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Wissenschaftlerin: Islam ist zunächst eine Religion

Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer ist überzeugt, dass Demokratie und Islam miteinander vereinbar sind. Sie wendet sie sich einerseits gegen jede vorurteilsbeladene Ächtung des Islam durch den Westen, andererseits argumentiert sie, innerhalb der islamischen Debatte, aufklärend bis feministisch.

Von Christian Gampert | 10.05.2012
    Für die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer ist es ausgemachte Sache, dass Demokratie und Islam miteinander vereinbar sind und dass es "Demokratie im Islam" geben kann. Zwar behaupten nicht wenige Schriftgelehrte das pure Gegenteil, aber man muss offenbar nur die richtigen Textstellen finden, um für die Demokratie-Tauglichkeit des Islam den Nachweis zu führen.

    Gudrun Krämer ist wissenschaftlich-distanziert und gleichzeitig absolut parteiisch, das wird im Gespräch mit ihr sofort deutlich: Einerseits wendet sie sich gegen jede vorurteilsbeladene Ächtung des Islam durch den Westen, andererseits argumentiert sie, innerhalb der islamischen Debatte, aufklärend bis feministisch. Dabei ist sie nicht der Meinung, dass die islamischen Gesellschaften selber unbedingt eine Art Aufklärung zu durchlaufen hätten. Sie seien kulturell sowieso so unterschiedlich, vom Sudan bis Pakistan, von den arabischen Staaten bis Indonesien, von Palästina bis zur Türkei, dass sich dort jeweils eigene Wege ergeben würden.

    Krämers Buch ist spröde und akademisch geschrieben, es bündelt Vorträge und Aufsätze aus den letzten zehn Jahren. Überschneidungen und Wiederholungen sind unvermeidlich. Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie eine Fülle an Informationen zur Geschichte des Islam und zu den heiligen Texten liefern, zu Koran und Sunna. Krämer spitzt die islamische Reformdebatte dann aber auf die wesentlichen Themen zu: Säkularisierung, Menschenrechte, Demokratie, religiöse Toleranz. Und es stellt sich natürlich die Frage, was Islam ("Hingabe") denn eigentlich ist: Eine Religion? Eine politische Theorie? Eine Weltanschauung?

    "Der Islam ist wie das Christentum und das Judentum und der Buddhismus und der Hinduismus zunächst eine Religion. Mit gewissen Kernannahmen, was die Gottheit ist, wie sich Menschen zu Gott verhalten, wie verantwortliches Leben aussieht. Also insoweit eine Religion, die auch eine gewisse Lebensordnung ihren Gläubigen anbietet, ja, zu einem gewissen Grad auch vorschreibt. Die aber zunächst kein politisches Programm hat und auch kein politisches Programm ist. Und deswegen steht im Buch ganz explizit 'im Islam', und da steht Islam kurz für 'die Muslime', die sich explizit auf den Islam berufen. Und das soll heißen, dass es unter diesen Muslimen, die sich mit Berufung auf den Islam definieren, unterschiedliche Positionen gibt, zum Beispiel eine demokratische. Also ich möchte nicht suggerieren, dass der Islam als Religion und Kultur entweder für die Demokratie ist, so in Bausch und Bogen, oder gegen die Demokratie ist, auch wieder in Bausch und Bogen. Sondern dass es im Islam, auf islamischer Grundlage diese Positionen gibt und geben kann."

    In Krämers Buch wird allerdings durchaus auch die islamische Dogmatik referiert ("Es gibt keinen Gott außer Gott und Muhammad ist sein Prophet"), und der Islam wird durchaus als "Verbindung von religiöser Verkündigung, politischem Handeln und militärischer Gewalt" dargestellt. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts reichte das islamische Reich, nach den Eroberungszügen unter dem Kalifat der Umayyaden, von Spanien bis zum heutigen Pakistan; aus dieser spätantiken Welt bezieht der Islam bis heute sein Selbstbewusstsein.

