sie muss nach Verknüpfungspunkten mit der Umgangssprache suchen. Es ist ein ununterbrochener Entwicklungsprozess.
Auch ich höre genau auf die Alltagssprache und versuche sie, wenigstens teilweise, mit jener Sprachebene zu verbinden, auf der man sich normalerweise bewegt, wenn man denkt oder liest. Das ist eine ständige Verbindung der literarischen Sprache mit der Umgangssprache. Es kommt natürlich auf das gegenseitige Verhältnis, auf die Proportion an. Als Dichter muss man das eben abwägen können.
Sie geht mit der Sprache ohnehin sparsam um. Dass liegt an ihrer Überzeugung, dass insgesamt zu viel geredet werde. Man tue es unentwegt, und in Wirklichkeit seien es nur drei oder vier Gedanken in jeder Epoche, die es wirklich wert seien, ausgesprochen zu werden. Ihr persönlichen reicht manchmal ein kurzer Satz, damit sie einen halben Tag über eine Sache nachdenkt. Ganz besonders vertraut sie auf die drei kleinen Wörter: "Ich weiß nicht". Sie seien zwar klein, hat sie einmal gesagt, würden aber unser Leben sowohl nach innen als auch nach außen erweitern – weit in die Sphären hinaus, in denen unsere kleine Erde schwebe.
Hätte sich Isaak Newton nicht gesagt: "Ich weiß nicht", dann hätte es in seinem kleinen Garten noch so viele Äpfel hageln können, und er hätte sich bestenfalls nach ihnen gebückt und sie mit Appetit verspeist. Wenn Maria Sklodowska-Curie, meine Landsfrau, nicht zu sich gesagt hätte: "Ich weiß nicht", dann wäre sie Chemielehrerin in einem Pensionat für junge Damen aus gutem Hause geblieben, und bei dieser – übrigens sehr ehrenwerten – Arbeit wäre ihr Leben verflossen. Aber sie sprach sich immer wieder vor: "Ich weiß nicht", und genau diese Worte führten sie – sogar zweimal – nach Stockholm, wo manche Menschen, die Unruhe und Wissensdrang verspüren, mit dem Nobelpreis bedacht werden.
Auch ein Dichter, der wirklich ein Dichter ist, muss sich immer wieder sagen: "Ich weiß nicht". Mit jedem Gedicht versucht er, darauf zu antworten, doch sobald er nur einen Punkt gesetzt hat, beginnt er zu zögern. Es wird ihm klar, dass diese Antwort provisorisch und völlig unzulänglich ist. Also versucht er es wieder und wieder. Und irgendwann werden die Literaturhistoriker diese Versuchskette seiner Selbst-Unzufriedenheit mit einer großen Büroklammer zusammenheften und mit dem Begriff "Oeuvre" überschreiben.
Ihre Skepsis behält Szymborska fast immer, egal, welches Thema sie behandelt. Und die thematische Skala ihrer Lyrik ist nahezu grenzenlos. Sie reicht von der Banalität des Alltags bis zur Unergründbarkeit der Metaphysik, von realem Erlebnis bis zum Traum, von verschiedenen Epochen der Geschichte bis zur Beschaffenheit der Natur. Es gibt – wie Karl Dedecius, ihr deutscher Übersetzer, es einmal feststellte – kaum ein Gebiet, mit dem sich Szymborska in ihrer Lyrik nicht auseinandergesetzt hätte. Unter ihren Gedichten finde man alles:
Frappierende Museumsbesuche, soziologische Befunde über die allerjüngste Gegenwart. Subtil ziselierte Novellen, Charakterstudien und Bildbetrachtungen. Kleinanzeigen der alltäglichen Kümmernisse als Universalgeschichte. Archäologisches, Kosmologisches, Biologisches – Logisches auf alle Fälle. Naturwissenschaftlich und seelenkundlich erhärtete, geradezu chemisch durchgeführte Untersuchungen so flüssiger, undurchsichtiger Begriffe wie "Liebe".
