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Wissenschaftliche Aufklärungsversuche

Was bedeutet es, wenn wir von Empathie sprechen? Haben Menschen eine angeborene Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen? Beeinflusst das unsere Bereitschaft, ihnen zu helfen? Eine Tagung mit Psychologen und Neurowissenschaftlern in Berlin diskutierte neue Forschungsergebnisse.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.01.2013
    Empathie entwickelt sich bereits im Babyalter
    Empathie entwickelt sich bereits im Babyalter (Jan-Martin Altgeld)
    "Nicht nur, wenn man selbst handelt, sondern auch, wenn wir sehen, wie andere Menschen handeln, reagiert unser neuronales System. Selbst wenn man nur sieht, wie jemandem über die Wange gestreichelt wird, dann aktiviert das auch beim Betrachter das Hirnareal, das für taktile Empfindung zuständig ist. Hier geht es um eine konkrete Simulation, in der sie, obwohl sie keinen Muskel bewegen oder nichts Taktiles spüren, dennoch dieses Erlebnis empfinden."

    Der italienische Neurowissenschaftler Vittorio Gallese erklärt die Funktionsweise der sogenannten Spiegelneuronen. In den vergangenen Jahren hat die Entdeckung dieser Nervenzellen für ein grundlegend neues Verständnis der Empathie gesorgt. Um das Phänomen der menschlichen Einfühlung zu verstehen, reicht eine rein neurowissenschaftliche Erklärung allerdings nicht aus. Wieso fühlt man für einen bestimmten Mensch mehr oder weniger Empathie als für einen anderen? Woher weiß man eigentlich, was der andere fühlt? Der Mensch entwickelt bereits unmittelbar nach der Geburt die Fähigkeit, körperliche und mimische Äußerungen von Bezugspersonen zu verstehen und zu imitieren. Thomas Fuchs, Professor für Psychatrie an der Universität Heidelberg, nennt diese Grundlage des sozialen Verstehens das "zwischenleibliche Gedächtnis", ...

    "... in dem die Interaktionsformen, die Verhaltensweisen, wie man miteinander umgeht, Freude ausdrückt, Kontakt herstellt, Ablehnung vermeidet, also all diese kleinen Mikrointeraktionen abgespeichert werden. Und die sind natürlich so wichtig, weil die unser ganzes Leben hindurch den ganz elementaren Kontakt mit anderen auch bestimmen und herstellen."

    Das Kleinkind, das das Lächeln der Mutter erwidert, zwei Fußballspieler, die sich aus Freude über das geschossene Tor in die Arme fallen, stets geht es um das reflexartige körperliche Einverständnis zweier Menschen. Diese Form der Empathie erklärt Fuchs mit dem Begriff des ausgedehnten Körpers – eine unbewusste Aufhebung der Grenze zwischen Ich und Außenwelt. Diese sogenannte "primäre Empathie" ist auch bekannt als die Chemie zwischen zwei Menschen.

    "Ohne diese primäre Empathiefähigkeit wird es sehr schwierig, sich überhaupt klar zu machen, wieso Menschen so ticken, wie sie ticken."

    Für eine differenzierte Bewertung des Gegenübers, um die vielschichtigen Empfindungen eines anderen zu verstehen, braucht es außerdem persönliche Erfahrungswerte, die man erst im Laufe der eigenen Entwicklung sammelt.

    "Gerade die Situation, wo die primäre Wahrnehmung nicht so ganz eindeutig ist, oder wo ich das Gefühl habe, jemand täuscht mich vielleicht, hier stimmt was nicht - dann kann ich mir darüber Gedanken machen, kann versuchen, komplexere Formen des sozialen Verstehens anzuwenden. Eben die Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer zu versetzen, sprachliche Narrative zu verstehen. Und diese Formen des sozialen Verstehens setzen sich eben auf die primäre Empathiefähigkeit auf und begründen sich aus ihr."

    Menschliche Einfühlung basiert also einerseits auf unbewussten Reflexen und andererseits auf Erfahrung und einer rationalen Analyse der Situation. Die Projektion eigener Gefühle auf das Gegenüber spielt im Gegensatz zu den Forschungsanfängen heute nur noch eine Nebenrolle. Aber wieso fühlt man Empathie mit Gegenständen, bezeichnet eine Landschaft als melancholisch, oder einen bunten Schal als fröhlich? Der italienische Professor für Ästhetik Andrea Pinotti, spricht vom Charakter der Dinge und schreibt auch Objekten eigene emotionale Eigenschaften zu.

    "Ich habe entdeckt, dass heute die traditionelle Aufteilung – auf der einen Seite das Subjekt Mensch als Krone der Schöpfung, auf der anderen die leblosen Dinge – dass diese Aufteilung für die Frage der Empathie erheblich an Bedeutung verloren hat. Wir unterhalten heute zu Dingen immer mehr ein Verhältnis wie zu Subjekten."

    So empfinden wir manche Räume als kalt, andere als gemütlich, weite Landschaften wirken befreiend auf uns, enge Räume machen uns Angst. Zu unserem Lieblingspullover oder bestimmten Alltagsgegenständen haben wir ein quasi-empathisches Verhältnis.

    "Bei der Empathie zu leblosen Dingen spielt natürlich die eigene Projektion eine größere Rolle, als wenn wir einem anderen Menschen gegenüberstehen. Das Gleiche gilt übrigens auch, wenn sie mit einem anderen Menschen über das Internet kommunizieren."

    Meint Pinottis Kollege Vittorio Gallese. Digitale Kommunikation, etwa durch Chat oder SMS, sei anfällig für falsch verstandene Empathie: Schnell projiziere der Empfänger eine Emotion in die Aussage, die vom Absender gar nicht ausgedrückt worden sei. Umstritten ist, was genau unter Empathie zu verstehen ist, ob und wie man sie messen kann.

    "Wenn es wirklich nur diese innere Aktivität von Neuronen ist, dann kann man das mittlerweile sehr zuverlässig darstellen. Wenn wir unter Empathie aber auch die projektiven, imaginierten Aspekte verstehen, das ist über einen neurophysiologischen Zugang allein nicht messbar, aber aus der eigenen Erfahrung und aus der Verlässlichkeit der Erfahrung sehr wahrscheinlich, dass die Beziehungen da eng sind."

    Meint die Berliner Psychologin Vanessa Lux. Welche Rolle unsere Fantasie beim Verstehen der Gefühle anderer spielt, liegt also weiterhin im Ungefähren. Und was konkret bedeutet Empathie für unser Zusammenleben? Was ist der Unterschied zwischen Sympathie und Empathie? Führt Einfühlung automatisch zu sozialem Verhalten?

    Keineswegs, meint die Züricher Psychologin und Neurowissenschaftlerin Grit Hein. In einem Experiment hat sie Fans von rivalisierenden Fußballklubs auf ihre Bereitschaft untersucht, Anhängern des gegnerischen und des eigenen Teams zu helfen. Den Probanden wurden durch elektrische Hautreizung Schmerzen zugefügt. Der Beobachter hatte dann die Möglichkeit, dem Probanden einen Teil der Schmerzen abzunehmen und sich selbst zuzufügen. Das Ergebnis: Nicht nur die neuronale Aktivierung im Gehirn des Beobachters war bei Schmerzempfängern aus dem eigenen Team messbar stärker. Auch die Bereitschaft, einen Teil der Schmerzen selbst zu übernehmen, war bei gleichgesinnten Fans deutlich größer.

    "Das heißt, wir haben also wirklich einen neuronalen Prädiktor gefunden für späteres altruistisches Verhalten. Sympathie ist tatsächlich dasjenige, was später pro-soziales oder altruistisches Verhalten antreibt. Nicht die Empathie an sich. Empathie an sich hat nichts Positives, Empathie an sich hat nichts Pro-soziales, nichts Altruistisches. Empathie meint einfach nur, zu fühlen, was der andere fühlt. Wenn sich das in Sympathie weiterverwandelt, dann habe ich die Grundlage für altruistisches Verhalten. Es kann aber ebenso gut in die andere Richtung gehen."

    Immerhin könne man die Fähigkeit zur Einfühlung auch als Waffe gegen den anderen einsetzen, so Gritt Hein. Dass wir empathiefähig sind und die Gefühle anderer verstehen, spiegeln und simulieren können, ist genetisch bedingt und zugleich die Basis für Sprache, Kultur und menschliches Zusammenleben. Warum wir was aus dieser Fähigkeit machen, wann aus Empathie Sympathie wird und aus dem Einfühlen ein Mitgefühl, das dürfte die Forschung noch einige Zeit beschäftigen.