Freitag, 19. April 2024

Archiv

Wissen und Geschlecht
Wikipedia weiblicher machen

Wikipedia ist ein Archiv des Wissens unserer Zeit. Aber die weitaus meisten Beitragenden sind Männer. Ein feministisches Kollektiv meint, das wirke sich auf die Themen aus, und schreibt dagegen an. Ein Blick in die nächtliche Schreibwerkstatt.

Von Ada von der Decken | 05.10.2020
Wikipedia-Stand und -Logo auf der Frankfurter Buchmesse 2017
Wikipedia - dem grammatischen Geschlecht nach weiblich, aber auf Autorenseite hauptsächlich von Männern verfasst. (picture alliance / SVEN SIMON / Anke Waelischmiller)
Normalerweise kommen die Autorinnen der Wikipedia in einem Projektraum in Berlin-Kreuzberg zusammen. Doch jetzt - in Pandemie-Zeiten – treffen Hannah Schmedes, Lena Wassermeier und Eva Königshofen ihre neuen Mitstreiterinnen online - über ein Videochatprogramm.
"Wenn ihr Fragen habt, dann meldet euch per Chat oder sagt es einfach laut hier in die Gruppe hinein", sagt Hannah Schmedes. Ein gutes Dutzend Teilnehmerinnen wollen die Wikipedia weiblicher machen. Und sie bringen schon Ideen für Beiträge mit: Einer Studentin ist aufgefallen, dass ihre Professoren im Gegensatz zu ihren Professorinnen schon Einträge haben. Also nimmt sie sich ihre Wikipedia-Artikel vor.
Teilnehmer der dreitägigen WikiCon 2013 sitzen im Karlsruher Institut für Technologie in Karlsruhe zusammen.
Wikipedia sucht nach neuen Strukturen
Das Online-Nachschlagewerk Wikipedia kommt in die Jahre, unter anderem technisch. Und hier und da hakt es zwischen freiwilligen Autoren und Hauptamtlichen von Wikimedia. Auf einer jährlichen Konferenz suchen die Wikipedianer nach Antworten.
Frauen unterrepräsentiert
Die Initiatorinnen der Schreibwerkstatt haben auch im Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg die Lücken in der Wikipedia entdeckt, sagt Hannah Schmedes im Interview (via App):
"Wir haben immer bei unseren Hausarbeits-Recherchen fürs Studium gemerkt, dass wir eben auf Leerstellen in der Wikipedia stoßen. Vor allem wenn es um Informationen über Autor*innen oder Filmemacher*innen oder Dramaturg*innen oder was auch immer geht. Diese Informationen, die haben uns einfach gefehlt oder die waren nicht so leicht zugänglich. Und auch da waren eben Leerstellen auf Wikipedia."
Frauen kommen in der Wikipedia oftmals zu kurz. Nur 16 Prozent der biografischen Einträge behandeln Frauen. Prominentes Beispiel: Die Kanadierin Donna Strickland erhielt 2018 den Physik-Nobelpreis. Zu dem Zeitpunkt existierte kein Wikipedia-Artikel über sie. Wenige Monate zuvor war ein Eintrag über sie gelöscht worden Begründung: Sie sei nicht relevant genug.
"Spiegelbild der Welt und ihrer Ungleichgewichte"
Die Geschlechterungleichheit ist problematisch, sagt auch Lilli Iliev von Wikimedia, dem Verein hinter der Freiwilligen-Enzyklopädie:
"Wikipedia ist als die größte freie Wissenssammlung der Welt erst mal etwas, was die Gesellschaft abbildet und auch die Wissenswelt abbildet. Und in dieser Wissenswelt werden Frauen systematisch und strukturell benachteiligt. Das heißt Wikipedia fungiert insofern als Spiegelbild der Welt und ihrer Ungleichgewichte. Dadurch ist es eben so, dass das Wissen der Welt, was uns eben auch in den Schulen vermittelt wird und in Wikipedia-Artikeln sich wiederfindet, ist eins, das von Männern aus Europa und Nordamerika geschrieben wurde und was jetzt eben sich in Massenmedien, wie Wikipedia, auch wiederfindet."
Nach Schätzungen sind nur neun Prozent der Menschen, die für die Wikipedia schreiben, weiblich. Es geht dabei vor allem um den Faktor Zeit. Denn solange Frauen zusätzlich zum Job den Hauptanteil an Pflege- und Haushaltsarbeitin den Familien stemmen, bleibt schlicht weniger Zeit fürs Ehrenamt.
Theresa Hannig , aufgenommen im Oktober 2017, auf der 69. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt am Main. 
Die Petition #wikifueralle
Kaum hatte Theresa Hannig ihre "Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen" erstellt, wurde diese auch schon zur Löschung vorgeschlagen. Nach einem Aufschrei existiert sie weiter – nun will Hannig an die Strukturen der Wikipedia.
Vorgenommene Änderungen "jedes Mal wieder zurückgesetzt"
Wikipedianerin Iva Berlin setzt sich seit acht Jahren für mehr Gleichheit ein. Sie hat die Initiative "Women in Red" in Deutschland aufgesetzt: Eine Liste von Frauen, zu denen es noch keine Beiträge gibt. Aber auch sie hätte anfangs fast der Mut verlassen:
"Es wäre sehr sehr hilfreich, wenn die Wikipedia diverser werden würde. Ich selber bin ja zur Wikipedia dazugekommen am Anfang alleine vor meinem Computer und dachte: Ich bin die Einzige. Nachdem mir die Änderungen, die ich in der Wikipedia gemacht habe getreu dem Motto 'Sei mutig', komplett jedes Mal wieder zurückgesetzt wurden und ich dachte, okay, ich bin hier offensichtlich unerwünscht, ich mache jetzt hier nichts mehr, ich habe mit meiner Zeit Besseres zu tun."
Geändert habe sich das, als sie bei Treffen und Schreibwerkstätten auf andere Wikipedianerinnen traf.
"Sexismus, Rassismus ist da einfach an der Tagesordnung"
Um den ruppigen, mitunter feindseligen Ton in der Wikipedia-Gemeinschaft geht es auch in der feministischen Schreibwerkstatt. Hannah Schmedes:
"Sexismus, Rassismus ist da einfach an der Tagesordnung. Da wollten wir euch nur eben drauf vorbereiten, dass man auf solche Sachen stoßen kann."
Am Ende des Abends hat zwar noch nicht Jede einen Artikel veröffentlicht, aber ein weiterer Schritt ist gemacht, um die Wikipedia-Community zu verändern.