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Schule ohne Noten

Die Göttinger Georg Christoph Lichtenberg Gesamtschule hat 2011 den Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung erhalten. Sie zeichnet sich durch kooperative Lernformen aus - gelernt wird im Team. Eine weitere Besonderheit: Von der fünften bis zum Ende der achten Klasse gibt es keine Noten.

Von Carolin Hoffrogge | 04.07.2014
    Ein Schüler meldet sich im Unterricht.
    Gemeinsam lernen ohne Leistungsdruck: An der IGS in Göttingen haben Schüler und Lehrer damit gute Erfahrungen gemacht. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul)
    "Okay, unsere nächsten Ziele für heute, die wir uns gesteckt haben für unser Gerichtsprojekt. "
    Lehrer Arne Brix steht vor seiner siebten Klasse. Auf dem Stundenplan im Fach Gesellschaft und Religion steht heute ein fiktiver Prozess vor einem Jugendgericht.
    "Ich nehme mal an, dass ihr unterschiedlich weit gekommen seid. Von daher möchte ich aus jeder Tischgruppe einen hören, der berichtet, an welcher Stelle ihr seid, wie ihr weiter vorgehen wollt."
    "Die Staatsanwälte müssen noch das Plädoyer schreiben."
    "Am Ende müssen wir noch üben."
    "Wir müssen es nur ein paar Fehler verbessern und es danach aufnehmen. "
    "Wir haben die Dialoge fertig und müssen noch üben."
    "Wir müssen noch das Plädoyer schreiben von der Verteidigerin und üben, dann sind wir fertig. "
    Während die Kinder einen fiktiven Jugendgerichtsprozess ausklamüsern, kommt Jahrgangsleiter Detlef Österheld zur Tür rein. Er will sich noch mal ein Bild von seinen Schülern machen; wie motiviert und konzentriert sie am Unterricht teilnehmen. Seit Gründung der IGS Göttingen unterrichtet Lehrer Osterheld hier, seit 40 Jahren mit großer Freude, wie er sagt. Unter anderem auch weil die IGS Schüler durch die andere Form der "Benotung" sich zu ganzheitlichen Menschen entwickeln können.
    "Ich bin vor allem davon überzeugt, weil wir eine enge Zusammenarbeit mit den Kindern haben, mit den Eltern und vor allem auch in dem Lehrerteam selbst, da wir stabile Zusammenarbeitsformen entwickelt haben und das alles überzeugt mich völlig. Ich bin nie mit Bauchschmerzen in diese Schule gekommen, sondern immer mit einer gewissen Ausgeglichenheit. "
    Auch Nele freut sich, dass sie bis zum Ende der achten Klasse keine Noten bekommt, sondern einen vierseitigen Lernentwicklungsbericht, den sogenannten LEB.
    "Ich finde die LEBs gut, weil da kann man alles noch mal schriftlich sehen. Bei Noten ist es halt so, da ist nicht so direkt eine Einschätzung, weil man nicht sieht, was der Lehrer von einem sieht, sondern nur die direkte Note. Und nicht weiß, warum jetzt und warum nicht. "
    Mitschüler Jannis sitzt mit einem gestreiften T-Shirt und einem kecken Kurzhaarschnitt an einem der sechs Gruppentische. Vor ihm auf dem Tisch liegt sein selbst geschriebener Lernentwicklungsbericht. Denn nicht nur die Lehrer schätzen die Schüler ein, sondern die Schüler sich auch selbst. Denken über ihre Lernleistungen nach, aber auch darüber wie sozial und kooperativ sie sind. Ab Klasse fünf, jedes halbe Jahr aufs Neue.
    "Am Anfang war ich sehr skeptisch, weil der erste LEB war bis jetzt der längste, mussten wir schreiben. Jetzt sind es nur noch zwei Seiten. Damit bin ich richtig zufrieden, weil man da teilweise aufschreibt, die einem auch erst wirklich beim Schreiben auffallen. Da sieht man dann, da kann ich mich verbessern.
    Das kann ich nur befürworten. Das man das auch nachher schriftlich für die Eltern hat. Es gibt immer verbesserungswürdige Sachen, ich könnte mich öfter konzentrieren oder besser melden, sonst bin ich ganz zufrieden mit mir."
    Jannis Mitschülerin Lisa sieht die Lernentwicklungsberichte kritischer. Sie findet sie zu detailliert, fühlt sich durch sie zu stark unter die Lupe genommen. Die 13-Jährige freut sich sogar auf die Noten, die sie in einem Jahr, am Ende der achten Klasse von Lehrer Brix und seinen Kollegen bekommt.
    "Das ist wirklich manches Mal hart, weil man sieht, was man nicht gut gemacht hat. Du siehst halt wirklich richtig krass, wo deine Schwächen sind und manches Mal finde ich Noten besser als LEBs."
    Der Englisch- und Gesellschaftskunde-Lehrer Arne Brix schreibt derzeit viele Lernentwicklungsberichte. Etliche Stunden sitzt er daran. Aber er mache es gerne, betont der junge Lehrer.
    "Weil man natürlich dadurch einen großen Fundus hat und in dem Teamraum sehr viele Kollegen hat, mit denen ich mich darüber auseinandersetzen kann und darüber auch tatsächlich individuelle Stärken und Schwächen aufdecken kann. "
    Stärken und Schwächen bei den Schülern mit Noten zu beurteilen, davon hält der Leiter der Göttinger Georg Christoph Lichtenberg Gesamtschule Wolfang Vogelsänger nichts. Er würde die Noten an seiner Schule am liebsten ganz abschaffen - von Klasse fünf bis Klasse dreizehn.
    "Ich bin für die Noten freie Schule, weil Noten mit Lernen nichts zu tun haben. Die Schüler sollen Rückmeldungen kriegen über die Leistungen, die sie erbracht haben und die abnehmenden Institutionen sollen dann durch Aufnahmetests entscheiden, ob jemand für den Ausbildungsberuf oder das Studium geeignet ist und nicht auf die Zensuren gucken.
    Ich will nicht entscheiden, wer Zahnarzt werden kann und wer nicht. Damit habe ich nichts zu tun in Schule. Ich verteile über die Zensuren natürlich gesellschaftliche Chancen. "
    Ob Tischler, Jurist oder Architekt: Die Schülerinnen und Schüler sollten ihre Berufswahl nach ihren Neigungen und Interessen treffen, meint Wolfgang Vogelsänger. Für den Göttinger Schulleiter sollte bei der Berufswahl die Aussagekraft der Abiturnote grundsätzlich nicht zählen.
    "Das ist ja eine Durchschnittszensur, die sich über alle Fächer zieht. Wenn jemand einen Beruf machen will, wo er Naturwissenschaften nicht braucht oder eine Sprache nicht braucht, was hat dann diese Zensur im Schnitt zu suchen. Gar nichts! Das ist nur eine Gleichmacherei. "