Szymborska weiß sehr wohl um die Vergeblichkeit solcher Untersuchungen – auch davon handeln ihre Gedichte. Das einzige, was wir wirklich wissen, scheint sie zu sagen, ist die Unergründlichkeit der Welt. Sie versucht es auszudrücken, indem sie zwischen Konkretheit und Abstraktion, zwischen Vorsicht und Bejahung, zwischen scheinbarer Naivität und hohem intellektuellem Anspruch schwankt. Mit der Zeit wird dieses Schwanken zur tragenden Kraft ihrer Lyrik.
Zugleich wird ihr Hang zu Ironie und Sarkasmus immer deutlicher sichtbar. Allerdings ist dies keineswegs ein Ausdruck von Zynismus. Vielmehr ist Ironie für Szymborska ein Mittel, paradoxe oder groteske Aspekte der Wirklichkeit ans Tageslicht zu holen und so den Leser zu zwingen, über die Fragen, die ihre Poesie stellt, ernsthaft nachdenken. Diese ironische Distanz behält sie auch dann, wenn sie von sich selbst spricht oder – wie in dem Gedicht Autorenabend – von den Schattenseiten des eigenen Berufs:
Muse, kein Boxer zu sein bedeutet, gar nicht zu sein. Das brüllende Publikum hast du uns nicht gegönnt. Zwölf Zuschauer sind im Saal. Zeit anzufangen. Die Hälfte ist da, weil es regnet, der Rest sind Verwandte. Muse!
Auch im wahren Leben muss sie einmal erleben, wie es ist, wenn man nur einem Dutzend Zuschauer gegenübersitzt. Nur dass der Grund dafür eine Situation ist, die sie keineswegs zu scherzhaften Gedichten animiert: Es ist in den frühen achtziger Jahren, als über Polen der Kriegszustand verhängt wird und das gesamte öffentliche Leben zum Stilstand kommt. In dieser Zeit publiziert Szymborska nur selten: da ein einzelnes Gedicht, dort eine Übersetzung französischer Dichtung, manchmal einen Essay oder ein kleines Prosastück.
Erst im Jahre 1986 veröffentlicht sie einen neuen Gedichtband: Menschen auf der Brücke . Er wird von der Kritik zu ihrem besten Buch erklärt und bald als eines der größten dichterischen Ereignisse der achtziger Jahre gefeiert. Zu der politischen Situation nimmt Szymborska darin kaum Stellung. Doch indem sie das Tagesgeschehen auf die ihr eigene ambivalente Art betrachtet, stellt sie eine Distanz her, durch die jede Unstimmigkeit deutlich wird.
Seit dem Erscheinen des Buches gilt sie endgültig als die wichtigste Lyrikerin Polens. Sie nimmt es gelassen: Sie hat sich nie besonders wichtig genommen und auch nicht – weder im eigenen Land noch im Ausland – um Popularität bemüht. Um so größer ist ihre Überraschung, als im Jahre 1996 der neue Literatur-Nobelpreisträger bekannt gegeben wird: Die Schwedische Akademie hat sich für sie, Wislawa Szymborska, entschieden! Die Nachricht von ihrer Auszeichnung ruft in Polen nicht enden wollende Ovationen und Gratulationen hervor. Unter denjenigen, die aus diesem Anlass ihr Werk würdigen, ist auch ihr älterer Dichterkollege Czeslaw Milosz. Er schreibt sogleich einen Essay, dem er die Überschrift Die Freude, Szymborska zu lesen gibt.
Für mich ist Szymborska vor allem eine Dichterin des Bewusstseins. Das heißt, sie spricht zu uns als eine von uns, doch sie bewahrt ihre privaten Angelegenheiten für sich. Sie bewegt sich in gewisser Entfernung von uns und appelliert doch an das, was jeder aus dem eigenen Leben kennt. Wie in Zeichnungen, die Szenen wohlbekannter Alltäglichkeit darstellen, erkennen wir in diesen Gedichten uns selbst wieder, aber mit der einem jeden Menschen eigenen Subjektivität.