    Rechtgläubigkeit, dogmatisch regulierte Lebenspraxis und Missionseifer sollen sich aber nun, in der Moderne, quasi selbst relativieren und demokratischen Prinzipien unterwerfen. Wie das in der Praxis gehen soll, ist weitgehend unklar. Und eine Hauptschwierigkeit bleibt, dass diese demokratischen Ideen ja aus dem verhassten Westen stammen.

    "Sie haben recht mit der Aussage, dass diejenigen, die sich als Demokraten verstehen, es tun, auch weil sie sich mit moderner politischer Theorie und Praxis auseinandergesetzt haben. Und die ist nun zu einem gewissen Grad durch westliche Vorstellungen und westliche Geschichte geprägt. Aber eine ausschließlich aus dem Eigenen schöpfende politische Lehre kann es im 20. und 21. Jahrhundert nicht geben, das ist schlicht unmöglich angesichts der Verquickung der Welt, der Globalisierung. Und insofern müssen die, die für Demokratie eintreten, mit dem Vorwurf leben, sie schöpften von außen. Aber auch die, die es mit hochautoritären Regimen zu tun haben, haben es mit Regimen zu tun, die von westlicher Technologie und westlicher Ideologie zehren. Auch ein hochautoritärer Staat kommt ja nicht einfach aus dem Koran heraus."

    Das ist derzeit ja ein Hauptwiderspruch islamischer Herrschaft: Man sagt "Ja" zu westlicher Technologie, aber ein entschiedenes "Nein" zu westlicher Ökonomie und Lebensweise. Und aus durchschaubaren Gründen sperrt sich die islamische Orthodoxie dagegen, die heiligen Texte einer historisch-kritischen Interpretation zu unterwerfen – denn auch die kommt aus dem Westen.

    "Ja, es ist richtig, dass diese Art Betrachtung einer heiligen Schrift maßgeblich im Westen, maßgeblich unter christlichen und wohl auch jüdischen Theologen entwickelt wurde. Es gibt aber auch eine gewisse Zahl muslimischer Theologen, die sich mit Vorsicht, Behutsamkeit und unter Beteuerung ihrer Authentizität mit diesen Methoden auseinandersetzen."

    Und die haben es schwer, denn sie werden ständig angefeindet. Dennoch ist Krämer optimistisch.

    "Und insofern müssten sich Muslime mit neuen Ansätzen auseinandersetzen, aber das haben sie in früheren Jahrhunderten auch getan."

    Vieles in Krämers Buch bleibt dennoch unklar. Zum Beispiel scheint die Idee, die islamische "shura", die beratende Versammlung, als Vorform und Pendant eines Parlaments in die demokratische Moderne zu transformieren, ziemlich gewagt: dort sitzen islamische Gelehrte, mithin alte Männer, da immerhin gewählte Volksvertreter. Auch ist Krämers Versuch, islamische und westliche Ideologie aufgrund angeblich gleicher "letzter Werte" kompatibel zu machen, doch nur ein Vexierspiel. Finden islamische Debatten immer unter den Koordinaten eines allgewaltigen Gottes statt, der als Letztbegründung für positives Recht dient, so kommt das vernunftgeleitete Europa seit der Aufklärung ganz gut ohne Gott aus – auch wenn die Kirchen sich gehalten haben und das deutsche Grundgesetz christliche Werte beschwört. Richtwert bleiben die Menschenrechte. Ob die mit dem Islam kompatibel sind? Krämer hält das zumindest für möglich.

    "Wenn aber, und jetzt blicken wir auf die Praxis, diese Versammlung zusammentritt und sagt, dass im Koran die Gleichheit der Geschlechter und der Gläubigen und Ungläubigen und der Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Abstammung festgelegt ist, dann können wir auf dieser anderen Fundierung, islamisch gewissermaßen abgestützt, die Menschenrechte im Prinzip verankern."

    Was momentan nicht abgestützt ist, das ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau. In Saudi-Arabien oder im Iran haben Frauen zwar das aktive und passive Wahlrecht, werden vom Familienrecht dann aber dem Mann unterworfen.

    "Das muss man nicht beschönigen. Aber es ist nicht so, dass es unmöglich wäre, von einem muslimischen gläubigen Standpunkt aus die Gleichheit der Geschlechter zu propagieren – da gibt es genug Beispiele dafür. Es gibt tausende von Männer und Frauen, die das möchten. Aber da stoßen wir dann vielfach an gesellschaftliche Bedingungen, an konservatives Rollenverständnis, an konservative Vorstellungen von Ehe und Familie, die relativ nahe an konservativen Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses kommt, die hier noch bis in die 1950iger, 60iger-Jahre gültig waren."

    In der Tat musste in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die Frau ihren Ehemann um Erlaubnis fragen, wenn sie eine Arbeit aufnehmen wollte. Oft wird vergessen, wie jung, historisch gesehen, das neue Rollenverständnis der Frau, wie jung ihre Rechte auch im Westen noch sind. In den islamischen Staaten wird es allerdings etwas schwieriger: es gibt die angeblich gottgegebene Scharia, die, mit fatalen gesellschaftlichen Folgen, die Gläubigen rechtlich drangsaliert.

    "In dem Moment, wo man sagt: Aber die göttliche Scharia bietet dieses an und verbietet jenes, fällt es relativ leicht, andere mundtot zu machen, die eine andere Auffassung vertreten. Und das wiederum lässt sich sehr leicht von den, etwas plump gesprochen, Herrschenden einsetzen, um jede Art von Kritik und Opposition im Keim zu ersticken. Und das sehen wir auch in bestimmten autoritär verfassten, sich islamisch geben Ländern wie etwa Iran."

    Allerdings wird die Scharia in den verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich ausgelegt – so wie auch die Oppositions-Bewegungen in Tunesien, Bahrein, Jemen, Libyen, Ägypten und Syrien ganz unterschiedlich argumentieren: die einen völlig säkular, die anderen religiös. Das ist ja eine der größten Enttäuschungen der ursprünglich säkularen ägyptischen Revolte: dass nach den Wahlen im Parlament die Islamisten das Sagen haben - die Muslimbrüder, das war fast erwartbar, aber auch die Salafisten. Dieses sozial konservative und außenpolitisch unberechenbare Parlament verteidigt, absurderweise, nun die Demokratie gegen die Armee, sagt Gudrun Krämer.

    "Wie sich jetzt herausstellt, ist das System als Ganzes nicht wirklich ins Wanken gebracht worden, denn die Armee ist nach wie vor in ihren Positionen, in sehr mächtigen militärischen und ökonomischen Positionen, und Teile des alten Systems haben sich wohl in unterschiedlichen Positionen ebenfalls gehalten."

    Und auch in Syrien hat das alte System durchaus Anhänger in jenen Kreisen der Bevölkerung, die von Assad profitieren. Das ist vor allem die städtische Oberschicht, sagt Gudrun Krämer, das sind aber auch Sunniten, obgleich das Regime selber für die religiöse Minderheit der Alawiten steht. Krämer, die in ihrem Buch deutlich mit den Oppositions-Bewegungen sympathisiert, hält die Lage in Syrien für völlig verfahren – und unüberschaubar.

    "Ich wüsste nicht, wie sich in dieser Situation sich eine fortschrittliche, nach unserem und auch arabischem Verständnis fortschrittliche Ordnung durchsetzen sollte. Die Lage ist ganz versteinert, hart, scharfe Konfrontation. Die friedliche Lösung sehe ich im Moment nicht. Aber ich bin auch nicht in der Lage vorherzusagen, ob nun der Druck auf Assad und seine ganze Familie plus dieses System stark genug ist. Ich glaube nicht, dass man das im Moment prognostizieren kann."
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    Prognostizieren kann man zumindest, dass die Religion in den Gesellschaften des Nahen Ostens weiterhin eine Hauptrolle spielen wird. Lässt der Islam sich auf den gesellschaftlichen Wandel ein und lässt er sich sanft säkularisieren, dann stehen die Zeichen gut. Fällt er zurück in alte Muster, dann ist höchste Vorsicht geboten.

    Gudrun Krämer: "Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt"
    Verlag C.H.Beck (becksche reihe 6006), München 2011, 220 Seiten, 14,95 Euro.