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Wissenschaftler analysieren Loveparade-Katastrophe

In einem ersten Schritt sammelt eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Wuppertal und des Forschungszentrums Jülich Bildmaterial zur Loveparade. Ziel ist es, die Standards und Sicherheitskonzepte für Großveranstaltungen zu verbessern.

Von Peter Leusch | 19.08.2010
    "Und am Ende dieser beiden Tunnel, da lief man auf einen anderen Tunnel zu, das war dieses T-Stück, wo man die Rampe zum Hauptgelände hoch lief. Und da - da ging gar nichts mehr - und da, da kamen von hinten immer noch mehr Leute, ich würde sagen Tausende."

    Tobias T. schildert im Internet das tödliche Gedränge auf der Duisburger Loveparade, dem er selber zusammen mit Freundin und Mutter nur knapp entrinnen konnte.
    Augenzeugenberichte wie den von Tobias T., Fotos und Videos der Katastrophe sammelt nun eine Forschergruppe an der Wuppertaler Universität. Sie will das Material analysieren, um zu einem besseren Sicherheitskonzept in Deutschland beizutragen.
    Professor Armin Seyfried ist spezialisiert auf die Fußgängerdynamik in öffentlichen Gebäuden oder bei Großveranstaltungen.

    "Es geht um große Personenströme, was man dort wissen möchte, ist, ab welcher Dichte ist das kritisch. Wie viele Personen passen durch Türen, Flure oder enge Stellen, was passiert, wenn Personenströme aufeinander zu laufen. Das versuchen wir physikalisch zu beschreiben, zu verstehen und natürlich auch zu simulieren."

    Aufbauend auf experimentellen Studien entwickelt Armin Seyfried am Forschungszentrum Jülich Computerprogramme, die das Bewegungsverhalten einer Menschenmenge simulieren:

    "Letztendlich kommen solche Simulationsprogramme schon jetzt zur Anwendung - also wenn man ein Gebäude baut oder plant mit großen Personenzahlen, so etwas wie einen Bahnhof oder eine Sportarena - werden die genutzt, um zu analysieren, wie lange es dauert, bis zum Beispiel das Gebäude geräumt ist, wo in dem Gebäude Engstellen auftauchen, wo ein Gedränge möglich ist. Und das kann man dann nutzen, um das System zu optimieren."

    Für ein Sicherheitskonzept braucht man im Vorfeld verlässliche Zahlenangaben, wie viele Menschen zu erwarten sind. Doch bei vielen Großveranstaltungen gibt es bislang, selbst hinterher, nur vage Schätzungen:

    "Eine technische Maßnahme, die hilfreich wäre, wäre überhaupt Personen zählen zu können. Es werden unglaublich viele Zahlen im Zusammenhang mit Duisburg genannt, aber kein Mensch weiß bis heute, welche Zahlen dort wirklich aufgetreten sind."


    Ein Sicherheitskonzept dient dazu Risiken bei Groß-Events zu minimieren, aber es kann sie nicht vollständig ausschalten. Daher muss der Einzelne auch selber wachsam sein und sich der Situation entsprechend verhalten. Schon bei kleineren Veranstaltungen, zum Beispiel Stadtteilfesten, sei es ratsam, sich von einem entstehenden Gedränge rasch zu entfernen. Aber in Bezug auf Duisburg schränkt Stefan Holl, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wuppertaler Forschungsprojektes, sofort ein:

    "Das darf auf keinen Fall so verstanden werden, dass wir jetzt an diesem Punkt hergehen und die Opfer in Duisburg dafür noch zur Verantwortung ziehen. Natürlich sind das grobe Planungsfehler, wenn den Personen die Optionen nicht zur Verfügung stehen, sich aus dem Gedränge zu entfernen zu können. Die Personen müssen die Möglichkeit haben, müssen Rettungswege, Rettungsflächen zur Verfügung haben, um aus diesem Gedränge herauszukommen, das ist der Grundsatz, der für die Planung der Rettungswege im Bereich des Brandschutzes, der Sicherheitsplanung für Großveranstaltungen zu beherzigen ist."

    Die Bilder und Berichte von Duisburg zeigen, wie der Einzelne im Gedränge seine Bewegungs- und Handlungsfreiheit verliert, wie er von der Welle mitgerissen und fremdgesteuert wird. Dennoch haben Menschen nach Kräften versucht, einander zu schützen, haben Gestrauchelte hochgerissen, damit sie nicht totgetrampelt werden. Von einer Massenpanik zu sprechen sei ein irreführender Begriff, so Armin Seyfried:

    "Ich selber habe, wenn der Begriff Massenpanik fällt, große Bedenken. Er suggeriert, dass letztendlich die Menschen aus einer irrationalen Handlung heraus panisch reagiert haben, und suggeriert auch, dass sie eigentlich selber daran schuld sind. Und das macht die Opfer zum Sündenbock in gewisser Form, im Amerikanischen gibt es eine genaue Unterscheidung und der Begriff Massenpanik wird dort nur noch wenig gebraucht, man benutzt eher Begriffe wie Gedränge oder stampede - eine Tierherde, die losrennt - was auch bei Personenströmen passieren kann, aber der Begriff Massenpanik kehrt vieles unter einen Kamm."

    Desaströs in Duisburg, soviel ist schon heute klar, war auch der Informationsfluss zwischen Veranstaltern, Security, Polizei und Hilfsorganisationen, insbesondere dann, als es kritisch wurde. Auf diese Schlüsselfunktion konzentriert Professor Frank Fiedrich seine Untersuchung:

    "Ich versuche zusätzlich Informationen zu bekommen hinsichtlich der Hilfsmaßnahmen, also besser zu verstehen, wann welche Hilfsorganisationen an welche Orte gekommen sind, welche Informationen ihnen zur Verfügung standen, und diese Informationen entsprechend auszuwerten.
    Eines der Kernprobleme bei der Durchführung von Hilfsmaßnahmen ist eigentlich im Normalfall der Informationsaustausch, es geht also darum, dass die richtigen Personen die richtige Information zur richtigen Zeit auch in der richtigen Form haben und dazu wollen wir einen Beitrag leisten."

    Frank Fiedrich lehrt an der Wuppertaler Universität Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Da geht es einerseits um Sofortmaßnahmen in der Krise, andrerseits um Konzepte der Prävention. Und in diesem Zusammenhang könnte die elektronisch gestützte Kommunikation eine wichtige Rolle übernehmen.

    "In der neueren Zeit werden das Internet und mobile Technologien maßgeblich genutzt von der jüngeren Bevölkerung, vor allem Dienste wie Twitter wurden auch eingesetzt, um Meldungen während der Katastrophe abzusetzen, und es geht darum, diese Meldungen zu analysieren, um einerseits besser zu verstehen, was in den Menschen vorgeht, um dies unter Umständen in Planungskonzepten zu berücksichtigen, aber andererseits diese Information auch als Frühwarnsystem zu nutzen."

    Nach Duisburg, so eine erste Einschätzung der Evakuierungsforscher, gehöre das gesamte Sicherheitskonzept in Deutschland auf den Prüfstand. Events in der Größenordnung der Loveparade, plädiert Frank Fiedrich, sollten von Städten oder Kommunen nicht im Alleingang geplant und genehmigt werden, sondern nur unter Mitwirkung von Fachleuten des Landes.

    Die Wissenschaftler bitte um die Einsendung von Bildmaterial:
    evakuierungsforschung.de