Eine so hohe Auszeichnung wie der Nobelpreis bringt viele Verpflichtungen mit sich, denen sich nicht einmal jemand wie Wislawa Szymborska entziehen kann. Gezwungenermaßen kommt sie ihnen also in den nächsten Jahren nach, was nicht zuletzt auf Kosten der Kreativität geht. Neun Jahre müssen ihre Bewunderer auf den nächsten Gedichtband warten. Als er im Herbst 2002 endlich erscheint – er trägt den Titel Augenblick und besteht aus nur 23 Gedichten –, löst er sofort neue Begeisterungsstürme aus. Es sei, jubeln die Kritiker, immer noch die gleiche, unverkennbare Dichterhandschrift, zu der Knappheit der Form und Präzision des Ausdrucks ebenso gehören wie Nachdenklichkeit und intellektueller Scharfsinn.
Was man außerdem an dieser Sammlung sieht: Ihre Fähigkeit, über die Welt zu staunen, hat Szymborska auch in hohem Alter nicht eingebüßt. Ganz im Gegenteil: Sie scheint sie besonders sorgsam zu pflegen, seitdem sie weiß, wie kostbar jeder einzelne "Augenblick" ist. Wegen seiner Einzigartigkeit – und weil mit seinem Vergehen der Tod ein kleines Stück näherrückt. Er ist Gewinn und Verlust zugleich. Letzteres erfüllt sie mit verständlicher Melancholie, gleichzeitig aber empfindet sie immer noch jene Freude am Schreiben , der sie einst in einem ihrer berühmtesten Gedichte Ausdruck gab:
Freude am Schreiben
Wohin läuft die geschriebene Ricke durch den geschriebenen Wald? Etwa um von dem geschriebenen Wasser zu trinken, das ihr Geäse wie Blaupapier widerspiegelt? Warum hebt sie den Kopf, ob sie was wittert? Gestützt auf die vier der Wahrheit entliehenen Läufe, spitzt sie die Lauscher in meinen Fingern. Stille – auch diese Vokabel raschelt auf dem Papier und streift die vom Wörtchen "Wald" verursachten Zweige. Über dem weißen Blatt lauern sprungbereit die Buchstaben, die sich womöglich schlecht einfügen werden, belagernde Sätze, vor denen es keine Rettung gibt. Der Tropfen Tinte hat einen ziemlichen Vorrat an Jägern mit Späheraugen, bereit, die steile Feder hinabzustürzen, in Anschlag zu gehen, das Reh zu stellen. Sie vergessen, dass es hier kein Leben gibt. Hier herrschen andre Gesetze, schwarz auf weiß. Hier dauert jeder Moment so lange, wie ich es will, Er lässt sich zerlegen in kleine Ewigkeiten, voller Kugeln, die man im Fluge anhält. Wenn ich befehle, passiert hier nichts von Dauer. Ohne meinen Willen fällt kein Blatt, kein Grashalm beugt sich vor dem Punkt des Hufs. Es gibt also eine Welt, deren unabhängiges Schicksal ich bestimme? Eine Zeit, die ich mit Ketten von Zeichen binde? Eine Existenz, die beständig ist durch meine Verfügung? Freude am Schreiben. Möglichkeit des Erhaltens. Rache der sterblichen Hand.
Ihr Leben lang hat sie nach Worten gesucht, um die Ungewöhnlichkeit der Welt und des menschlichen Daseins auszudrücken. Doch selbst für sie, die Meisterin der stilistischen Vielfalt, war es nicht einfach, sie zu finden. Nur im Alltag würde man von der "gewohnten Welt" sprechen, erklärte sie in ihrer Nobelpreisrede. Aber in der Sprache der Dichtung, wo jedes Wort gewogen werde, sei es anders.
Im Alltag benutzen wir immer wieder Wendungen wie "die gewohnte Welt", "das gewohnte Leben", "der gewohnte Lauf der Dinge", weil wir hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. In der Sprache der Poesie aber ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Kein Stein und keine Wolke darüber. Nicht ein Tag und keine Nacht nach ihm. Und vor allem kein einziges Dasein auf dieser Erde. Es sieht also so aus, als hätten die Dichter immer noch viel zu tun...
Die Bücher von Wislawa Szymborska sind im Suhrkamp Verlag erschienen, die meisten herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius.