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Wissenschaft gegen Zukunftsangst

"Die Menschen waren ursprünglich neidisch, grausam und despotisch... Das wahrhaft kluge Wesen lehnt sich gegen den [Gesellschafts-]Vertrag auf und verletzt ihn, so oft es kann..." argumentiert der Räuberhauptmann Coeur-de-Fer in Marquis de Sades Roman Justine. Dr. Frederick Goodwin, ehemaliger Leiter der amerikanischen Gesundheitsbehörde, meldete sich zweihundert Jahre später wie folgt zu Wort: "Betrachtet man zum Beispiel männliche Kleinaffen, dann überlebt etwa die Hälfte von ihnen bis zum Erwachsenenalter. Die andere Hälfte stirbt durch Gewalttaten. [Man könnte also] sagen, daß wir zu etwas Natürlicherem zurückkehren, ohne die ganzen sozialen Kontrollen..." Während Coeur-de-Fer in de Sades grausamer Welt sein Räuberleben noch genießen durfte, mußte Dr. Goodwin nach seinen verblüffend ähnlich klingenden Äußerungen allerdings zurücktreten. Die Behauptung indes, der Mensch sei durch sein darwinistisches Erbe ein unverbesserlich räuberisches und egoistisches Wesen, scheint zur Zeit salonfähiger zu sein denn je.

Ulrich Woelk |
    In seinem Buch "Wissenschaft gegen Zukunftsangst" schreibt der Biologe und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl: "Von Natur aus ist der Mensch sozusagen nicht weniger maßlos als die lebendige Natur selbst." Es sind - wenig überraschend - die Gene, die uns derart versklaven. Alle Arten einschließlich des Menschen, so Markl, seien dazu verdammt, sich schrankenlos fortzupflanzen und auszubreiten, und der drohende Ökokollaps somit ein in der Evolution eingebauter Konstruktionsfehler. Die Menschheit steckt in der Genfalle, und gegen die drohende Katastrophe, das wissenschaftliche Diktum vom Zwang zum hemmungslosen Wachstum kann nur eines helfen: die Wissenschaft selbst. Markls Argumentationskette ist kurz und schnörkellos: Erst Wissen läßt uns Gefahren überhaupt erkennen, auf Gefahren reagieren wir mit Angst, und gegen die Angst wiederum hilft nur Wissen.

    Es ist erstaunlich, mit welcher Vehemenz Markl in diesem Zusammenhang gegen die öffentliche Meinung zu Felde zieht. Mit massiver Polemik beschuldigt er ein ums andere Mal ein sinistres Angstschürer-Kartell aus, wie er erbost aufzählt, "Philosophen, Theologen, Politologen, Historikern, Soziologen, Psychologen, Juristen, ja selbst Literaturwissenschaftlern", es nehme für sich vollkommen zu Unrecht in Anspruch, Umweltschäden überhaupt erst aufgedeckt und der Menschheit kundgetan zu haben. "Fast alles", hält er dem entgegen, "was heute Allgemeingut des Denkens und Redens über ökologische Kreisläufe und Wirkungszusammenhänge ist, stammt aus den Forschungsergebnissen von Naturwissenschaftlern."

    Markl weist durchaus zurecht darauf hin, daß oftmals erst wissenschaftliche Methoden Gefährdungen sichtbar machen, mißversteht aber die Dynamik gesellschaftlicher Diskussions- und Meinungsbildungsprozesse. Diese laufen in der Tat nicht streng logisch und schon gar nicht unter Beachtung von Urheberrechten ab. Wissenschaftliche und kommunikative Kompetenz finden nicht immer in ein und demselben Individuum zusammen, und Wichtigtuer gibt es fraglos auf allen Seiten. Was soll´s, möchte man sagen.

    Gerade wenn man genetisch argumentiert, muß man feststellen: Die Natur kennt in Konfrontationssituationen keineswegs nur den Zweikampf oder den Sippenkrieg als Lösung, sondern alle höheren Lebewesen verfügen über komplexe Zeichensysteme aus Gesten, ritualisierten Drohgebärden und Imponiergehabe, mit deren Hilfe sie in der Lage sind, auch ohne Gewaltanwendung Konflikte zu entschärfen.

    Es ist zweifellos richtig, daß sich die ökologische Frage nur nach vorne und nicht rückwärtsgewandt, also nur mit der Wissenschaft und nicht gegen sie beantworten läßt. Es läßt sich allerdings bezweifeln, ob in diesem Punkt überhaupt ein nennenswerter gesellschaftlicher Dissenz besteht oder ob Markl das Feindbild nicht selbst aufrichtet, gegen das er so vehement zu Felde zieht? Sein Buch ist wichtig und mit unübersehbarer Kompetenz geschrieben - und erweist sich damit als Teil eben jener Diskussions- und Meinungsbildungskultur, über die er sich stellenweise so heftig beschwert.